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Alttestamentarische Stoffe und jugendliche Leichtigkeit

hr Vater war der berühmte Maler Otto Dix. Ihr Herz hingegen gehörte der Kunst des Schreibens. Nelly Dix, die bereits mit 31 Jahren starb, stand stets im Schatten ihres Vaters. Zu Unrecht, wie der Erzählband "Ach, meine Freundin, die Tugend ist gut, aber die Liebe ist besser" belegt.

Von Dorothea Dieckmann | 02.12.2010
    Obwohl die biblischen Geschichten längst nicht mehr Allgemeingut sind, werden sich dennoch viele an Noah erinnern, der, von Gott vor der nahenden Sintflut gewarnt, eine Arche baute, damit er sich, seine Familie und je ein fortpflanzungsfähiges Paar sämtlicher Tierarten für die Zeit danach rette. Wie würde man heute diese, im Zeitalter der Klimakatastrophen nicht unaktuelle alttestamentarische Geschichte erzählen? Vielleicht, indem man zwei von Noahs Söhnen auftreten ließe, genervt von der anstrengenden Bauerei an dem Riesenschiff im Garten ihres auf den Kopf gestellten Hauses, von der schwierigen Suche nach Tierpaaren und von dem Patriarchen, dessen Schnapsidee das war.

    "Der Alte ist vollkommen wahnsinnig geworden", sagte Ham wütend, schmiss die Tür hinter sich zu, seine Axt in die Ecke und sich selbst auf einen leeren Stuhl, der über diese plötzliche Zumutung ein lautes Ächzen ausstieß. Ham ächzte auch. "Ich versteh ja allerhand, aber alles hat seine Grenzen."

    Japhet nahm vorsichtig die Beine vom Tisch, setzte sich ebenso vorsichtig im Stuhl zurecht und legte die Beine wieder auf den Tisch. Die Vorsicht seines Tuns rührte davon her, dass sich an einem Strohhalm, den er im Munde hielt, am Ende ein kleiner, grüner, schillernder Käfer schaukelte, dessen Ehefrau sich noch als Gefangene in Japhets Hosentasche befand.
    "Sieh mal, ist der nicht hübsch?", fragte er, ohne die Augen von dem schaukelnden Tier abzuwenden."


    Eine Zwanzigjährige hat die schwungvolle Leichtigkeit für diese geradezu filmisch plastische Eingangsszene aufgebracht: Nelly Dix, die sich Nelly alias Dix nannte, um sich von ihrem berühmten Vater abzugrenzen. Der Maler Otto Dix, 1933 aus Berlin vertrieben, lebte seit 1936 mit seiner Familie in dem kleinen Bodenseeort Hemmenhofen. Gegen Kriegsende schrieb Tochter Nelly ihre 50-seitige Noah-Geschichte "Ein ganz gewöhnlicher Tag". Es folgten drei kürzere Erzählungen zu Kain und Abel, Jonas sowie Judith und Holofernes. Dem blutigen Stoff hat sie ein Gedicht vorangestellt, das die Zeilen enthält, welche dem Erzählungsband den Titel geben: "Ach, meine Freundin, die Tugend ist gut, aber die Liebe ist besser." Die einzigartige Verbindung von drastischem Realismus, Komik und expressivem Einfallsreichtum prägt auch diese Geschichte, in der sich Nelly Dix mit einer Frauenfigur auseinandersetzt, die zwischen Tochter und Hure, Heldin und Mörderin, Gehorsam und Liebe schwankt. Man denkt an die grausig-witzigen Kriegsbilder ihres Vaters aus dem 1. Weltkrieg, mehr aber noch an den eben überstandenen, wenn sie den assyrischen Soldaten Tiberius mit dem von der Jüdin Judith abgeschnittenen Kopf seines Feldherrn Holofernes durch den Kampf stolpern lässt:

    'Wozu hab ich den dämlichen Kopf mitgeschleppt’, dachte er, 'ritt mich der Teufel, dass ich mich in denen ihre Keilerei verwickelte? Es wäre an der Zeit, sich zu verdrücken.’ Er wischte sich den Schweiß von der Stirn und lüftete den Helm etwas, zog die Stange näher heran und drehte den Draht auf und zog den Kopf herunter. Sie hatte ihn so gehörig draufgerammelt, er musste den Kopf an seine Brust drücken, und so ging es noch schwerer. Tiberius nahm den Kopf in seine Hände und schaute ihn an. Holofernes lächelte geringschätzig; man sah seine weißen Zähne. Tib schob eins der Lider hoch, aber die Augen waren verdreht und schauten niemanden mehr an. Die Schlacht tümmelte fern. Tiberius und Holofernes waren sehr müde, sie grinsten sich an. Tib rollte sich in dem Graben zusammen und schlief sofort, wie ein Toter mit dem toten Kopf im Arm."

    Nelly Dix’ Erzählungen nehmen die alttestamentarischen Stoffe beim drastischen Wort; nichts liegt ihnen ferner als Frömmelei. Im Gegenteil, sie sind geprägt von einem respektlosen, spielerisch gestalteten Agnostizismus. Noahs Familie etwa verstaut allerlei Ver-botenes in der Arche, seine Frau sogar einen kleinen Jadegötzen. Dem Brudermörder Kain in der Erzählung "Der Stärkere" gilt die ganze Sympathie der Erzählerin, ja sie gönnt ihm ein glückliches Ende, und als seine Eltern sich streiten, wobei sie gern das Wort "verdammt" verwenden, spottet Eva, die aus Adams Rippe stammt, dass kein Mensch eine Ahnung von der Herkunft ihres Gatten habe: Der Schöpfer spielt keine Rolle. Jonas da-gegen, der widerstrebend der Stadt Ninive ihren Untergang gepredigt hat, tritt seinem liebevoll bekümmerten Herrn sehr renitent entgegen. Als Gott ihn zurechtweist, er sehe die Sache nur als Mensch, wehrt er sich.

    "Natürlich sehr ich das als Mensch!", rief Jonas erbost und stampfte mit dem Fuß auf, "denn ich bin einer und will auch nichts anderes sein als ein Mensch, und nicht einmal ein besonders guter oder edler. Du kannst nicht von mir verlangen, dass ich das alles von deinem Standpunkt aus betrachte. Ich will gar nicht dein Wissen haben, und wenn ich das Ende aller Dinge sähe, würde es mir grausen, und ich würde mich nicht noch damit brüsten."

    Nelly las ihre Geschichten in der Familie vor. Zu den Zuhörern gehörte Fritz Mühlenweg, der mit seiner Familie im nahen Allensbach lebte. "Ziehvater" nannte Nelly den später so berühmten Autor des wunderbaren Abenteuerromans "In geheimer Mission durch die Wüste Gobi", den sie Stück für Stück schon während der Abfassung lesen durfte. Das kurze Nachwort, das Mühlenweg kurz vor seinem Tod im Jahr 1961 für die erste Ausgabe des Büchleins diktierte, ist dem Band beigefügt.

    Ein zweites Nachwort des Herausgebers und Verlegers Ekkehard Faude, der auch Fritz Mühlenweg für eine große Öffentlichkeit wiederentdeckt hat, klärt uns über die jahrzehntelange Geringschätzung der jungen, früh verstorbenen Autorin auf, die, wie befürchtet, stets nur im Zusammenhang mit ihrem Vater gewürdigt wurde und im Schatten der Gruppe 47 als Außenseiterin dastand. Und das war sie auch. Denn wo findet man unter den berühmten Autoren von Grass bis Bachmann einen so zarten Humor wie diesen, wenn etwa Noahs Sohn Ham entdeckt, dass sein verheirateter Bruder im Pantherkäfig seine kleine ägyptische Geliebte mit in die Arche schmuggelt?

    "Sieh an, sieh an", sagte Ham anerkennend und streifte mit einem schnellen Blick den niedlichen, bräunlichen Fuß, der eine vergoldete Sandale trug und unter dem Laub hervorschaute. "Na, ich wird mich mal woanders hinwälzen. Ich hab noch gar nichts getan heut früh, noch nicht einmal als ob."

    Nelly Dix: "Ach, meine Freundin, die Tugend ist gut, aber die Liebe ist besser."
    Erzählungen, mit einem Nachwort von Ekkehard Faude. Libelle Verlag 2010, 205 Seiten.