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Altphilologe zu "toter Sprache"
"Latein und Griechisch bieten diesen Mehrwert"

Der Deutsche Altphilologenverband widerspricht einer Studie, wonach Lateinlernen an Schulen wenig sinnvoll ist. Im Dlf kritisierte der Altphilologe Karl Boyé das Design und die ideologischen Ansätze dieser Studie. Der Erwerb von Latein oder Altgriechisch biete sehr wohl große Gewinne.

Karl Boyé im Gespräch mit Thekla Jahn | 09.09.2019
Lehrbücher für den Lateinunterricht
Ist der Unterricht einer "toten Sprache" wie Latein an Schulen sinnvoll? (dpa / picture alliance / Marcel Mettelsiefen)
Thekla Jahn: Wir haben hier bei Campus und Karriere vor zwei Wochen mit dem Soziologen Jürgen Gerhards gesprochen über die von ihm mitverantwortete Studie der FU Berlin zum Nutzen von Latein und sein Fazit war: "Es macht wenig Sinn, heute noch Latein zu lernen".
Das hat den Deutschen Altphilologenverband auf den Plan gerufen - das ist der Fachverband für Latein und Griechisch an Schulen und Universitäten. Er hat die Studie analysiert und meint: deren Argumentation sei nicht nachzuvollziehen.
Telefonisch verbunden bin ich nun mit Karl Boyé vom Deutschen Altphilologenverband, Herr Boyé was haben Sie denn auszusetzen an der Studie der FU Berlin?
Karl Boyé: Zum einen ist in der wissenschaftlichen Analyse herausgekommen, dass die Breite und die Tiefe, mit der die Studie durchgeführt worden ist, nicht so lag, wie man das bei sorgfältiger Wissenschaft eigentlich erwartet. Das heißt, jüngere Literatur ist nicht mit einbezogen worden. Und zum Beispiel ist auch eine Studie, auf die man sich sehr massiv bezieht, nämlich diese Studie Stern/Haag, da ist man also hergegangen und hat sich sehr stark darauf berufen, obwohl eigentlich klar ist, dass damals die eben auch schon ein bisschen im Zweifel standen. Also es gab eine Studie mit nur 50 Probanden, wo die klassischen Sprachen gegen moderne Fremdsprachen gestellt wurden, um herauszubekommen, wo man mehr Gewinne erzielt…
Studie ist nicht repräsentativ genug
Jahn: Das heißt Sie kritisieren das Studiendesign, das ist nicht immer repräsentativ, 50 Probanden, das ist relativ wenig, und - dann müsste man auf Latein sagen ‚Abyssus abyssum invocat‘, also 'Ein Irrtum zieht den nächsten nach sich' – verfälscht das letztlich auch das Ergebnis. Ist das so?
Boyé: Ja, durchaus! Und dann gibt es ja noch Prämissen, die etwas eigentümlich sind, zum Beispiel der Gesamtansatz, der von Theoremen und Theorien her kommt, die sich sehr stark von den marxistischen Ideologien mit herleiten, oder davon zumindest zum Teil gespeist sind.
Jahn: Wie kommen Sie darauf?
Boyé: Das merkt man an den Formulierungen und an der gesamten Terminologie, die da auftaucht. Also es gibt so einen Satz in der Erklärung des Studiendesigns, der heißt wörtlich: "Die mit kulturellem Kapital privilegierten Klassen wollen durch die Wahl von Latein und Altgriechisch Distinktions- und Exklusionsgewinne erzielen." Also da kommt das Modell der Klassengesellschaft durch. Und man kann doch schon davon ausgehen, dass heutzutage in Mitteleuropa die Gesellschaften gar nicht mehr in Klassen unterteilt sind und schon gar nicht in Schichten im Sinne einer Stratigrafie, wie das bei den Geologen der Fall ist, sondern die Gesellschaft gliedert sich nach meiner Beobachtung viel eher in Milieus auf, in einzelne Gruppen mit ähnlichen Interessen und ähnlichen Orientierungen.
Haag, Ludwig / Stern, Elsbeth: Non scholae sed vitae discimus? Auf der Suche nach globalen und spezifischen Transfereffekten des Lateinunterrichts, in: Zeitschrift für Pädagogische Psychologie 2000, 14, 146–157 (Zwischenbericht in: AU 4+5/2000, 86–89).
Latein und Griechisch sind Reflexionssprachen
Jahn: Das Studiendesign zu kritisieren, ist das Eine, das Andere ist jetzt eine These - die These der FU Berlin ‚Wenn Latein gelernt wird, dann bringt es einen nicht weiter, was die Kommunikation in der heutigen Welt angeht‘. Stimmt das nicht?
Boyé: Ja, jetzt gibt es ja zwei Gruppen von Schulfremdsprachen. Die Kommunikationssprachen, also grob die modernen Fremdsprachen, und die Reflexionssprachen wie eben Latein und Altgriechisch.
Jahn: Wenn Sie ganz kurz erklären, was ist eine Reflexionssprache?
Boyé: In Reflexionssprachen wird zum einen über Sprache nachgedacht, natürlich anhand der Sprache, die man vorliegen hat, und zum anderen dann über Inhalte, die über die Texte in dieser Sprache vermittelt werden. Und da sind eben Latein und Griechisch die großen Lieferanten für sehr viele verschiedene Gewinne.
Spracherwerb ist ertragreich über Sprachkenntnis hinaus
Jahn: Welches sind die Gewinne, was sind die Inhalte, was die Bildungsziele von Latein? Jetzt können Sie loslegen…
Boyé: Einmal gibt es natürlich, sehr sinnfällig, sehr große Erträge im Erfahren, worin die verschiedenen Linien und Bestandteile der europäischen Kulturgeschichte bestehen. Also heutzutage ist das ja so, dass die Lateinbücher von der ersten Stunde an schon die Sachhintergründe zu den jeweiligen Lektionen mit dabeihaben, und die Lektionen sind auch in Sachhintergründe eingebettet. Man nennt die Hintergründe fachlich ‚Realien‘. Und gerade, wenn man ab der fünften Klasse Latein macht, dann sind die Kleinen ganz erpicht auf diese Realien, wie also ein römisches Wohnhaus zum Beispiel aufgebaut war oder wie die Kleidung aussah, und natürlich gibt es dann irgendwann auch, weil das spannend ist, dieses Rennen im Zirkus oder diese heutzutage nicht mehr attraktiven Spiele in den Amphitheatern, aber auch ganz andere Dinge.
Jahn: Aber könnte man das nicht auch im Geschichtsunterricht lernen, muss man deshalb Latein lernen?
Man atmet den Geist dieses Denkens
Boyé: Man ist ja viel näher dran an den Dingen, wenn man Texte hat, die das regelrecht verkörpern. Und das tun auch die Lektionstexte in den Lehrbüchern schon, und nachher die Literatur natürlich zu hundert Prozent. Man atmet den Geist dieses Denkens, meistens der Antike, aber manchmal auch nachantiker Dinge, und genau das schafft eben doch diesen Mehrwert, den Latein und in anderen Fällen Griechisch bieten.
Jahn: Jetzt neben diesem Effekt, sagt man ja gibt es auch Sekundärfunktionen beim Spracherwerb. Beim Latein hieß es ganz oft, das bringt einen dazu, dass man zum Beispiel besser logisch Denken kann, was ist mit diesem Sekundäreffekt?
Boyé: Also stringente Logik im mathematischen Sinn liefert Sprache nie, egal, welche Sprache es ist. Aber, sagen wir mal, eine gewisse Folgerichtigkeit oder ein hohes Maß an sehr schön nachvollziehbarerer Strukturiertheit, das liefern bestimmte Sprachen eben schon. Und gerade Latein kann im sehr umfangreichen Maße ein Modell von Sprache bieten, anhand dessen man ergründen kann, wie Sprache funktioniert und wie vor allem sehr viele europäische Sprachen funktionieren. Und da gibt es durchaus dann Transfereffekte für deutsche Muttersprachler zum Beispiel, aber auch für Leute mit anderen Muttersprachen, die sich vom Deutschen nicht zu sehr unterscheiden.
Alleinstellungsmerkmal Mikroskopisches Lesen
Jahn: Latein muss sein! Könnte man die Position des Deutschen Altphilologen Verbandes so zusammenfassen?
Boyé: Ja, durchaus. Gerade eben wegen dieser genannten Gewinne, und wegen des mikroskopischen Lesens beim Übersetzen, denn das ist ein typisches Alleinstellungsmerkmal der klassischen Sprachen, so mikroskopisch wird eigentlich, zumindest in der Schule, nur noch in diesen zwei Fächern gearbeitet. In Deutsch gelegentlich, wenn man mal Lyrik macht, aber das ist dann eine sehr punktuelle Sache, und sehr schnell ist man gezwungen, von den Zielen des Faches her, wieder in Siebenmeilen-Stiefeln irgendwo hin zu gehen und dann Ganzschriften in groben Zügen erst einmal zu erfassen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.