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Am Rande des Chaos

Boliviens Präsident Carlos Mesa fordert Neuwahlen. Er hält das Land für unregierbar und möchte zurücktreten. Aber das Parlament will ihn nicht zurücktreten lassen. Zweimal bereits hat der Kongress sein Rücktrittsgesuch abgelehnt.

von Gottfried Stein | 22.03.2005
    Vom Balkon des Präsidentenpalastes an der Plaza Murillo im Zentrum von La Paz spricht Carlos Mesa zu seinen Anhängern. Boliviens Präsident sucht den Kontakt zum Volk. Zweimal hat der Kongress in den letzten Tagen seinen Rücktritt abgelehnt. Mesa will vorgezogene Neuwahlen, weil er das Land für unregierbar hält. Aber das Parlament zwingt ihn, seine Amtszeit bis 2007 zu erfüllen – und Mesa beugt sich:

    "Ich werde mich meiner Verantwortung als verfassungsmäßiger Präsident der Republik nicht entziehen und mein Mandat erfüllen, das ich auf Grund der Situation am 17. Oktober bekommen habe"

    Der 17. Oktober 2003. Mesa war Vizepräsident und kam an die Macht, weil sein Vorgänger Lozada nach blutigen Massenprotesten mit Dutzenden von Toten aus dem Land fliehen musste. Jetzt legen wilde Streiks und Straßenblockaden das Land wieder lahm. Die Produktion steht still, Exporte und Investitionen brechen ein. Ganze Regionen sind von der Außenwelt abgeschnitten. Ein Szenario wie vor eineinhalb Jahren? Jacobo Libermann, engster Berater des Ex-Präsidenten Lozada:

    "Etwas Wiederholung ist dabei, nichts ist hundertprozentig gleich, das gibt es nicht, aber vieles wiederholt sich, der Druck von der extremen Linken, von radikalen Gruppen, die glauben, ihre Stunde sei gekommen, die Macht zu übernehmen und zwar mit Gewalt oder mit einem Aufstand, indem sie das Land einfach strangulieren . Mit diesen Blockaden, mit Zwangsmaßnahem versuchen sie, Bolivien lahm zu legen."

    Auslöser der Unruhen 2003 war die Absicht des Präsidenten, mit Hilfe amerikanischer Firmen Erdgas in die USA zu exportieren. Vor allem die verarmte indigene Bevölkerungsmehrheit fühlte sich gewissermaßen um ihr Eigentum betrogen, und blockierte die wichtigsten Verkehrsverbindungen des Landes. Hauptorganisator der Proteste damals wie heute ist Evo Morales, Führer der Kokabauern und der einflussreichen "Bewegung für ein sozialistisches Bolivien":

    "Es ist eine patriotische, historische Blockade, eine Blockade für Bolivien. Einige Unternehmer wird das stören, aber es ist eine Blockade, um Bolivien zu "entblockieren", um die natürlichen Ressourcen wieder zurück zu gewinnen. Das begann im Jahr 2000 mit dem "Wasserkrieg", und unsere Forderungen sind Licht, Telefon, Gas, Trinkwasser. Der Kampf geht weiter."

    Auch dieses Mal geht es wieder um den Umgang mit den Rohstoffen Boliviens. Das Land verfügt über reiche Gas- und Erdölvorkommen.
    Die in den 90er Jahren privatisierten Quellen werden von ausländischen Konzernen gefördert. Der aktuelle Konflikt entzündete sich an dem von Präsident Mesa vorgelegten so genannten "Kohlenwasserstoffgesetz". Es soll die Konzerne verpflichten, künftig 32 Prozent Steuern zu zahlen und außerdem 18 Prozent ihrer Gewinne an den Staat abzuführen. Eine von Morales angeführte Koalition aus Landarbeitern, Kokabauern und Gewerkschaftern will aber unbedingt 50 Prozent Gewinnbeteiligung erzwingen. Gimena Costas, Ex-Vizeministerin und Direktorin des Instituts für politische Studien in La Paz:

    "Im Grunde sind diese Naturschätze und das Land das Thema unserer politischen Tagesordnung. Das Thema des politischen Kampfes ist, Boden zu gewinnen. Die Frage ist nicht so sehr die Anzahl von%en, sondern die politische und wirtschaftliche Elite soll gebrochen werden, die 20 Jahre geherrscht hat und Naturschätze und Land ausgebeutet hat. Also, jetzt sind die anderen dran und sagen: Wir wollen unser Land und unsere Bodenschätze."

    Präsident Mesa hat vor einigen Monaten extra ein Referendum durchgeführt und sein Vorhaben vom Volk absegnen lassen. Eigentlich sah es auch vor, die Hoheitsrechte über die Fördergebiete wieder dem Staat zu übertragen. Aber strittig ist, wie weit die Forderungen angesichts der auf 40 Jahre abgeschlossenen Verträge gehen können, ohne Investoren abzuschrecken und horrende Schadensersatzklagen zu provozieren. Mesas Gegenspieler Evo Morales fordert:

    "Es ist wichtig, Verbündete zu haben, aber das Ausland kann nicht Besitzer in unserem Land sein. Was derzeit im Kongress über das Kohlenwasserstoffgesetz verhandelt wird, praktizieren wir in unseren Indio - Gemeinden. Zum Beispiel: ich habe einen Hektar Erde. Sie haben keinen, Sie müssen dieses Stück Land bearbeiten, das erbringt zehn Ladungen Kartoffeln, fünf für Sie und fünf für mich, aber das Land bleibt meines. Bei mir in der Provinz Chapare ist es genauso: Ich habe eine Kokapflanze und Sie haben keine, ich gebe Ihnen ein Stück, wir müssen die Erträge zur Hälfte teilen, aber das Land ist meines."

    Die Geschichte Boliviens ist eine Geschichte der Ausbeutung. Die Minen in der Hochebene waren einmal die Silberschatzkammer der Welt – besonders der "Cerro Rico", der reiche Berg oberhalb der legendären Stadt Potosi. Die spanischen Eroberer ließen kaum etwas davon übrig. Vor allem in der indigenen Bevölkerung schlummert bis heute ein tiefes Misstrauen, von Ausländern ausgebeutet zu werden. Hinzu kommen historische Ressentiments, etwa gegenüber Chile, weil im so genannten "Salpeterkrieg" der einzige Meereszugang Boliviens zum Meer verloren ging. Dabei wären die Gas- und Ölvorkommen, die allerdings noch weitgehend im Boden schlummern, eine neue Chance. Bernd Abendroth, Präsident des bolivianischen Arbeitgeberverbandes:

    "Wir haben 54 Trillionen, nachgewiesen, ausgehend davon, das 5 mal soviel vorhanden ist in der gesamten Andenkette. Das Potential liegt darin, dass wir es aus dem Boden holen. Es nutzt nichts, wenn es im Boden bleibt, wir müssen es kommerzialisieren, Wenn’s nach Chile gehen soll, soll’s nach Chile gehen etc. Jeder Kubikmeter, der rausgeht, bringt mehr Unabhängigkeit Boliviens auf lange Sicht. Das ist entscheidend. Wenn wir Gas verwenden und damit eine Politik der Entwicklung machen können, ist Bolivien aus dem Schneider raus."

    In El Alto, der 800.000 Seelenstadt im bolivianischen Hochland, herrscht normaler Alltag: Kleinbusfahrer buhlen um Passagiere, am Straßenrand preisen Frauen mit ihren typischen Bowlerhüten Ramschware an. Die meisten hier sind Indios: Aymara und Quechua. El Alto ist ein Pulverfass: Hierher strömen täglich hunderte von Menschen aus den völlig verarmten Hochlandregionen – auf der verzweifelten Suche nach Wohnung und Arbeit. Die Menschen hier sind verbittert und geben dem von der weißen Oberschicht geführten Staat die Schuld an ihrem Schicksal. Die Politologin Gimena Costa:

    "Ich glaube das größte Problem ist nicht die wirtschaftliche oder soziale Lage, sondern die ethnisch- kulturelle Spaltung. Sie haben kein "Gesamt-bolivianisches Bürgergefühl", fühlen sich mehr als Gruppe von Siedlern denn als Bürger, nicht zugehörig zum bolivianischen. Staat. Deshalb entstehen rassistische Stereotypen, Rasse wird immer wichtiger, Indios im Westen gegen Weiße im Osten, patriarchalische und machistische Gedanken durchziehen und erschüttern die gesamte Gesellschaft."

    Trotz seiner Bodenschätze ist Bolivien das Armenhaus Südamerikas. Dreiviertel der Bevölkerung sind Indios oder Mestizen, und zwei Drittel leben in bitterster Armut. Nach dem Ende der Militärdiktatur 1982 folgte der Staat, wie die meisten südamerikanischen Länder, den neoliberalen Rezepten der Weltbank und des Währungsfonds. Die Schlüsselindustrien in Infrastrukturbetriebe wurden privatisiert, die Märkte geöffnet. Dann wurde auch noch das Gas und das Öl entdeckt, aber das alles half der armen Bevölkerung wenig, sagt die Politikwissenschaftlerin Gabriela Ichaso:

    "Die Probleme sind die gleichen, die Leute haben kein Wasser, die Lehrer bekommen keine Bezahlung, die Lebensqualität in Bolivien ist für die große Mehrheit sehr schlecht, es ist nur eine kleine Gruppe, deren Lebensqualität ähnlich der der Mittelklasse im Rest Südamerikas ist. Die große Mehrheit lebt wie in der Vorzeit, ohne Wasser, ohne Gesundheitsvorsorge, ohne sanitäre Einrichtungen, ohne anständige Erziehung, ohne Straßen."

    Fahrt mit Eva, einer Sozialarbeiterin aus El Alto, durch den 7. Distrikt. Ärmliche Lehmhütten, die Schotterwege von Schlaglöchern übersät, karge Anbauflächen, auf denen gebückte Frauen dem Boden irgendetwas abzuringen versuchen. Die Landflucht hat binnen weniger Jahre vierzigtausend Menschen hierher gespült – in ein Ödland ohne Straßen oder sonstige Infrastruktur:

    "Die meisten Bewohner bleiben nicht hier, man kann hier nicht wohnen, deswegen gehen sie woanders hin, wo es mehr Gemeinschaft und Wasser, und Kanalisation gibt. Weil wir hier kein Wasser haben, leiden wir."

    Jose ist einer der wenigen, der als Handwerker Arbeit hat. 50 Dollar verdient er für seine Familie im Monat – aber wer Wasser will, braucht viel mehr Geld. Vor Jahren wurde die staatliche Wasserversorgung in El Alto an einen französischen Konzern verkauft. Der hatte sich zur Erschließung des Gebietes verpflichtet, kommt aber wegen der rasanten Landflucht nicht mehr nach und treibt die Preise in die Höhe.
    Bernd Abendroth, Präsident des bolivianischen Arbeitgeberverbandes:
    "Das Problem liegt hauptsächlich in den Installationskosten. 450 Dollar Installation für einen Arbeiter, der im Moment 50 Dollar verdient, ist nicht zahlbar. Das ist das Hauptproblem, zwei Konzepte, die gegeneinander stoßen: Ein Privatbetrieb, der sagt, ich kann nicht weniger nehmen, weil ich weiß, dass geringer Konsum folgt. Nur maximal ein halber Kubikmeter im Monat. Bei einem Preis von 8 Cent( Eurocent) pro Kubikmeter kann man noch nicht mal eine Rechnung stellen. Auf der anderen Seite sind 450 auch zu hoch. Dazu kommt, das es eine französische Firma ist, die keinen Gedanken verschwendet, eine Lösung zu finden."

    Die Situation im Distrikt ist desaströs. Es gibt ein einziges Gesundheitszentrum, das aus hygienischen Gründen immer wieder geschlossen wird, weil Wasser in den Toiletten fehlt. Das Grundwasser ist verseucht, die Flüsse eine eckelige Brühe aus Abfällen und Überresten, die der Schlachthof einfach einleitet. Die Regierung hat den Vertrag mit der Firma Anfang des Jahres gekündigt. Die Indios von Evo Morales verlangen jetzt die komplette Verstaatlichung – ein Wahnsinn, sagt der Bürgermeister von El Alto:

    "Das wird auf opportunistische Weise von den Gruppen um Morales ausgenutzt, die gegen die Globalisierung kämpfen. Und mich schmerzt es, denn was die Stadt El Alto braucht, ist der Zustrom von Investitionen. Ich habe ein Gesetz über Investitionen durchgesetzt, damit sich Industrien hier ansiedeln, Geld bringen, Arbeitsplätze schaffen und wir exportieren können."

    Der Bürgermeister will das Problem jetzt mit einer Mischform lösen, die Gemeinde zur Hälfte an der Gesellschaft beteiligen und internationale Entwicklungshilfe mit ins Boot holen. Ob das gelingt, ist allerdings fraglich.
    Ortswechsel. Das japanische Krankenhaus in Santa Cruz, der Provinzhauptstadt in der Tiefebene Boliviens. In der Haupthalle warten mindestens hundert Patienten auf ihren Aufruf. Überall in den Gängen sind Menschen, dazwischen versuchen Ärzte und Schwestern, den Ansturm zu organisieren. Santa Cruz gilt als reicher Teil des Landes, nicht zu vergleichen mit der Armut im Hochland. Hier liegen die reichen Rohstofffelder, sitzen die großen Unternehmen.
    Und doch macht sich auch hier die Landflucht der Armen immer mehr bemerkbar, sagt der Krankenhausdirektor:

    "Im Moment bräuchten wir für unsere Patienten ca. 5 000 Betten und haben weniger als 2 000. Diese Landflucht hat zu großen Problemen in der Erziehung, dem Wohnungswesen und einigen anderen Bereichen geführt, aber das Gesundheitswesen ist völlig zusammengebrochen.
    Was wir jetzt anbieten können, liegt unterhalb der Hälfte des tatsächlichen Bedarfs."

    Vor einigen Wochen hat das Regionalparlament von Santa Cruz eigenhändig die Autonomie der Provinz beschlossen. Staatspräsident Mesa hat den Beschluss für verfassungswidrig erklärt, aber einige Zugeständnisse gemacht: Künftig wird der Gouverneur nicht mehr von ihm ernannt, sondern vom Volk direkt gewählt. Kritiker sagen, in Wahrheit wollten die Autonomiebefürworter nur das reiche Flachland vom Hochland abspalten und die Indios ihrem Schicksal überlassen. Unsinn, sagt Dr. Carlos Abdu, der Präsident des Bürgerkomitees von Santa Cruz:

    "Wir waren immer der Meinung, dass der zentralistische Staat, der
    heute das Land regiert, eine Entwicklung der Landesteile nicht erlaubt.
    deshalb hat Santa Cruz Autonomie innerhalb des Einheitsstaates gefordert, eine politische Autonomie, die es erlaubt, eigene Autoritäten zu wählen, ferner eine wirtschaftliche Autonomie, die die Verwaltung der eigenen Ressourcen erlaubt, sowie eine steuerliche Autonomie, die es ermöglicht, Abgaben und Steuern einzuziehen."

    Natürlich schwächen die Autonomiebestrebungen den Einfluss von Präsident Mesa weiter. Der hat es schwer genug, weil er im Parlament über keine Mehrheit verfügt und den egoistischen, nur auf das eigene Wohl fixierten Parteien ausgeliefert ist. Und stets hat er die Drohung der Protestkoalition vor Augen, bei Bedarf mit neuen Blockaden das Land wieder zu lähmen. Umfragen zufolge stehen 60 Prozent der Bevölkerung hinter Mesa – Morales unterstützen angeblich nur noch 10, 15 Prozent. Mesa selbst will kämpfen:

    "Es ist ein komplizierter und schwieriger Prozess. Ich habe ein Jahr und vier Monate lang versucht, sozial zu regieren, und ich habe während dieser Zeit mit Dialo , Dialog, Dialog, gearbeitet, mit Geduld, viel Geduld, viel Flexibilität und Respekt vor Menschenleben, vor Bürgerrechten und vor den Menschenrechten. Diese Politik wird sich nicht um einen Millimeter ändern und glauben Sie mir, wir werden Möglichkeiten haben, die Probleme zu lösen, so wie wir sie bisher auch hatten."

    Der Präsident hat vor allem Angst vor einer Eskalation der Proteste, vor gewalttätigen Ausschreitungen wie im Oktober 2003. Er will auf keinen Fall Polizei und Militär einsetzen und Blutvergießen vermeiden, fordert aber, Blockierer zu bestrafen. Die Justiz wiederum hat erklärt, Blockaden seien nicht strafbar. Und konservative Politiker drängen Mesa, härter durchzugreifen. Jacobo Libermann, der frühere Präsidentenberater, zweifelt, ob der Kurs Mesas gut geht:


    "Der Präsident hat glaube ich Angst, legale Gewaltmaßnahmen zu ergreifen, er sieht darin eine Gefahr, deswegen hat er sehr viel nachgegeben. Jetzt muss er die Rechnung für seine verbalen Zugeständnisse zahlen. Hoffentlich hat er Erfolg damit, sonst sind wir alle mit betroffen, auch die, die nur zugucken, das geht uns alle an, denn wenn es Erschütterungen gibt, betreffen sie uns alle."