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Am Ende des Tages

Aus Kindheit, Adoleszenz und Jugend lassen sich leicht literarische Funken schlagen. Die Welt, innen wie außen, wird immer größer, sie drängt zur Tat und verändert sich unter dem Zugriff des gestaltenden Individuums, bis dann die ersten Widerstände hochgesteckte Ziele vereiteln. Der Bildungsroman hat den Bogen über zwei Jahrhunderte lang, bis ins 20. Jahrhundert hinein, immer wieder neu gespannt. In der Gegenwartsliteratur sind mit einer neuen Erzählergeneration, den 20-und 30-jährigen Jungautoren, die ersten Lebensjahrzehnte gar zum zentralen Thema geworden, natürlich ohne sie in eine umfassendere Bildungsgeschichte einzubetten. Um die Krisen in der Mitte des Lebens, ums Älterwerden hatten sich schließlich schon Autoren wie Martin Walser und Siegfried Lenz gekümmert und gezeigt, dass es mit dem Funkenschlag hier nicht so flott von der Hand geht.

Christoph Schmitz |
    Besonders schwierig aber wird es mit dem richtig hohen Alter, mit dem letzten Kapitel sozusagen, wenn alles vorbei und nichts mehr zu erwarten ist. Kaum ein Autor wagt sich hier ran. Die lateinamerikanische Literatur hatte den Herbst der Patriarchen zwar zum Leuchten bringen können, aber das waren ja auch Männer der Macht gewesen, grausame Dikatoren, die sich an ihre Throne klammerten. Aber welche Alten sind in unseren Breiten noch mächtig? Allenfalls Matriarchinnen im Privaten, wie sie die Schweizer Autorin Erica Pedretti vor zwei Jahren in "Kuckuckskind" beschrieben hat.

    In diesem Herbst gibt es endlich den Roman über das Altsein heute, ein Roman, der weder der Sturmfluten des Frühlings noch des beißenden Rauchs verbrannter Erde, den gealterte Despoten hinterlassen, bedarf. Ein Roman über das ganz normale und doch so schwierige Altsein. Geschrieben hat ihn der Däne Bjarne Reuter. "Am Ende des Tages" heißt sein Buch. Der 50-jährige Autor erzählt einen Tag im Leben des 78-jährigen Leon Culman, seinen letzten Tag. Leon Culman ist scheinbar ein schlichter Rentner, ein braver Bürger, war es immer, fast immer. Mit seinen gleichaltrigen Freunden, dem hyperkorrekten Johansen und dem eleganten Tinberg, geht er morgens ins Schwimmbad, gönnt sich danach ein erfrischendes Bier, kauft mit seiner Frau ein, hilft ihr beim Kochen, verkriecht sich in sein Zimmer, sieht fern, raucht, trinkt, grübelt und blättert in alten Fotoalben. Bjarne Reuter hierzu:

    "Ich habe alte Männer beobachtet, die schon lange Freunde waren. Wenn sie zusammenkommen, sind sie wie Jungs. Sie verhalten sich, als wären sie wieder die jungen Burschen von früher. Das fand ich sehr amüsant, und es hatte auch einen gewissen Charme. Zugleich ist es ja nicht so leicht, außerhalb der Gesellschaft zu stehen, denn die Alten werden heute nicht mehr gebraucht. Darum geben sich einige von ihnen in meinem Roman ein wenig wie Kinder, weil sie in der gleichen Situation stecken."

    Bjarne Reuter erzählt den Tagesablauf seines alten Helden Culman beinahe eins zu eins. 7 Uhr 10 heißt das erste Kapitel, der Postbote überbringt einen Brief, dessen schreckliche Ankündigung sich im letzten Kapitel, überschrieben mit 23 Uhr, kurz vor Mitternacht auf unerwartete Weise erfüllt. Die Kongruenz von Erzählzeit und erzählter Zeit ist dramaturgisch stimmig und führt nur an wenigen Stellen zu einem gewissen Leerlauf. Dazu Reuter:

    "Sie erinnern sich vielleicht an den berühmten Kinofilm "Highnoon" mit Garry Cooper. Der Film dauert 90 Minuten und damit genau so lange, wie Cooper braucht, um die Schurken abzuknallen. Ich habe, soweit das möglich war, so geschrieben, dass man meiner Hauptfigur, Culman, folgen kann, Schritt für Schritt, von 11 bis 12, von 12 bis ein Uhr und so weiter. Ich glaube, es wäre am besten, wenn man diesen Roman vom Morgen bis zum Abend und vom Abend bis in die Nacht lesen würde, um Culman richtig zu verstehen."

    So gemächlich Culmans Tagesablauf ist, so aufgewühlt sind seine Gedanken. Weit zurückliegende Ereignisse spülen sie an die Oberfläche: der Blick seiner Tochter, als sie noch klein war und ihm von der Straße zuwinkte, wenn sie in die Schule ging, seine Jahre als Concierge in New York und Kopenhagen, seine lukrativen Schwarzmarktgeschäfte während der deutschen Besatzungszeit in Dänemark, rudimentäre Reminiszenzen einer frühen Liebe, die im Verlauf des Roman immer stärker in den Vordergrund rücken. Im Spiegel beobachtet Culman seinen kahlen Schädel, sein verquollenes Walter-Mathau-Gesicht, seine zitternden unförmigen Hände. Überall zerrt und sticht es, sein Körper baut stündlich ab, obwohl sich Culman innerlich noch jung fühlt. Treffend schildert Reuter den irritierenden, beängstigenden und beschämenden Verfall. Bjarne Reuter hierzu:

    "Ich mußte meiner Hauptfigur gestatten, sich mir zu nähern, um sie überhaupt beschreiben zu können. Und Culman kam mir so nahe, dass es mir schwerfiel, ihn wieder loszuwerden, nachdem ich den Roman beendet hatte. Aber ich habe einiges von ihm erfahren: Es ist wahrlich keine einfacher Job 78 Jahre alt zu werden. Culmann sagt es einmal selbst: Es ist nichts für Feiglinge, so alt zu werden. Denn neben den körperlichen Problemen muss man auch noch mit seinen mentalen Schwierig-keiten zurechtkommen. Und Culman hat darüber hinaus jetzt auch noch moralische Probleme. Wenn man alt ist, hat man einen riesigen Erinnerungsbestand, der allerdings teilweise unterdrückt ist. Und in Culmans Fall ist es so, dass er gute Gründe hat zu vergessen."

    In einem sehr langsamen Prozess, gewissermaßen im Sekundenstil, nimmt die Katastrophe an diesem Tag ihren Lauf. Culman fällt zunehmend in stumme Selbstgespräche, hin und wieder huscht ihm ein Satz über die Lippen, doch keiner um ihn herum weiß, wovon er redet. In Gedanken hält er Zwiesprache mit dem Tod, der in Gestalt eines Gerichtsvollziehers vor ihm sitzt. Im Angesicht des Todes kommen verheimlichte Ansichten und Wahrheiten zur Sprache. "Du unnahbare Ignorantin, zischt er Johansens Frau ins Gesicht, seinem Freund Tinberg gesteht er, ein Verhältnis mit dessen Frau gehabt zu haben. Erinnerungen, Freunde und Bekannte finden sich am Abend zu einem halb imaginären, halb realen Totentanz zusammen, der schließlich Culmans Sündenfall, sein absolutes menschliches Versagen in jener frühen Liebesgeschichte ans Tageslicht befördert. Die verdrängte Vergangenheit holt ihn ein - auch in einem handgreiflichen Sinne - und wirft ein entlarvendes Licht auf die Unverbindlichkeit seines Charakters, unter der alle, vor allem seine Tochter zeitlebens gelitten haben. Hiezu Reuter:

    "Wenn die Figuren über die Vergangenheit sprechen wollen, dann nimmt Culman an der Unterhaltung nicht teil. Er will auch nie über ernste Themen sprechen. Darum ist er für seine Tochter auch nie ein guter Vater gewesen. Wenn er nicht das schlechte Gewissen gehabt hätte, hätte er auch den Mut aufgebracht, ein richtiger Vater zu sein, der - was man ja als Vater tun muss - ja oder nein gesagt, der seine Sicht der Dinge dargestellt hätte. Darum hat ihn seine Tochter nie wirklich kennenlernen können."

    Die Verzahnung der Zeiten, der Erinnerungen, der Imaginationen mit den Ereignissen der Gegenwart, die langsame, doch stetige dramatische Verdichtung gehören zu Reuters Erzählstärken. Auf der Satzebene folgt er eher einem traditionellen Ton. Mit ihren vielen Adjektiven wirken manche Sequenzen etwas fettleibig. Außerdem hat Bjarne Reuter der Eigendynamik seiner Geschichte wohl nicht so ganz vertraut. Drum hat er sie mit einer äußeren Spannung verwoben, die auch ein Zugeständnis an das Unterhaltungsbedürfnis mancher Leser sein mag. Mit Elementen des Kriminalromans ist der Text frisiert, weswegen er mitunter recht hochtourig klingt, was nicht jedermanns Geschmack ist. Um 7 Uhr 10, also gleich zu Beginn des Romans, erhält Culman nämlich einen Brief, der seine Hinrichtung für diesen Tag ankündigt, 'zur Strafe für frühere Untaten', wie es dort heißt. Wie ein Detektiv sucht Culman in seiner Umgebung fieberhaft nach Indizien für einen Täter. Das ist erzähltechnisch insofern geschickt gemacht, als dass Culman über seine Fahndung dazu gezwungen wird, sein eigenes Leben unter die Lupe nehmen, woraus schließlich das entscheidende Bekenntnis erwächst. Bjarne Reuter hierzu:

    "Ich hatte vor allem die Absicht die Geschichte eines Mannes zu erzählen, der das Ende seines Lebens, seinen letzten Lebenstag erreicht hat. Um ihn in die Situation zu versetzten, dass er weiß, dass es sein letzter Tag ist, wusste ich, dass ich die Form des Thrillers verwenden musste. Denn der Drohbrief, den er ganz am Anfang der Geschichte bekommt, gibt ihm das Gefühl, dies könnte wirklich sein letzter Tag sein. Man könnte sagen, der Thriller ist der Antrieb im Roman. Das wichtigste für mich aber war, auch wenn mir der Plot gut gefällt, zu erforschen, wie es ist, so alt zu sein, wie es ist, wenn man weiß, dass man seinen letzten Lebenstag erreicht hat. Welche Auswirkungen hat das auf einen selbst?