Archiv


Amerikanische Archivgeheimnisse

Die schleichende Entäußerung liberaler Grundwerte unter der Bush-Regierung wird inzwischen vielen US-Amerikanern unheimlich. Die Farce um 9500 Dokumente des Nationalarchivs gehört ins Szenario, wie sie ausgeht, ist immer noch nicht klar.

Von Wolfgang Stenke |
    Welthistorisch betrachtet ist die Geschichte der Geheimdienste vor allem eine Geschichte von Pleiten, Pech und Pannen. Sie beginnt beispielsweise mit Alexander der Große, dessen Kundschafter bei Issos (333) leider nicht mitkriegten, dass die Truppen des Perserkönigs Dareios auf einmal im Rücken der Makedonier standen: Da blieb nur noch der Kampf in der berühmten "verkehrten Schlachtordnung". Ansonsten wäre die historische Keilerei als makedonische Niederlage in die Annalen eingegangen - wegen nachrichtendienstlichen Versagens. Dieselbe Diagnose liegt mehr als zwei Jahrtausende später der Bombardierung der chinesischen Botschaft in Belgrad zugrunde: Die diplomatische Vertretung der Volksrepublik wurde am 8. Mai 1999, 5 Uhr 45 (!), durch US-Raketen in Trümmer gelegt, obwohl ein Blick auf den Stadtplan genügt hätte, um das Gebäude von der Liste militärischer Ziele zu streichen...

    An der Fortsetzung solcher Traditionslinien arbeiten die Agenten amerikanischer Dienste, wie's scheint, ebenso eifrig wie ausdauernd:

    Seit George W. Bush sich als oberster Kriegsherr im Kampf gegen die Achse des Bösen versteht, ist dem Personal der CIA und den Kollegen aus Army und Air Force kein Nebenkriegsschauplatz zu gering: Die Front verläuft selbst durch die Regale der staatlichen "National Archives". Bevorzugte Kampfmittel sind Stempel und Sperrvermerke, mit denen ehemals öffentlich zugängliche Akten als geheim deklariert werden. Das jedenfalls haben Mitarbeiter einer unabhängigen, gemeinnützigen Organisation namens "National Security Archive" herausgefunden, die an der George Washington University in Washington angesiedelt ist. Sie sammelt Primärdokumente zur Außen- und Militärpolitik der Vereinigten Staaten und macht sie via Internet der Öffentlichkeit zugänglich. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft fördert den Zugriff auf diese Datenbanken aus universitären Netzen der Bundesrepublik.

    Seit der Ära Clinton sind in den USA umfangreiche Bestände diplomatischer und sicherheitspolitischer Akten nach Ablauf der 25-Jahres-Sperrfrist für die historische Forschung freigegeben worden. Den betroffenen Ministerien und vor allem den Nachrichtendiensten ging das schon damals zu schnell und zu weit, weshalb insgeheim Expertenkommissionen eingesetzt wurden, die sensible Aktengruppen in den staatlichen "National Archives" noch einmal durchgingen und bei Bedarf "reklassifizierten" - zu deutsch: wieder als "geheim" einstuften und sperrten.

    Historiker vom unabhängigen "National Security Archive" an der Georgetown University haben nun eine Expertise vorgelegt, aus der hervorgeht, dass diese Praxis gegen Ende der 90er Jahre zunehmend restriktiver wurde. Nach Beginn der Ära Bush aber steigerte sich das Sicherheitsbedürfnis vor allem im Pentagon und in den Geheimdiensten bis zur Paranoia: Die Regierung Bush teilte der Leitung der "National Archives" mit, sie werde sämtliche öffentlich zugänglichen Akten, die Sicherheitsfragen betreffen, erneut überprüfen und gegebenenfalls sperren lassen. Das Untersuchungsprogramm, das dem Kongress nicht zur Billigung vorgelegt wurde, begann im Oktober 2001. Zwei Jahre später wurde es auch auf die Dokumentenbestände in der Kennedy- und in der Johnson-Library ausgedehnt. Bislang, so die Expertise des "National Security Archive", sind 9.500 Dokumente mit einem Umfang von insgesamt 55.000 Blatt wieder zurückgezogen worden - z.T. Akten, die auf den Zweiten Weltkrieg oder den Kalten Krieg zurückgehen. Darunter etwa Vorgänge, die den Einsatz von Ballons beim Transport von Propagandamaterial in den Ostblock behandeln. Oder Dokumente aus dem Korea-Krieg, in denen die CIA sich im Herbst 1950 mit der Einschätzung blamierte, die Volksrepublik China werde nicht zugunsten Nordkoreas in den Konflikt eingreifen.

    Das Geschick der Geheimdienste bei der "Reklassifizierung" erinnert stark an den frühen Woody Allen und seine Bemühungen, einen Hummer zuzubereiten: Statt das Schalentier zu kochen, versucht der Stadtneurotiker, es mit einem Paddel zu erschlagen. Wer diesen Vergleich für gewagt hält, der sei an die Expertise des "National Security Archive" verwiesen: Aus ihr geht u.a. hervor, dass einige der wieder gesperrten Akten bereits gedruckt vorliegen - in der offiziellen Publikationsreihe des Außenministeriums.

    Die Kritik der Historiker zieht mittlerweile Kreise: Die Leitung der "National Archive" in Washington hat angeordnet, dass das "Reklassifizerungs"-Programm zunächst für 60 Tage ausgesetzt und überprüft wird. Der Kongress hat zu diesem Zweck einen neunköpfigen Beirat ins Leben gerufen, den "Public Interest Declassification Board", der künftig für die Balance zwischen "größtmöglicher Offenheit beim Zugang zu den Dokumenten" und der "Anerkennung legitimer nationaler Sicherheitsbedürfnisse" sorgen soll. Nicht gerade eine beneidenswerte Aufgabe: Frischluft ins Archiv pumpen - ohne dass die Allergiker von der CIA niesen müssen?