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Amira Hass: Bericht aus Ramallah. Eine israelische Journalistin im Palästinensergebiet.

Anfangs behielt sie noch ihre Wohnung in Tel Aviv. Dann zog sie mit Sack und Pack um in die besetzten Gebiete. Es sollte nicht für lange sein, hieß es damals, 1993, als Haaretz sie losschickte. Sie sollte über die Umsetzung des Oslo-Vertrages berichten, über die Fortschritte im Friedensprozess, über den Einzug der Normalität nach dem Rückzug der israelischen Armee. Heute lebt sie immer noch in Ramallah. Amira Hass ist nicht zur Friedensberichterstatterin geworden. Sie ist Kriegsreporterin geblieben. Und ist bis heute die einzige jüdisch-israelische Journalistin, die im palästinensischen Ramallah lebt und arbeitet.

Von Thilo Kößler |
    Natürlich deprimiert mich das alles. Aber ich glaube, wenn ich in Israel leben würde, wäre das noch deprimierender. Nicht zu wissen oder zu leben, als wäre alles ganz normal. Wenn man in Israel lebt, zwei Meter von hier entfernt, dann ist es sehr bequem, nichts zu wissen. Und ich glaube, dieses Nichtwissen würde mich deprimieren. Ich habe das Glück, dass ich schreiben kann. Ich kann die Depression rauslassen.

    Amira Hass vor einem Jahr in einem Interview mit dem ARD-Hörfunk.
    Amira Hass also ist geblieben. Und legt eine Chronik der Ereignisse vor, die vom Blick der Augenzeugin geprägt ist. Erneut gilt ihr Interesse nicht den Entscheidungsträgern auf beiden Seiten, den Politikern und Verhandlungsführern. Erneut gilt ihre Aufmerksamkeit dem Alltag - den Erfahrungen und Stimmungen der palästinensischen Bevölkerung unter dem Diktat der israelischen Besatzung. Das Leben in den besetzten Gebieten – das ist ein Leben unter den Bedingungen der militärischen Abriegelung und der Ausgangssperren. Das ist die Angst vor der Willkür der israelischen Armee. Das ist der Zorn über die alltäglichen Demütigungen. Unter dem Datum des 2. Juni 2002 notiert sie:

    A´adli Nafa´a hat drei Möglichkeiten, seine Mutter, der vor kurzem ein Fuß amputiert wurde, zur Nachbehandlung ins Regierungskrankenhaus nach Ramallah zu bringen. Er kann erstens einen Krankenwagen aus Ramallah rufen. Doch der Krankenwagen kann nicht auf der direkten, sieben Kilometer kurzen Route von der Stadt in Nafa´s Dorf Dir Ibziya fahren, sondern muß einen sechzig Kilometer langen Umweg auf Straßen nehmen, die eigentlich nur Israelis vorbehalten sind. Zweitens kann er dieselbe Route nehmen wie am 19. April, als er seine zuckerkranke Mutter ins Krankenhaus brachte, nachdem sich ihr Wundbrand verschlimmert hatte. Auf dem Rücken hatte er sie durch die Hügel getragen und einen Bogen um die israelischen Militärposten gemacht.(…) Um fünf Uhr nachmittags kamen sie endlich im Krankenhaus an. Sie waren acht Stunden zuvor, um neun Uhr morgens aufgebrochen. Und zu guter Letzt kann er – drittens - riskieren, eine Kugel abzubekommen, wenn er sich zu Fuß – mit seiner Mutter auf dem Rücken – in das Gewirr aus Gräben, Wällen, Felsen und Stacheldrahtzaun wagt, mit dem die Armee die asphaltierte Straße (…) abgeriegelt hat. (…) Manchmal geht der auf dem Hügel stationierte Transportpanzer auf Patrouille, und dann schlüpfen sie durch Stacheldraht und über Erdwälle und laufen zu dem Sammeltaxi, das sich zwischen den Häusern versteckt. So brachte Nafa´a seine Mutter am 8. Mai zurück, nachdem er zwei Wochen an ihrem Bett gesessen hatte.

    Amira Hass erzählt. Sie empört sich nicht. In nüchtern-distanziertem Ton informiert sie die Leser von Haaretz, der linksliberalen israelischen Tageszeitung, über die Ereignisse in Westjordanland und Gazastreifen. Ihre 65.000 Abonnenten gehören zur intellektuellen Oberschicht Israels. Und dennoch sah und sieht sich Amira Hass immer wieder mit Anfeindungen konfrontiert – als Nestbeschmutzerin ist sie beschimpft worden. Als Verräterin. Doch auch von der anderen, der palästinensischen Seite, kamen immer wieder Drohungen. Auch im Lager Arafats hat sie nicht allzu viele Freunde. Amira Hass lässt sich davon nicht beeindrucken. Sie schreibe nicht für die Palästinenser, sagt sie, sondern gegen die Besatzung. Julia Scherf, die Repräsentantin der Heinrich-Böll-Stiftung in Tel Aviv, beobachtet die journalistische Arbeit und die öffentliche Wirkung von Amira Hass.

    Es ist ihre Präzision und die Genauigkeit ihrer Recherche und das Vermitteln durch klaren, unpolemischen Stil von Situationen und von menschlichen Geschichten und Zusammenhängen, die fast unbegreiflich sind.

    Amira Hass begnügt sich freilich nicht mit dem reportagehaften Blick auf die schockierende Lebenswirklichkeit in den besetzten Gebieten. Sie ist politische Journalistin und stellt ihre Beobachtungen in den Kontext der großen Entwicklungslinien. Sie schildert die Intifada – den palästinensischen Aufstand – und die israelischen Militäraktionen als einen asymmetrischen Konflikt, in dem sich verzweifelte Massen, radikale Milizen und fanatisierte Selbstmordattentäter einer hochgerüsteten, gewaltbereiten israelischen Armee gegenüber sehen. Dieses Ungleichgewicht sei der Geburtsfehler des Oslo-Prozesses gewesen, meint sie. Und zitiert im März 2000 einen palästinensischen Intellektuellen.

    Das, was derzeit Gestalt annimmt, (wird) in einer Art Apartheid enden: Ein Volk herrscht über ein anderes, und ein Staat herrscht über eine andere Größe, die kein Staat ist. Die Palästinenser werden auf isolierten Fleckchen Land leben, und ihre Frustration und ihre Verzweiflung werden wachsen.

    Amira Hass lässt sich aber nicht zu einseitigen Schuldzuweisungen hinreißen. Sie gibt der palästinensischen Autonomiebehörde eine gehörige Mitschuld am Scheitern des Friedensprozesses. Sie schildert das autokratische System Yassir Arafats als zutiefst korrupt, undemokratisch und bar jeder rechtsstaatlicher Prinzipien. Anders als die israelische Öffentlichkeit will sie aber Arafat nicht persönlich für den Ausbruch der Zweiten Intifada verantwortlich machen.

    Die Menschen in den Palästinensergebieten wissen, dass die Palästinensische Autonomiebehörde in den Aufstand hineingezogen wurde. Yassir Arafats einsame Entscheidungen erzeugten in Kombination mit dem Kampf hochrangiger Beamter (…) ums politische Überleben und der Angst, der Aufstand könne sich auch gegen ihre Behörde richten, ein Vakuum in der palästinensischen Politik. Dieses Vakuum füllten militärische Initiativen… Dieses Eingeständnis militärischer und politischer Schwäche ebnete der Eskalation den Weg – und einem Phänomen, das jeden Palästinenser beunruhigen sollte: der massenhaften Bereitschaft junger Menschen, sich umzubringen, um andere zu töten.

    Da rührt Amira Hass an einem weiteren Tabu: Anders als viele Stimmen in Israel erklärt sie die Bereitschaft zu Selbstmordattentaten nicht zu einer Frage von Religion und Mentalität. Die Bereitschaft, sich in die Luft zu sprengen, und die große Unterstützung für Selbstmordattentäter hätten soziale Ursachen und politische Gründe.

    Wer sich für den Tod entscheidet, um zu töten,(…) sieht sich als Repräsentant einer kollektiven Frustration und Wut über ein Leben, das diese Bezeichnung nicht verdient, und das die Palästinenser für das Ergebnis einer bewussten israelischen Politik halten: Ein Leben im Käfig, in Armut und Krankheit, in dem man dem Tod täglich begegnet, in dem die Bewegungsfreiheit beschnitten ist, ein Leben voller Demütigungen.

    Der Kollaps des Friedensprozesses, die Unversöhnlichkeit auf beiden Seiten und die Eskalation der Gewalt sind für Amira Hass Ausdruck einer doppelten Krise. Auf beiden Seiten der Palästinenser zeichnet sie das Bild einer Gesellschaft, die unter den Bedingungen der Besatzung förmlich aus der Zeit zu kippen droht: die Abriegelung der palästinensischen Gebiete, der immerwährende Ausnahmezustand und die Ausgangssperren sorgen für ein dramatisches Bildungs- und Informationsdefizit, das der religiös verbrämten Gewaltbereitschaft Vorschub leistet. Auf Seiten Israels sieht Amira Hass alle Symptome einer moralischen Krise und eines dramatischen Legitimationsdefizits. Auf beiden Seiten habe die Vernunft versagt – hier wie dort zählten Waffen mehr als Hirn, meint sie.

    Beide Seiten sind davon überzeugt, dass nur der Einsatz von noch mehr tödlicher und verheerender Gewalt der Gegenseite Einhalt gebieten wird. Beide Seiten haben Unrecht.

    Amira Hass ist mutig. Sie ist hartnäckig. Unbeugsam. Und sie schreibt weiter – trotz der vielen Anfeindungen aus allen Richtungen. Sie weiß vieles besser. Und hütet sich dennoch vor guten Ratschlägen. Sie beschreibt, analysiert, deckt auf. Und wehrt sich gegen die Selbstbefangenheit hier wie dort. Sie beklagt den fehlenden Willen, sich mit dem Leid der anderen Seite auseinander zu setzen. Sie fordert Mitgefühl ein. Wenn sie damit Erfolg hätte, wäre das ein großer Schritt in Richtung Frieden, meint Julia Scherf von der Heinrich Böll Stiftung in Tel Aviv.

    Dann wird sie eine von denen sein, die dafür gearbeitet haben, dass die Perspektive der anderen, das Mitfühlen, ein ganz wichtiger Schritt ist, um gemeinsam an einer besseren Zukunft zu arbeiten.