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Amira Hass: Gaza. Tage und Nächte in einem besetzten Land

Die Wiederkehr des immer Gleichen, die Pendelschläge zwischen Hoffnung und Gewaltausbruch lassen den Nahostkonflikt ausweglos erscheinen. Wer versuchen will, die verzweifelte Situation im Nahen Osten besser zu verstehen, wer wissen will, warum der Friedensprozeß von Oslo gescheitert ist und warum auch die jetzigen Friedens-Bemühungen den Konflikt wohl nicht dauerhaft werden lösen können - dem könnte das Buch von Amira Hass über den Gaza-Streifen weiterhelfen. Es ist ein Erlebnisbericht über drei Jahre, die die Journalistin in Gaza verbracht hat. Drei Jahre, in denen sie, als Israelin und Jüdin, unter den Palästinensern gelebt und für die links-liberale Tageszeitung Haaretz berichtet hat.

Bettina Marx |
    Ich verberge niemals, dass ich Israelin und Jüdin bin. Manchmal stoße ich auf eine feindliche Einstellung, aber es ist nie gefährlich. Vielleicht ein, zwei drei Mal gab es etwas am Anfang der Intifada. Aber das war eine besonders schwierige Zeit. Die Menschen können das gut unterscheiden.

    Für die meisten ihrer Landsleute, die den Gazastreifen höchstens als Soldaten einer Besatzungsmacht kannten, war es völlig unverständlich, dass eine Israelin freiwillig ihren Wohnsitz nach Gaza verlegen konnte. Amira Hass aber hat fast nur gute Erfahrungen gemacht. Für sie war es nicht nur eine journalistische Selbstverständlichkeit, dort zu leben, von wo sie berichtete, es war für sie auch ein Weg zurück zu den Wurzeln der eigenen Geschichte. Denn sie ist die Tochter von Holocaust-Überlebenden aus Südosteuropa.

    So war mein Wunsch, in Gaza zu wohnen, nicht auf Abenteuerlust oder Wahnsinn zurückzuführen, sondern auf die Angst, zu einem tatenlosen Zuschauer zu werden, auf mein Bedürfnis, eine Welt, die nach meinem besten politischen und historischen Wissen das Werk Israels ist, bis ins letzte Detail zu verstehen. Erst allmählich und nur einigen wenigen Freunden in Gaza und Israel begann ich zu erklären, dass es mein Erbe war, diese einmalige, autobiographische Mischung, die von meinen Eltern an mich weitergeben worden war, die mir den Weg in den Gazastreifen gewiesen hatte.

    Im Jahr 1993 zog Amira Hass in den Gazastreifen. Nach der Unterzeichnung der Grundsatzerklärung, die den Palästinensern eine begrenzte Selbstverwaltung in Gaza und Jericho einräumte, hatte ihre Zeitung sie beauftragt, als Korrespondentin aus dem Gazastreifen zu berichten, über die letzten Monate der direkten Herrschaft Israels und über den Übergang der Verwaltung auf die Autonomiebehörde zu berichten. Doch was Amira Hass in diesem schmalen Landstrich vorfand, der sich auf einer Länge von noch nicht einmal fünfzig Kilometern an der Mittelmeerküste hinstreckt und der mit mehr als einer Million Einwohnern das am dichtesten besiedelte Gebiet der Welt ist, das nahm ihr jede Hoffnung auf einen guten Ausgang des Friedensprozesses.

    Ich habe mich damals mit meiner Redaktion und mit der Öffentlichkeit gestritten, denn ich habe im Oslo-Prozess keinen Friedensprozess gesehen. Aber die Leute haben geglaubt, dass das, was ich schreibe, vielleicht das Bild ein wenig stört, aber den Gesamteindruck nicht kaputt macht, dass es ein Friedensprozess ist.

    In ihrem Buch beschreibt Hass die Lage der Palästinenser im Gazastreifen, nach der Unterzeichnung des Grundlagenabkommens zwischen Israelis und Palästinensern. Sie berichtet über die Fehler, die schon bei den Verhandlungen gemacht wurden, als eine ungeübte palästinensische Verhandlungsdelegation weit reichende Zugeständnisse machte, ohne dafür Gegenleistungen zu fordern. Sie beschreibt die Ankunft von hohen PLO-Funktionären wie dem heutigen Ministerpräsidenten Mahmoud Abbas, die ohne Verständnis für die Sorgen der einheimischen Bevölkerung sich von den Israelis für die Durchsetzung ihrer Interessen missbrauchen ließen. Vor allem aber schreibt Amira Hass über das Leben der einfachen Menschen im Gazastreifen, der Flüchtlinge, die im Jahr 1948 aus ihren Dörfern in der Küstenebene vertrieben wurden und die in immer enger werdenden Flüchtlingslagern in Gaza Aufnahme fanden. Sie schreibt über die Gefangenen, die zum Teil viele Jahre lang in israelischen Gefängnissen saßen und dort Folter und Misshandlung erdulden mussten. Sie schreibt über die Familien, die das Rückgrat der palästinensischen Gesellschaft sind und die diese Gesellschaft vor dem Zerfall bewahrt haben, die den einzelnen stützen und die ein Netz der Sicherheit bilden, das den Palästinensern die Strukturen eines geordneten Wohlfahrtsstaates ersetzt hat.

    Auf fast 400 Seiten zeichnet Amira Hass ein differenziertes Bild der Entwicklungen im Gazastreifen von 1993 bis Ende 1996. Es ist eine Mischung aus Augenzeugenbericht, zeitgeschichtlicher Betrachtung und politischer Analyse der Geschehnisse. Am meisten bewegt sie das Schicksal der Flüchtlinge. Mit ihnen kann sie sich identifizieren, denn sie selbst ist die Tochter von Flüchtlingen, von Holocaust-Überlebenden, die nach dem Zweiten Weltkrieg von Europa nach Israel kamen. Amira Hass´ Vater stammt aus Rumänien, ihre Mutter aus dem multikulturellen Sarajevo. Beide Eltern waren Kommunisten und sie lehnten die israelische Besatzung ab.

    Meine beiden Eltern hatten keinen Opfer-Komplex. Sie glaubten beide, dass man nicht die Opfer, sondern die Täter konfrontieren muss. Ich bin nicht mit einem jüdischen Komplex aufgewachsen, ich bin erzogen worden mit dem Abscheu gegenüber Unterdrückung und Ungerechtigkeit, es ist geradezu ein physischer Abscheu, auch gegenüber dem stillschweigenden Dulden der Ungerechtigkeit. Aber die Geschichte meiner Eltern hat mich nicht dazu bewegt, über die Palästinenser zu schreiben. Es ist ein Teil von mir selbst. Der Zorn, den ich gegenüber der Ungerechtigkeit empfinde, gehört zu meiner Natur.

    Das Buch von Amira Hass Buch erschien im Jahr 1996 in Israel und vier Jahre später in einer englischen Ausgabe. An eine deutsche Übersetzung wollte die Journalistin damals nicht denken. Sie hatte Angst, dass ihr kritischer Bericht missbraucht werden könnte, um die deutschen Untaten an den Juden im Nachhinein zu rechtfertigen. Auch mit deutschen Medien wollte Amira Hass zunächst nichts zu tun haben. - Inzwischen hat sie jedoch ihre Meinung geändert. Sie kann den Deutschen schließlich nicht verbieten, ihre Artikel zu lesen, die über die Internet-Ausgabe ihrer Zeitung Haaretz in der ganzen Welt verbreitet werden und auch in Deutschland viele Leser gefunden haben. Glücklich ist sie über ihren internationalen Ruhm jedoch nicht, denn sie schreibt in erster Linie für ihre Landsleute, für die Israelis.

    Das einzige, was ich dazu sagen kann, ist, dass das sehr ärgerlich ist. Es ärgert mich, dass man dort, wo man meine Artikel lesen sollte, es nicht tut. Was im Ausland geschieht, das ist eine Nebenwirkung, mit der ich nichts zu tun habe. Aber hier werde ich nicht gelesen. Aber selbst wenn man mich lesen würde, ich glaube, es würde gar nichts ändern.

    Amira Hass. Gaza. Tage und Nächte in einem besetzten Land. Der Band ist im Verlag C.H. Beck München erschienen. 410 Seiten - 24 Euro 90.