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Amerikanische Seelenschau I

Ein Paar nebeneinander auf zwei Stühlen, hinter ihnen eine kleine Leinwand, darauf verwischte, unscharfe, schwarz-weiße Stadtaufnahmen: Wolkenkratzer schräg im Bild, eine Laterne, ein Straßenschild. Autoperspektive. Er hat sie gerade vom Flughafen abgeholt und erfährt jetzt langsam, zögerlich, etappenweise, die Geschichte der letzten Nacht in ihrem Hotel. Zwei Männer, oder waren es doch noch mehr, waren in ihrem Zimmer, sie weiß eigentlich nichts davon, ihr wurde nämlich schwarz vor Augen, oder doch nicht ganz, jedenfalls ist sie erst mittags aufgewacht, und dann nackt. War Gewalt im Spiel, wie etwa die Leinwand suggeriert, auf der Bilder nackten Fleisches Sekundenbruchteile aufscheinen wie der mahnende Fingerzeig des schlechten Gewissens; oder wie die Erinnerungsspur, die die Bemühungen des strengen Zensors unterläuft. Oder vielmehr: Lust?

Ein Beitrag von Karin Fischer |
    Der Weg durch die Stadt als Momentaufnahme eines Seelenstriptease, rhythmisiert durch seine Fragen, ihre Richtungsanweisungen ("einordnen") und den anspielungsreichen Sound einer Elektrogitarre. Er schwankend zwischen verständnisvoller Ungeduld und bestürzter Verletzlichkeit, sie zwischen müder Verdrängerlaune und schnoddriger Hilflosigkeit angesichts der heiklen Wahrheit, die sich langsam entblättert: eine mindestens halbbewusst eingefädelte Orgie hat in diesem Hotel stattgefunden, keine Vergewaltigung. Neil La Bute, als nicht gerade empfindlicher Dramatiker des Bitterbösen bekannt, als Psychoterrorist der Bühne und des Films gehypt, erweist sich hier als Meister der unspektakulären Erkundungsfahrten zu den abgründigen Seelenlagen in uns, vor allem aber auch als ein Meister schwebender Leichtigkeit und flirrender Anspielungen. Die Closed Shop-Situation im Auto simuliert und symbolisiert den banalen Irrwitz, die Enge und die Ausweglosigkeit des Augenblick vor der alltäglichen Katastrophe. Das zweite Paar des Abends ist ein Mädchen, das mit einem Mann, der vielleicht sein Vater ist, einen nur vielleicht geplanten Ausflug macht, der vielleicht nicht so harmlos endet wie die Wahl zwischen McDonalds und BurgerKing zum Mittagessen. Oder ist es unser versautes Hirn, das hier Regie spielt?

    Kleine Szenen, große Fragen: wie viel Wahrheit ist dem Mann an meiner Seite zumutbar? Wie viel guter Onkel ist in jedem von uns? Wie tragfähig ist ein Beziehungs-Band unter Belastung?

    "Land of the dead", Das Land der Toten, ist LaButes Auseinandersetzung mit "Nine-Eleven". Die Szene wirkt am eindrücklichsten, weil sie so unausweichlich auf das vorher bekannte Ende zusteuert wie die Flugzeuge aufs World Trade Center. Dieses dritte Paar hat beschlossen, ein Kind abzutreiben. Am frühen Morgen des 11. September, als alles schon vorbei ist, hört sie seine uninteressierte Stimme auf ihrem Anrufbeantworter: "Hey, wenn du willst, können wir die Sache auch durchziehen und das Ding behalten."

    Das ist das letzte, was sie von ihrem Mann gehört hat. Der Tag, nach dem nichts mehr war wie zuvor, wird durch die zuvor getroffene Gewissensentscheidung moralisch aufgeladen und zugespitzt auf jene Frage, die sich viele Überlebende oft stellten: hätten wir anders gelebt, anders entschieden an diesem Tag angesichts des sicheren Endes? Die Stärke von LaButes Text besteht darin, diese Frage gerade nicht zu stellen; die des Regisseurs Matthias Hartmann, sie noch nicht einmal zu insinuieren. Das Stück hat moralischen Sprengstoff an Bord; jeder Regisseur tut aber gut daran, ihn nicht zu zünden. Mit dem hervorragenden Bochumer Ensemble reicht es auch so für das Gefühl: Gerade noch mal davon gekommen.

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