Samstag, 20. April 2024

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Amerikanischer Transzendentalismus: Ralph Waldo Emerson, Henry David Thoreau, Margaret Fuller

Ralph Waldo Emerson und Henry David Thoreau sind in Deutschland gut bekannt: Emerson als ein klassischer Begründer der amerikanischen Literatur, als Vater der Transzendentalisten - Thoreau als Autor des Essays über den zivilen Ungehorsam, der ihn besonders während der Pop-, Beat- und Hippiebewegung zur Kultfigur werden ließ. Thoreau war das Vorbild der Bürgerrechtsbewegung in den Vereinigten Staaten, der Vietnamgegner und selbst der Steuerverweigerer der achtziger Jahre. Weniger bekannt ist Margaret Fuller, die ebenfalls eng zum Kreis der Transzententalisten von Concord gehörte. Der Historiker Perry Miller sagte, Fuller sei unter ihren Zeitgenossen die einzige Amerikanerin, die im Gespräch Persönlichkeiten vom Format Goethes und Rousseaus das Wasser hätte reichen können. Das ist ein großes Kompliment.

Friedrich Mielke | 01.01.1980
    Margaret Fuller hatte eine ungewöhnliche klassische Bildung. Sie übersetzte Goethe und bewunderte Emerson. Thoreau, Emerson und Fuller arbeiteten in Concord gemeinsam an "The Dial", die 1840 gegründete Hauszeitschrift der Transzendentalisten. In den Jahren 1840-42 entfaltete sich Margaret Fuller dann zur Feministin. Sie beanspruchte für die Frau mehr ökonomische, soziale und emotionale Selbständigkeit. Den Essay "The Great Lawsuit" für "The Dial" erweiterte sie zum Hauptwerk "Woman in the Nineteenth Century", dem vielleicht bedeutendsten amerikanischen Beitrag zum Feminismus.

    Dieter Schulz, Anglistikprofessor an der Universität Heidelberg, legt jetzt ein Buch vor, das die Transzendentalisten Emerson, Thoreau und Fuller vergleicht und in einer Zusammenschau vorstellt. Schulz bedauert, daß er dabei nicht allen drei Autoren gleichermaßen gerecht werden kann. Außerdem gäbe es seit den 60er Jahren zu Emerson, Thoreau und Fuller eine regelrechte Forschungsindustrie, die keine Einzelstudie mehr richtig erfassen kann.

    Die Vergleichsgrundlage für die ideengeschichtliche Gegenüberstellung der drei Transzendentalisten findet Schulz in der existentiellen Metapher des Bauens und Sehens. Da wir in und durch Metaphern reden, sei alles Sprechen poetisch. Die Transzendentalisten, so Dieter Schulz, hätten diese Erkenntnis in ihren Texten umgesetzt und eine Prosa verfaßt, die diskursives Argumentieren mit Poesie verbindet.

    In seinem Essay "Nature" fordert Emerson jeden auf, sich seine eigene Welt zu schaffen. Mit dem Bau der Hütte am Walden Pond setzt Thoreau die Programmatik seines Mentors Emerson buchstäblich ins Werk. Nach zwei Jahren verließ Thoreau die Hütte am See. Das Ich müsse die Hülle des alten Hauses abwerfen, um wachsen zu können. In "Walden" richtet sich Thoreaus Zivilisationskritik gegen die Rastlosigkeit des zeitgenössischen Lebens, die Entwurzelung des Individuums im Zeichen der sich in den USA entwickelnden Massen- und Konsumgesellschaft: Thoreau versucht, die Vertreibung aus dem Paradies rückgängig zu machen und die verlorene Natur als Haus der Seele wiederzugewinnen.

    Die Seele ist auch der Zentralbegriff in Emersons Gedankenwelt. Auch Emerson verbindet das Zentrum des Ichs mit dem Zentrum der Welt. Die Voraussetzung für den Erfolg der Seele, so Emerson, sei ihre relative lndifferenz gegenüber allem, was sie schafft und wirkt. Sein und Haben, Seele und Güter treten bei Emerson in eine Opposition, die nicht weniger radikal erscheint als bei Thoreau.

    Schulz diskutiert Emersons Gedanken zur Rolle des Intellektuellen in der Gesellschaft. Er beschreibt Thoreaus berühmte Nacht im Gefängnis und erörtert seine Meinung zur Sklavereifrage. Der Autor erklärt Margaret Fullers Gedanken zur Rolle der Frau in ihrer Zeit und stellt Fullers Hauptwerk in den Kontext der feministischen Debatte. "Woman" ist ein prophetisches Buch, das gegen die Liebe als alleiniger Form weiblicher Selbstverwirklichung polemisiert. Fuller fordert Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau, die sich nicht in ein Gefängnis emotionaler Sklaverei begeben sollten. Wenn sich - wie in Emerson und Fuller - zwei selbstbewußte Individuen begegnen, sollten sie sich in Liebe und Freundschaft füreinander öffnen.

    Das gut leserliche Buch umfaßt die große Bandbreite der Diskussion über eine der literarisch bedeutendsten Höhepunkte der amerikanischen Kulturgeschichte. Concord ist das amerikanische Weimar, das intellektuelle Zentrum Neuenglands. Emerson wurde Amerikas größter Visionär und Denker des 19. Jahrhunderts genannt. Und Thoreaus Botschaft des Individualismus und Nonkonformismus ist heute fast einflußreicher als Emersons Gedankengut. Dieter Schulz’ Vergleich zwischen Emerson, Thoreau und Fuller ist somit ein wertvoller Beitrag zum Verständis der amerikanischen Klassiker von Concord. Das Buch wendet sich nicht nur an akademisch geprägte Leser; es nützt allen, die ihre Kenntnisse über die Transzendentalisten ergänzen wollen und die es genießen, sich in die Gedankenwelt dieser drei amerikanischen Geistesgrößen zu versetzen.