Sabine Adler: Deutschland wird gerade durch die so genannte Visa-Affäre erschüttert. Der Vorwurf lautet, dass durch die laxe Visavergabe Menschenhändlern und Schleusern die Arbeit erleichtert wurde, Zwangsprostituierte und Schwarzarbeiter, vor allem aus Osteuropa, vermehrt nach Deutschland gebracht wurden. Frau Lochbihler, hat - so zumindest ja die Anklage der Opposition - Rot-Grün derartigen Menschenrechtsverletzungen Vorschub geleistet?
Barbara Lochbihler: Also, wir haben von Amnesty gar keine Erkenntnisse dazu, und was ich lese, kann man das wohl auch nicht so direkt zuordnen. Deshalb arbeiten wir schon gegen Zwangsprostitution, aber den direkten Zusammenhang können wir nicht herstellen. Als Menschenrechtsorganisation würde ich das Beispiel nehmen von Menschenrechtsverteidigern, die oft sehr gefährdet sind. Und da werden wir vorstellig bei der Bundesregierung, hier schnell Visa zu vergeben, dass die Personen unter Umständen aus einer aktuellen Gefahr aus einem Land, wie zum Beispiel jetzt in Togo, herauskommen in ein Nachbarland oder auch in die Bundesrepublik. Und hier ist es uns wichtig, dass es eine menschenrechtsfreundliche Visahandhabe gibt, die sich orientiert an den Bedürfnissen des einzelnen Menschen. Was wir natürlich fordern, ist - dass, wenn Frauen eine Aussage machen, zum Beispiel wer sie hier hergebracht hat und das zur Anzeige bringen, dass sie nicht doppelt bestraft werden, sondern dass man im Einzelfall schaut, dass die Personen dann geschützt werden und nicht in ihr Land zurückgeschickt werden und dann vielleicht erneut Opfer sind von Menschenhändlern.
Adler: Die rot-grüne Bundesregierung hat sich ja bemüht um ein weltoffenes Deutschland und wird nun dafür gescholten im Zusammenhang - unter anderem - mit der Visa-Affäre. Die Reihe von so genannten 'Ehrenmorden' an muslimischen Migrantinnen - zehn seit Sommer 2004 allein in Deutschland, und das ist nur eine offizielle Zahl, wir kennen nicht die Dunkelziffer, die möglicherweise ja vielleicht noch höher ist. Allein zehn dieser Morde haben uns vor Augen geführt, dass mitten in unserer Gesellschaft Menschenrechte mit Füßen getreten werden. Und man stellt jetzt, gerade nach dem spektakulären Mord von Berlin, fest, dass es ein ganz böses Erwachen gibt. Kann man sagen, dass die Politik von 'Multikulti' falsch war? Haben wir uns in Deutschland was vorgemacht?
Lochbihler: Also, Menschenrechte sind universell gültig, in allen Kulturen. Das ist nicht jetzt einer Kultur innewohnend. Es ist wichtig in Bezug auf diese Ehrenmorde, dass die Personengruppen, die davon betroffen sind, das sehr ernst nehmen und diskutieren, also auch eben die Migrantengruppen wie auch die deutsche Gesellschaft. Dieses Thema 'Ehrenmorde' in der Öffentlichkeit zu diskutieren, ist noch nicht sehr alt. Amnesty hat 1998 das erste Mal einen Bericht vorgestellt zu Ehrenmorden in Pakistan. Der hat innerhalb von einem Jahr ergeben, dass über 800 Frauen und Mädchen getötet wurden. Und das war nur eine Momentaufnahme einer Untersuchung von zwei Monaten. Wenn die Debatte jetzt zu uns nach Deutschland kommt, kann man nicht gleich den Rückschluss ziehen, dass 'Multikulti' nicht funktioniert, sondern man muss genau hinschauen, was in den Migranten-Communities vorkommt. Und da weiß ich zum Beispiel von meiner Kollegin in England, dass auch dort Migranten, die aus Bangladesch kommen oder aus Pakistan, durchaus auch diese Probleme haben, dass verschiedene Personen umgebracht werden, dass man nicht sofort erkennt, dass es sich um Ehrenmorde handelt - und dass es wichtig ist, die Debatte darüber zu führen. Aber die Debatte muss nicht nur geführt werden über Multikulti, sondern welche Strukturen und welches Menschenbild dort vorherrscht. Ich würde sagen, das sind einfach patriachalische Strukturen, die hier mitgebracht werden, die aber zum Teil auch hier schon bestehen. Und darüber muss man sprechen.
Adler: Muss man möglicherweise auch darüber sprechen, dass eben zum Beispiel die gutgemeinte Absicht von deutschen Richtern, solche Morde nicht so streng zu bestrafen, wie man gemeinhin Morde in Deutschland bestraft, also das Strafmaß absichtlich vor dem Hintergrund einer anderen Kultur, einer anderen Tradition, das Strafmaß zu senken, dass das nun wirklich exakt den Bestrebungen zuwider läuft, dass so etwas nicht geduldet werden darf?
Lochbihler: Also generell ist es so, wenn man Straflosigkeit zulässt oder nur ein geringes Strafmaß ausspricht, das befördert solche Taten. Das lädt zur Nachahmung ein und es bestätigt eigentlich den Täter darin, dass, was er getan hat, nicht wirklich so schlimm ist. Deshalb setzt auch die Arbeit der Kurdinnen zum Beispiel in der Türkei genau da an. Und sie haben selbst dort, wo es ja noch viel schwieriger ist, dagegen anzugehen als hier, in Deutschland gute Erfolge damit erzielt, dass man Aufklärungsarbeit macht mit den Strafverfolgungsbehörden und natürlich auch mit den Regierungen. Weil - sonst impliziert das, dass man etwas toleriert, nur weil die Täter jetzt nicht staatlicherseits sind oder keine politische Motivation dahinter steckt. Und dieses Benennen, dass Menschenrechtsverletzungen eben auch von Privaten ausgehen können, das ist ganz entscheidend, um eben auch mit solchen Ehrenmorden adäquat umzugehen, dass es Menschenrechtsverletzungen sind und nicht etwas, was in der Kultur innewohnt und nicht geändert werden kann.
Adler: Wenn wir uns doch einmal anschauen, dass es überhaupt Richter gibt, die glauben, dass ein milderes Strafmaß da angemessen ist: Ist das nicht in der Tat eine falsch verstandene Nachsichtigkeit?
Lochbihler: Ich würde sagen 'ja'. Also da ist es wichtig, auch nochmal den Menschenrechtsansatz herauszukehren, dass also eine Menschenrechtsverletzung niemals relativiert werden kann mit einer schlechten Tradition in einer bestimmten Kultur. Diese Debatte hatten wir vor 15 Jahren, als diskutiert wurde, ob die Genitalverstümmlung in Afrika nicht etwas ist, was der Kultur innewohnt. Und damals sind wir sehr oft auch von progressiven Leuten kritisiert worden, das wäre - in Anführungszeichen - "Kulturimperalismus", wenn wir das tun würden als Europäerinnen. Mittlerweile sehen wir aber, dass es Zeitspannen gibt, wo es manchmal gut ist, wenn ausländische Frauen so ein Thema aufgreifen, dass es aber nur zu Veränderungen kommt, wenn die Frauen, die Betroffenen, dann das selber in die Hand nehmen. Mittlerweile ist es so: Dieses Phänomen gibt es noch, diese Menschenrechtsverletzungen, aber sehr viele Afrikanerinnen haben sich organisiert und so viel erreicht, dass zum Beispiel die Organisation Afrikanischer Staaten jetzt selber offiziell sagt, dass das eine schlechte afrikanische Tradition ist. Und man darf auch nicht vergessen, dass Kultur nicht statisch ist. Und wenn jetzt die Frauen hier in Migranten-Communities das thematisieren, das halte ich für ganz wichtig. Sie brauchen aber natürlich von der deutschen Gesellschaft - Zivilgesellschaft, Regierung, aber auch Richtern - die Unterstützung, dass sie da auf dem richtigen Weg sind und dass sie sich das nicht gefallen lassen.
Adler: Müssen wir uns als Gesellschaft - als deutsche Gesellschaft - den Vorwurf gefallen lassen, dass wir diese Frauen, die Ausländerinnen, die eben von solchen Ehrenmorden zum Beispiel bedroht waren, im Stich gelassen haben?
Lochbihler: Ich denke, wir müssen uns noch aktiver für deren Schutz und Unterstützung einsetzen. Wenn ich zum Beispiel höre, dass Gelder gekürzt werden für Einrichtungen, Schutzeinrichtungen für geschlagene Frauen, oder dass es Beratungsstellen gibt, die kürzen müssen, weil sie keine adäquate Übersetzungsmöglichkeiten haben, also dass man den Frauen, die hierher kommen und dieses System noch nicht genau kennen, dass man ihnen Unterstützung vorenthält, weil gestrichen wird, das ist wichtig. Und ich denke, wir müssten uns auch noch viel mehr Kontakt suchen und zuhören, wie sie ihre Lebensrealität hier erfahren - die negativ ist, die aber auch positiv sein kann.
Adler: Wenn wir uns daran erinnern: Noch vor ein paar Jahren galt ja schon als fast rassistisch derjenige, der gefordert hat, dass Ausländer, die hier leben, deutsch lernen sollen. Heute hat sich das ein bisschen gewandelt. Ist das gut, dass wir da in der Diskussion weitergekommen sind?
Lochbihler: Also ich glaube, es ist sehr wichtig, wenn man als aktiver Mensch in einer Gesellschaft leben will, dass man die Sprache beherrscht. Das ist wichtig. Ich denke, diejenigen, die das jetzt so fordern, sollten sich auch überlegen, wie schwer man das oft den Ausländern oder den nicht Deutschen macht, hier überhaupt einen Sprachkurs zu bekommen oder integriert zu werden.
Adler: Barbara Lochbihler, Generalsekretärin von Amnesty International in Deutschland - Frau Lochbihler, ich würde Sie gern nochmal fragen, zurück zu den Ehrenmorden. Was können wir in der deutschen Gesellschaft, was können Politiker tun, was können auch engagiert Bürger, Zivilisten tun, um so etwas zu verhindern, was in Berlin Anfang Februar geschehen ist, nämlich der Mord an einer 23jährigen Türkin. Was können wir tun
Lochbihler: Nun, also wenn Sie das erfahren in ihrem Umfeld, dann denke ich, sind alle Schutzeinrichtungen anzubieten, die es gibt. Angefangen von Frauenhäusern oder eben auch Personen, die Person wegzubringen von der aktuellen Bedrohung. Ich denke, wir müssen aber aufgeklärt darüber diskutieren, wie es dazu kommt. Also man darf es nicht hinnehmen, was wir ja auch angesprochen haben, dass hier die Täter mit Milde rechnen können, weil man sich auf die Kultur besinnt. Und wir sollten unterstützen, dass die Migranten-Communities, die Frauen und Männer gemeinsam diese Debatte aufnehmen. Die deutsche Bevölkerung debattiert entweder gemeinsam, aber auch die Migranten untereinander, dass es etwas ist, was eine schlechte Tradition ist und keine gute.
Adler: Wenn Deutschland im Zusammenhang mit Menschenrechtsverletzungen in Statistiken oder zum Beispiel im Jahresbericht auch von Amnesty International auftaucht, dann vor allem wegen Folter, zum Beispiel Folter von Festgenommenen auf Polizeiwachen, in Gefängnissen oder zum Beispiel in Abschiebe-Haftanstalten. Nun hat der Bundestag die Bundesregierung aufgefordert, das Zusatzprotokoll zur UN-Antifolterkonvention zu ratifizieren. Wird damit Folter zumindest in staatlichen beziehungsweise in gesellschaftlichen Einrichtungen genügend vorgebeugt?
Lochbihler: Also wir von Amnesty haben wiederholt diskutiert und dokumentiert, dass es Misshandlungen und unmenschliche Behandlung durch exessive Polizeigewalt in Deutschland gibt. Das ist noch nicht gleichzusetzen mit Folter. Das haben wir in der Vergangenheit punktuell dokumentiert, wir sagen aber nicht, dass das hier weit verbreitet ist. Wir hatten im letzten Jahr - und haben auch eine Debatte in Deutschland, ob unter gewissen Umständen Folter wieder zulässig sein sollte, unter anderem, wenn es zum Beispiel um einen sogenannten oder vermeintlichen Terroristen ginge, dem man ein Geständnis durch die Folter abringen könnte. Das halten wir für eine sehr gefährliche Diskussion, weil Folter unter allen Umständen immer verboten ist, auch im Krieg, im Bürgerkrieg. Und da gibt es zahlreiche Erfahrungen dazu, dass es auch so bleiben soll. Deutschland hat sich international immer für eine konsequente Anti-Folter-Politik eingesetzt und ausgesprochen. So ist auch auf internationaler Ebene dieses Zusatzprotokoll zur Anti-Folter-Konvention entstanden. Und als es jetzt zur Ratifizierung an die Länder gegeben wurde, haben wir festgestellt, dass es in Deutschland keine große Bereitschaft gab, ja sogar aktiven Widerstand oft von Seiten der Bundesländer, dieses Zusatzprotokoll zu ratifizieren, weil anscheinend "die Kontrolldichte in Deutschland schon so hoch ist". Dieses Zusatzprotokoll, vielleicht mal zusammengefasst, besagt, dass jederzeit unangemeldet internationale Personen, die ein gewisses Fachwissen dazu haben, in Einrichtungen in Deutschland Zugang finden, in denen Personen sitzen, die ihrer Freiheit beraubt sind. Also Gefängnisse, Strafanstalten, auch Polizeihaftanstalten, aber auch Psychiatrien, Altenheime. Und wir hatten intensive Diskussionen im letzten Jahr, warum das wichtig ist. Das hat nicht nur die Bedeutung, etwas aufzuklären, was geschehen ist, sondern auch präventiv zu wirken, weil man ja jederzeit damit rechnen muss. Und da behaupten wir nicht, dass wir das vermuten, dass das weit verbreitet ist in Deutschland. Aber trotzdem muss man Prävention ernst nehmen. Und es gab ja auch in der Vergangenheit durchaus Berichte von so einem europäischen Anti-Folter-Gremium und -Ausschuss, die schon gesehen haben, dass in einzelnen Abschiebeanstalten in Deutschland es da nicht zum Besten steht. Und jetzt sagt die Regierung, man könnte jetzt ratifizieren. Das finden wir zum einen begrüßenswert. Aber wir sehen jetzt konkret, dass in der Umsetzung, was ist mit dieser Ratifizierung verbunden, nämlich einen nationalen Präventions- und Koordinationsmechanismus einzurichten, dass die Pläne, wie dieser ausgestaltet werden soll, völlig ungenügend sind. Also das ist jetzt noch nicht schriftlich, aber was gedacht wird, ist, dass es vielleicht vier Personen gibt, die ehrenamtlich das tun und die dann eine hauptamtliche Person als Unterstützung haben, die die Hunderten von Einrichtungen in Deutschland dann präventiv besuchen sollen. Und das finden wir schon einen Bruch einer konsequenten Anti-Folter-Politik, wenn man im eigenen Land so lasch damit umgeht. Wenn wir denken, international kritisiert Deutschland zu Recht, dass in China Folter und Misshandlungen weit verbreitet sind. Und wenn wir jetzt selber im eigenen Land so mit dieser Ratifizierung umgehen, was hat das denn für eine Signalwirkung auch nach außen?
Adler: Folter im irakischen Gefängnis in Abu Ghraib oder auch im Internierungslager auf Guantanamo haben dem internationalen Ansehen der USA enorm geschadet. Dennoch scheint die Regierung in Washington resistent zu sein gegen alle Forderungen, die Genfer Konventionen gegenüber Kriegsgefangenen einzuhalten. Der amerikanische Präsident George Bush war nun ja erst kürzlich in Deutschland. Man sprach schon, wie bei seiner Außenministerin Rice zuvor, von einer regelrechten Charme-Offensive des Weißen Hauses. Frau Lochbihler, haben Sie als Generalsekretärin von Amnesty International Deutschland die Hoffnung, dass sich Washington in dieser Hinsicht tatsächlich bewegen könnte, sogar eventuell dem Internationalen Strafgerichtshof endlich nicht mehr weiter seine Existenzberechtigung abspricht?
Lochbihler: Ja, also es hat nicht nur diese Haltung dem Ansehen der US-Regierung geschadet, vor allem sehen wir seit mehreren Jahren, dass es in der ganzen Welt durch dieses schlechte Vorbild zu einer enormen Verschlechterung der Menschenrechtssituation geführt hat, dass sehr viele Staaten eben jetzt die USA zitieren, um ihre eigenen Menschenrechtsverletzungen zu rechtfertigen, und das hat mit einem erhöhten Sicherheitsbedürfnis zu tun. Also, das ist ein sehr ernst zu nehmendes Problem, und da haben wir nicht direkt große Hoffnungen, dass sich das schnell ändern wird, auch mit der jetzigen Regierung nicht. Wir haben zum Beispiel vor kurzem erst die Verlautbarung gehört, dass der Verteidigungsminister Rumsfeld gesagt hat, er braucht mehr Geld, um Guantanamo auszubauen. Wir hören und sehen ganz deutlich, dass sich die USA dem Vorschlag der UN und der Hochkommissarin für Menschenrechte widersetzt, die Kriegsverbrechen und die Menschenrechtsverletzungen im Sudan an den Internationalen Strafgerichtshof zu überweisen. Auch das wäre ein gutes Zeichen, so ein Instrument zu nutzen. Denn die USA hat ja in ihrer Analyse und Bewertung der Menschenrechtsverletzungen selber gesagt, dass es dort schwerste Menschenrechtsverletzungen gibt und der Internationale Strafgerichtshof ist genau dafür eingerichtet, wenn nämlich die Regierung in diesem Land nicht willens und nicht fähig ist, das selber zu tun. Wir sehen auch, dass die Forderung von uns und auch von internationalen Gremien in alle Haftzentren, die die USA unterhält, wie im Irak, aber auch in Diego Garcia oder in Afghanistan, hier unabhängige internationale Experten zuzulassen um das zu bewerten, was dort vorkommt, dass überhaupt nicht darauf reagiert wird, eine Forderung, die wir jetzt wieder an die USA stellen im Rahmen der UN-Menschenrechtskommission, die diesen Monat noch in Genf anfängt. Also, wir sehen keine konkreten Schritte. Natürlich würden wir es uns wünschen. Und meine Kollegen in den USA werden natürlich vorstellig bei der US-Regierung. Aber der erklärte Kampf gegen den Terrorismus, der wird auch in den USA und auch weltweit ebenso stark geführt und thematisiert, dass Menschenrechtsverletzungen im Zusammenhang damit auch in Kauf genommen werden. Ich erinnere noch mal an das letzte Jahr, an die wirklich schlimmen Bilder, die die Weltöffentlichkeit ja bewegt haben zu den Folterungen in Abu Ghraib. Das hat nicht dazu geführt, dass die USA offiziell auch wieder von der Führungsebene zurück genommen haben, dass sie nicht mehr an der international gültigen Folterdefinition festhalten. Sie sind aufgefordert worden von der UN, darzulegen, welche Verhörtechniken sie anwenden, um es messen zu können. Auch dem sind sie nicht nachgekommen. Also, es wäre wünschenswert und absolut erforderlich eigentlich, dass die USA mit konkreten Schritten, in konkreten menschenrechtspolitischen Schritten hier zeigen, dass sie den Anti-Terror-Kampf nicht um jeden Preis führen, und vor allem nicht um den Preis, hier Menschenrechte so eklatant zu verletzen.
Adler: Ist die Abschaffung der Todesstrafe in dieser Woche für minderjährige Amerikaner nicht aber ein positives Zeichen, dass sich möglicherweise doch etwas in die richtige Richtung entwickelt?
Lochbihler: Also das ist ein sehr positiver Schritt. Aber die Abschaffung der Todesstrafe ist ja jetzt nicht im Zusammenhang zu sehen mit dem weltweit geführten Anti-Terror-Kampf. Es wird ja auch darüber diskutiert, in Guantanamo Hinrichtungszellen und Hinrichtungsmöglichkeiten einzurichten. Aber unabhängig davon ist es gerade für die US-Gesellschaft sehr wichtig, dass es hier zu einer Eingrenzung der Todesstrafe und der Vollstreckung der Todesstrafe gekommen ist. Wir fordern das ja schon seit langem, dass zum Beispiel auch geistig Behinderte nicht hingerichtet werden dürfen. Und die USA ist auch hier eben sehr wichtig in der Meinungsführungsschaft weltweit, dass sie das eingegrenzt haben.
Adler: Am Ende des Bush-Besuchs in Europa stand eine Begegnung mit dem russischen Präsidenten Putin, mit dem unser Bundeskanzler Gerhard Schröder ja eng befreundet ist und mit dem er im Dezember vorigen Jahres eine Vereinbarung getroffen hat, nämlich dass Russland internationale Hilfe bei der Lösung des Tschetschenienkonfliktes annimmt, sowohl deutsche Hilfe als auch europäische Hilfe. Das ist auch vor dem Hintergrund, dass dieser Konflikt vor allem mit Terror ausgetragen wird - Terror gegen die tschetschenische Zivilbevölkerung beziehungsweise Terror von tschetschenischer Seite gegen die russische Zivilbevölkerung. Haben Sie den Eindruck, dass das der richtige Schritt ist, den Deutschland unternimmt?
Lochbihler: Wir stellen nicht in Abrede, dass es im Tschetschenienkonflikt auch zu Terrorakten kommt durch bestimmte Rebellengruppen. Aber wenn die deutsche Regierung sich mit der russischen Regierung zusammensetzt und einen Dialog pflegt zur Lösung des Konflikts in Tschetschenien, dann muss auch angesprochen werden, dass die russische Regierung hier eine Verantwortung hat für die Menschenrechtsverletzungen, die von ihrer eigenen Armee begangen werden oder von den sogenannten russischgetreuen Verantwortlichen in Tschetschenien selber. Und da kann man schon deutlich auch reden, da es ja ein gutes Verhältnis gibt zwischen der deutschen Regierung und der russischen, das konkret anzusprechen. Wenn nämlich die Zivilgesellschaft dort nicht geschützt wird vor diesen Übergriffen, dient es nicht dazu, Vertrauen in die russische Regierung zu entwickeln, die man ja braucht, um eine politische Lösung zu finden. Insofern muss eigentlich öffentlich und auch in diplomatischen, vertraulichen Gesprächen dieses Thema angesprochen werden. Wir sehen auch hier in einzelnen Ansätzen Fortschritte. Es gab ja jetzt diese Woche oder letzte Woche die Entscheidungen des europäischen Menschenrechtsgerichtshofs, die nachweisen konnten, dass die russische Regierung eine Verantwortung hat für die Tötung von Zivilisten und dass sie auch dafür gerade zu stehen hat. Und solche Bestrebungen oder Entwicklungen kann man unterstützen, wenn man die guten Beziehungen nutzt zwischen Deutschland und Russland. Und man sollte das nicht verheimlichen.
Adler: Wir haben das Thema China schon mehrfach gestreift in unserem Gespräch, Barbara Lochbihler, Generalsekretärin von Amnesty International Deutschland. Deutschland setzt sich für die Aufhebung des Waffenembargos gegen China ein. Teilen Sie die Auffassung, dass die Bundesregierung damit das Bemühen um die Verbesserung der Menschenrechtssituation in China konterkariert?
Lochbihler: Also, es ist sicher das falsche Signal an die chinesische Regierung, wenn man sagen würde, das Embargo wird jetzt aufgehoben weil sich die Menschenrechtssituation verbessert hat. Leider können wir das überhaupt nicht sehen. Zum Beispiel bei der Verhängung der Todesstrafe. Hier sind die Straftatbestände ausgeweitet worden. Folter und Misshandlungen sind weit verbreitet. Wir können also kein Signal sehen, was die chinesische Regierung gibt an konkreten Verbesserungen. Was wir aber hören ist, dass jetzt im Zuge der Verhandlungen für so eine Auflösung des Embargos eben verhandelt wird mit der chinesischen Regierung, dass es Fortschritte gibt insoweit, dass zum Beispiel der UN-Pakt für zivile und bürgerliche Rechte dann vielleicht signiert werden könnte. Deshalb ist es wichtig, dass die deutsche Regierung jetzt nicht einfach die Aufhebung dieses Waffenembargos fordert, sondern dass sie konkret von der chinesischen Regierung Verbesserungen im Menschenrechtsschutz einfordert. Sonst ist das einfach wirklich das ganz falsche Signal. Und Menschenrechtsverteidiger aus China und Menschenrechtsverteidigerinnen dort gehen ja auch an die Öffentlichkeit und sagen, es darf nicht dazu kommen, ohne konkrete Zugeständnisse zu bekommen.
Adler: Kommen wir noch einmal zum Schluss unseres Gespräches zurück nach Deutschland. In Deutschland wird gerade ein Antidiskriminierungsgesetz vorbereitet, das eben Menschen schützen soll vor Herabsetzung beziehungsweise vor ungerechter Behandlung aufgrund der Rasse, der ethnischen Herkunft, der Religion, der sexuellen Ausrichtung und so weiter. Was befürchtet wird, ist, dass dieses Gesetz wohl in seinem Anliegen sehr ehrenwert ist, aber eine Masse von bürokratischen Hürden und Problemen mit sich bringt. Haben Sie das Gefühl, dass, wenn man Menschenrechte einhalten möchte, wenn man Menschenrechtsverletzungen verhindern möchte, dass ein solches Gesetzeswerk der richtige Weg dafür ist?
Lochbihler: Es ist ein Weg. Und wir sehen ja auch in anderen Gesellschaften, dass das nicht so katastrophale Folgen hat, wie jetzt hier diskutiert wird, dass dann von arbeitsrechtlicher Seite das alles nicht umzusetzen wäre und so weiter. Ich denke, man muss sich ernsthaft damit auseinandersetzen, denn es gibt sehr viel Diskriminierung und Rassismus auch in unserer Gesellschaft. Es muss nicht immer gleich dazu führen, dass es zu Gewalttaten kommt gegen Personen, die keine weiße Hautfarbe haben. Es ist viel subtiler. Deshalb müssen wir auch in unserer Menschenrechtbildungsarbeit darüber reden. Und wenn ich jetzt an meine eigenen Erfahrungen hier in Deutschland denke, dann wird über Menschenrechte schon geredet oder Menschenrechte werden verstanden, wenn es sich um Verhältnisse in anderen Ländern handelt. Aber auf die eigene Gesellschaft bezogen möchte man das Wort schon gar nicht verwenden weil man sagt: Nein, nein, bei uns ist das doch nicht. Man misst sich also immer mit Situationen, die noch viel schlimmer sind. Und da finde ich, ist die Debatte um das Antidiskriminierungsgesetz eine sehr wichtige in Deutschland für die Regierungsseite, aber auch für die Zivilgesellschaft.
Barbara Lochbihler: Also, wir haben von Amnesty gar keine Erkenntnisse dazu, und was ich lese, kann man das wohl auch nicht so direkt zuordnen. Deshalb arbeiten wir schon gegen Zwangsprostitution, aber den direkten Zusammenhang können wir nicht herstellen. Als Menschenrechtsorganisation würde ich das Beispiel nehmen von Menschenrechtsverteidigern, die oft sehr gefährdet sind. Und da werden wir vorstellig bei der Bundesregierung, hier schnell Visa zu vergeben, dass die Personen unter Umständen aus einer aktuellen Gefahr aus einem Land, wie zum Beispiel jetzt in Togo, herauskommen in ein Nachbarland oder auch in die Bundesrepublik. Und hier ist es uns wichtig, dass es eine menschenrechtsfreundliche Visahandhabe gibt, die sich orientiert an den Bedürfnissen des einzelnen Menschen. Was wir natürlich fordern, ist - dass, wenn Frauen eine Aussage machen, zum Beispiel wer sie hier hergebracht hat und das zur Anzeige bringen, dass sie nicht doppelt bestraft werden, sondern dass man im Einzelfall schaut, dass die Personen dann geschützt werden und nicht in ihr Land zurückgeschickt werden und dann vielleicht erneut Opfer sind von Menschenhändlern.
Adler: Die rot-grüne Bundesregierung hat sich ja bemüht um ein weltoffenes Deutschland und wird nun dafür gescholten im Zusammenhang - unter anderem - mit der Visa-Affäre. Die Reihe von so genannten 'Ehrenmorden' an muslimischen Migrantinnen - zehn seit Sommer 2004 allein in Deutschland, und das ist nur eine offizielle Zahl, wir kennen nicht die Dunkelziffer, die möglicherweise ja vielleicht noch höher ist. Allein zehn dieser Morde haben uns vor Augen geführt, dass mitten in unserer Gesellschaft Menschenrechte mit Füßen getreten werden. Und man stellt jetzt, gerade nach dem spektakulären Mord von Berlin, fest, dass es ein ganz böses Erwachen gibt. Kann man sagen, dass die Politik von 'Multikulti' falsch war? Haben wir uns in Deutschland was vorgemacht?
Lochbihler: Also, Menschenrechte sind universell gültig, in allen Kulturen. Das ist nicht jetzt einer Kultur innewohnend. Es ist wichtig in Bezug auf diese Ehrenmorde, dass die Personengruppen, die davon betroffen sind, das sehr ernst nehmen und diskutieren, also auch eben die Migrantengruppen wie auch die deutsche Gesellschaft. Dieses Thema 'Ehrenmorde' in der Öffentlichkeit zu diskutieren, ist noch nicht sehr alt. Amnesty hat 1998 das erste Mal einen Bericht vorgestellt zu Ehrenmorden in Pakistan. Der hat innerhalb von einem Jahr ergeben, dass über 800 Frauen und Mädchen getötet wurden. Und das war nur eine Momentaufnahme einer Untersuchung von zwei Monaten. Wenn die Debatte jetzt zu uns nach Deutschland kommt, kann man nicht gleich den Rückschluss ziehen, dass 'Multikulti' nicht funktioniert, sondern man muss genau hinschauen, was in den Migranten-Communities vorkommt. Und da weiß ich zum Beispiel von meiner Kollegin in England, dass auch dort Migranten, die aus Bangladesch kommen oder aus Pakistan, durchaus auch diese Probleme haben, dass verschiedene Personen umgebracht werden, dass man nicht sofort erkennt, dass es sich um Ehrenmorde handelt - und dass es wichtig ist, die Debatte darüber zu führen. Aber die Debatte muss nicht nur geführt werden über Multikulti, sondern welche Strukturen und welches Menschenbild dort vorherrscht. Ich würde sagen, das sind einfach patriachalische Strukturen, die hier mitgebracht werden, die aber zum Teil auch hier schon bestehen. Und darüber muss man sprechen.
Adler: Muss man möglicherweise auch darüber sprechen, dass eben zum Beispiel die gutgemeinte Absicht von deutschen Richtern, solche Morde nicht so streng zu bestrafen, wie man gemeinhin Morde in Deutschland bestraft, also das Strafmaß absichtlich vor dem Hintergrund einer anderen Kultur, einer anderen Tradition, das Strafmaß zu senken, dass das nun wirklich exakt den Bestrebungen zuwider läuft, dass so etwas nicht geduldet werden darf?
Lochbihler: Also generell ist es so, wenn man Straflosigkeit zulässt oder nur ein geringes Strafmaß ausspricht, das befördert solche Taten. Das lädt zur Nachahmung ein und es bestätigt eigentlich den Täter darin, dass, was er getan hat, nicht wirklich so schlimm ist. Deshalb setzt auch die Arbeit der Kurdinnen zum Beispiel in der Türkei genau da an. Und sie haben selbst dort, wo es ja noch viel schwieriger ist, dagegen anzugehen als hier, in Deutschland gute Erfolge damit erzielt, dass man Aufklärungsarbeit macht mit den Strafverfolgungsbehörden und natürlich auch mit den Regierungen. Weil - sonst impliziert das, dass man etwas toleriert, nur weil die Täter jetzt nicht staatlicherseits sind oder keine politische Motivation dahinter steckt. Und dieses Benennen, dass Menschenrechtsverletzungen eben auch von Privaten ausgehen können, das ist ganz entscheidend, um eben auch mit solchen Ehrenmorden adäquat umzugehen, dass es Menschenrechtsverletzungen sind und nicht etwas, was in der Kultur innewohnt und nicht geändert werden kann.
Adler: Wenn wir uns doch einmal anschauen, dass es überhaupt Richter gibt, die glauben, dass ein milderes Strafmaß da angemessen ist: Ist das nicht in der Tat eine falsch verstandene Nachsichtigkeit?
Lochbihler: Ich würde sagen 'ja'. Also da ist es wichtig, auch nochmal den Menschenrechtsansatz herauszukehren, dass also eine Menschenrechtsverletzung niemals relativiert werden kann mit einer schlechten Tradition in einer bestimmten Kultur. Diese Debatte hatten wir vor 15 Jahren, als diskutiert wurde, ob die Genitalverstümmlung in Afrika nicht etwas ist, was der Kultur innewohnt. Und damals sind wir sehr oft auch von progressiven Leuten kritisiert worden, das wäre - in Anführungszeichen - "Kulturimperalismus", wenn wir das tun würden als Europäerinnen. Mittlerweile sehen wir aber, dass es Zeitspannen gibt, wo es manchmal gut ist, wenn ausländische Frauen so ein Thema aufgreifen, dass es aber nur zu Veränderungen kommt, wenn die Frauen, die Betroffenen, dann das selber in die Hand nehmen. Mittlerweile ist es so: Dieses Phänomen gibt es noch, diese Menschenrechtsverletzungen, aber sehr viele Afrikanerinnen haben sich organisiert und so viel erreicht, dass zum Beispiel die Organisation Afrikanischer Staaten jetzt selber offiziell sagt, dass das eine schlechte afrikanische Tradition ist. Und man darf auch nicht vergessen, dass Kultur nicht statisch ist. Und wenn jetzt die Frauen hier in Migranten-Communities das thematisieren, das halte ich für ganz wichtig. Sie brauchen aber natürlich von der deutschen Gesellschaft - Zivilgesellschaft, Regierung, aber auch Richtern - die Unterstützung, dass sie da auf dem richtigen Weg sind und dass sie sich das nicht gefallen lassen.
Adler: Müssen wir uns als Gesellschaft - als deutsche Gesellschaft - den Vorwurf gefallen lassen, dass wir diese Frauen, die Ausländerinnen, die eben von solchen Ehrenmorden zum Beispiel bedroht waren, im Stich gelassen haben?
Lochbihler: Ich denke, wir müssen uns noch aktiver für deren Schutz und Unterstützung einsetzen. Wenn ich zum Beispiel höre, dass Gelder gekürzt werden für Einrichtungen, Schutzeinrichtungen für geschlagene Frauen, oder dass es Beratungsstellen gibt, die kürzen müssen, weil sie keine adäquate Übersetzungsmöglichkeiten haben, also dass man den Frauen, die hierher kommen und dieses System noch nicht genau kennen, dass man ihnen Unterstützung vorenthält, weil gestrichen wird, das ist wichtig. Und ich denke, wir müssten uns auch noch viel mehr Kontakt suchen und zuhören, wie sie ihre Lebensrealität hier erfahren - die negativ ist, die aber auch positiv sein kann.
Adler: Wenn wir uns daran erinnern: Noch vor ein paar Jahren galt ja schon als fast rassistisch derjenige, der gefordert hat, dass Ausländer, die hier leben, deutsch lernen sollen. Heute hat sich das ein bisschen gewandelt. Ist das gut, dass wir da in der Diskussion weitergekommen sind?
Lochbihler: Also ich glaube, es ist sehr wichtig, wenn man als aktiver Mensch in einer Gesellschaft leben will, dass man die Sprache beherrscht. Das ist wichtig. Ich denke, diejenigen, die das jetzt so fordern, sollten sich auch überlegen, wie schwer man das oft den Ausländern oder den nicht Deutschen macht, hier überhaupt einen Sprachkurs zu bekommen oder integriert zu werden.
Adler: Barbara Lochbihler, Generalsekretärin von Amnesty International in Deutschland - Frau Lochbihler, ich würde Sie gern nochmal fragen, zurück zu den Ehrenmorden. Was können wir in der deutschen Gesellschaft, was können Politiker tun, was können auch engagiert Bürger, Zivilisten tun, um so etwas zu verhindern, was in Berlin Anfang Februar geschehen ist, nämlich der Mord an einer 23jährigen Türkin. Was können wir tun
Lochbihler: Nun, also wenn Sie das erfahren in ihrem Umfeld, dann denke ich, sind alle Schutzeinrichtungen anzubieten, die es gibt. Angefangen von Frauenhäusern oder eben auch Personen, die Person wegzubringen von der aktuellen Bedrohung. Ich denke, wir müssen aber aufgeklärt darüber diskutieren, wie es dazu kommt. Also man darf es nicht hinnehmen, was wir ja auch angesprochen haben, dass hier die Täter mit Milde rechnen können, weil man sich auf die Kultur besinnt. Und wir sollten unterstützen, dass die Migranten-Communities, die Frauen und Männer gemeinsam diese Debatte aufnehmen. Die deutsche Bevölkerung debattiert entweder gemeinsam, aber auch die Migranten untereinander, dass es etwas ist, was eine schlechte Tradition ist und keine gute.
Adler: Wenn Deutschland im Zusammenhang mit Menschenrechtsverletzungen in Statistiken oder zum Beispiel im Jahresbericht auch von Amnesty International auftaucht, dann vor allem wegen Folter, zum Beispiel Folter von Festgenommenen auf Polizeiwachen, in Gefängnissen oder zum Beispiel in Abschiebe-Haftanstalten. Nun hat der Bundestag die Bundesregierung aufgefordert, das Zusatzprotokoll zur UN-Antifolterkonvention zu ratifizieren. Wird damit Folter zumindest in staatlichen beziehungsweise in gesellschaftlichen Einrichtungen genügend vorgebeugt?
Lochbihler: Also wir von Amnesty haben wiederholt diskutiert und dokumentiert, dass es Misshandlungen und unmenschliche Behandlung durch exessive Polizeigewalt in Deutschland gibt. Das ist noch nicht gleichzusetzen mit Folter. Das haben wir in der Vergangenheit punktuell dokumentiert, wir sagen aber nicht, dass das hier weit verbreitet ist. Wir hatten im letzten Jahr - und haben auch eine Debatte in Deutschland, ob unter gewissen Umständen Folter wieder zulässig sein sollte, unter anderem, wenn es zum Beispiel um einen sogenannten oder vermeintlichen Terroristen ginge, dem man ein Geständnis durch die Folter abringen könnte. Das halten wir für eine sehr gefährliche Diskussion, weil Folter unter allen Umständen immer verboten ist, auch im Krieg, im Bürgerkrieg. Und da gibt es zahlreiche Erfahrungen dazu, dass es auch so bleiben soll. Deutschland hat sich international immer für eine konsequente Anti-Folter-Politik eingesetzt und ausgesprochen. So ist auch auf internationaler Ebene dieses Zusatzprotokoll zur Anti-Folter-Konvention entstanden. Und als es jetzt zur Ratifizierung an die Länder gegeben wurde, haben wir festgestellt, dass es in Deutschland keine große Bereitschaft gab, ja sogar aktiven Widerstand oft von Seiten der Bundesländer, dieses Zusatzprotokoll zu ratifizieren, weil anscheinend "die Kontrolldichte in Deutschland schon so hoch ist". Dieses Zusatzprotokoll, vielleicht mal zusammengefasst, besagt, dass jederzeit unangemeldet internationale Personen, die ein gewisses Fachwissen dazu haben, in Einrichtungen in Deutschland Zugang finden, in denen Personen sitzen, die ihrer Freiheit beraubt sind. Also Gefängnisse, Strafanstalten, auch Polizeihaftanstalten, aber auch Psychiatrien, Altenheime. Und wir hatten intensive Diskussionen im letzten Jahr, warum das wichtig ist. Das hat nicht nur die Bedeutung, etwas aufzuklären, was geschehen ist, sondern auch präventiv zu wirken, weil man ja jederzeit damit rechnen muss. Und da behaupten wir nicht, dass wir das vermuten, dass das weit verbreitet ist in Deutschland. Aber trotzdem muss man Prävention ernst nehmen. Und es gab ja auch in der Vergangenheit durchaus Berichte von so einem europäischen Anti-Folter-Gremium und -Ausschuss, die schon gesehen haben, dass in einzelnen Abschiebeanstalten in Deutschland es da nicht zum Besten steht. Und jetzt sagt die Regierung, man könnte jetzt ratifizieren. Das finden wir zum einen begrüßenswert. Aber wir sehen jetzt konkret, dass in der Umsetzung, was ist mit dieser Ratifizierung verbunden, nämlich einen nationalen Präventions- und Koordinationsmechanismus einzurichten, dass die Pläne, wie dieser ausgestaltet werden soll, völlig ungenügend sind. Also das ist jetzt noch nicht schriftlich, aber was gedacht wird, ist, dass es vielleicht vier Personen gibt, die ehrenamtlich das tun und die dann eine hauptamtliche Person als Unterstützung haben, die die Hunderten von Einrichtungen in Deutschland dann präventiv besuchen sollen. Und das finden wir schon einen Bruch einer konsequenten Anti-Folter-Politik, wenn man im eigenen Land so lasch damit umgeht. Wenn wir denken, international kritisiert Deutschland zu Recht, dass in China Folter und Misshandlungen weit verbreitet sind. Und wenn wir jetzt selber im eigenen Land so mit dieser Ratifizierung umgehen, was hat das denn für eine Signalwirkung auch nach außen?
Adler: Folter im irakischen Gefängnis in Abu Ghraib oder auch im Internierungslager auf Guantanamo haben dem internationalen Ansehen der USA enorm geschadet. Dennoch scheint die Regierung in Washington resistent zu sein gegen alle Forderungen, die Genfer Konventionen gegenüber Kriegsgefangenen einzuhalten. Der amerikanische Präsident George Bush war nun ja erst kürzlich in Deutschland. Man sprach schon, wie bei seiner Außenministerin Rice zuvor, von einer regelrechten Charme-Offensive des Weißen Hauses. Frau Lochbihler, haben Sie als Generalsekretärin von Amnesty International Deutschland die Hoffnung, dass sich Washington in dieser Hinsicht tatsächlich bewegen könnte, sogar eventuell dem Internationalen Strafgerichtshof endlich nicht mehr weiter seine Existenzberechtigung abspricht?
Lochbihler: Ja, also es hat nicht nur diese Haltung dem Ansehen der US-Regierung geschadet, vor allem sehen wir seit mehreren Jahren, dass es in der ganzen Welt durch dieses schlechte Vorbild zu einer enormen Verschlechterung der Menschenrechtssituation geführt hat, dass sehr viele Staaten eben jetzt die USA zitieren, um ihre eigenen Menschenrechtsverletzungen zu rechtfertigen, und das hat mit einem erhöhten Sicherheitsbedürfnis zu tun. Also, das ist ein sehr ernst zu nehmendes Problem, und da haben wir nicht direkt große Hoffnungen, dass sich das schnell ändern wird, auch mit der jetzigen Regierung nicht. Wir haben zum Beispiel vor kurzem erst die Verlautbarung gehört, dass der Verteidigungsminister Rumsfeld gesagt hat, er braucht mehr Geld, um Guantanamo auszubauen. Wir hören und sehen ganz deutlich, dass sich die USA dem Vorschlag der UN und der Hochkommissarin für Menschenrechte widersetzt, die Kriegsverbrechen und die Menschenrechtsverletzungen im Sudan an den Internationalen Strafgerichtshof zu überweisen. Auch das wäre ein gutes Zeichen, so ein Instrument zu nutzen. Denn die USA hat ja in ihrer Analyse und Bewertung der Menschenrechtsverletzungen selber gesagt, dass es dort schwerste Menschenrechtsverletzungen gibt und der Internationale Strafgerichtshof ist genau dafür eingerichtet, wenn nämlich die Regierung in diesem Land nicht willens und nicht fähig ist, das selber zu tun. Wir sehen auch, dass die Forderung von uns und auch von internationalen Gremien in alle Haftzentren, die die USA unterhält, wie im Irak, aber auch in Diego Garcia oder in Afghanistan, hier unabhängige internationale Experten zuzulassen um das zu bewerten, was dort vorkommt, dass überhaupt nicht darauf reagiert wird, eine Forderung, die wir jetzt wieder an die USA stellen im Rahmen der UN-Menschenrechtskommission, die diesen Monat noch in Genf anfängt. Also, wir sehen keine konkreten Schritte. Natürlich würden wir es uns wünschen. Und meine Kollegen in den USA werden natürlich vorstellig bei der US-Regierung. Aber der erklärte Kampf gegen den Terrorismus, der wird auch in den USA und auch weltweit ebenso stark geführt und thematisiert, dass Menschenrechtsverletzungen im Zusammenhang damit auch in Kauf genommen werden. Ich erinnere noch mal an das letzte Jahr, an die wirklich schlimmen Bilder, die die Weltöffentlichkeit ja bewegt haben zu den Folterungen in Abu Ghraib. Das hat nicht dazu geführt, dass die USA offiziell auch wieder von der Führungsebene zurück genommen haben, dass sie nicht mehr an der international gültigen Folterdefinition festhalten. Sie sind aufgefordert worden von der UN, darzulegen, welche Verhörtechniken sie anwenden, um es messen zu können. Auch dem sind sie nicht nachgekommen. Also, es wäre wünschenswert und absolut erforderlich eigentlich, dass die USA mit konkreten Schritten, in konkreten menschenrechtspolitischen Schritten hier zeigen, dass sie den Anti-Terror-Kampf nicht um jeden Preis führen, und vor allem nicht um den Preis, hier Menschenrechte so eklatant zu verletzen.
Adler: Ist die Abschaffung der Todesstrafe in dieser Woche für minderjährige Amerikaner nicht aber ein positives Zeichen, dass sich möglicherweise doch etwas in die richtige Richtung entwickelt?
Lochbihler: Also das ist ein sehr positiver Schritt. Aber die Abschaffung der Todesstrafe ist ja jetzt nicht im Zusammenhang zu sehen mit dem weltweit geführten Anti-Terror-Kampf. Es wird ja auch darüber diskutiert, in Guantanamo Hinrichtungszellen und Hinrichtungsmöglichkeiten einzurichten. Aber unabhängig davon ist es gerade für die US-Gesellschaft sehr wichtig, dass es hier zu einer Eingrenzung der Todesstrafe und der Vollstreckung der Todesstrafe gekommen ist. Wir fordern das ja schon seit langem, dass zum Beispiel auch geistig Behinderte nicht hingerichtet werden dürfen. Und die USA ist auch hier eben sehr wichtig in der Meinungsführungsschaft weltweit, dass sie das eingegrenzt haben.
Adler: Am Ende des Bush-Besuchs in Europa stand eine Begegnung mit dem russischen Präsidenten Putin, mit dem unser Bundeskanzler Gerhard Schröder ja eng befreundet ist und mit dem er im Dezember vorigen Jahres eine Vereinbarung getroffen hat, nämlich dass Russland internationale Hilfe bei der Lösung des Tschetschenienkonfliktes annimmt, sowohl deutsche Hilfe als auch europäische Hilfe. Das ist auch vor dem Hintergrund, dass dieser Konflikt vor allem mit Terror ausgetragen wird - Terror gegen die tschetschenische Zivilbevölkerung beziehungsweise Terror von tschetschenischer Seite gegen die russische Zivilbevölkerung. Haben Sie den Eindruck, dass das der richtige Schritt ist, den Deutschland unternimmt?
Lochbihler: Wir stellen nicht in Abrede, dass es im Tschetschenienkonflikt auch zu Terrorakten kommt durch bestimmte Rebellengruppen. Aber wenn die deutsche Regierung sich mit der russischen Regierung zusammensetzt und einen Dialog pflegt zur Lösung des Konflikts in Tschetschenien, dann muss auch angesprochen werden, dass die russische Regierung hier eine Verantwortung hat für die Menschenrechtsverletzungen, die von ihrer eigenen Armee begangen werden oder von den sogenannten russischgetreuen Verantwortlichen in Tschetschenien selber. Und da kann man schon deutlich auch reden, da es ja ein gutes Verhältnis gibt zwischen der deutschen Regierung und der russischen, das konkret anzusprechen. Wenn nämlich die Zivilgesellschaft dort nicht geschützt wird vor diesen Übergriffen, dient es nicht dazu, Vertrauen in die russische Regierung zu entwickeln, die man ja braucht, um eine politische Lösung zu finden. Insofern muss eigentlich öffentlich und auch in diplomatischen, vertraulichen Gesprächen dieses Thema angesprochen werden. Wir sehen auch hier in einzelnen Ansätzen Fortschritte. Es gab ja jetzt diese Woche oder letzte Woche die Entscheidungen des europäischen Menschenrechtsgerichtshofs, die nachweisen konnten, dass die russische Regierung eine Verantwortung hat für die Tötung von Zivilisten und dass sie auch dafür gerade zu stehen hat. Und solche Bestrebungen oder Entwicklungen kann man unterstützen, wenn man die guten Beziehungen nutzt zwischen Deutschland und Russland. Und man sollte das nicht verheimlichen.
Adler: Wir haben das Thema China schon mehrfach gestreift in unserem Gespräch, Barbara Lochbihler, Generalsekretärin von Amnesty International Deutschland. Deutschland setzt sich für die Aufhebung des Waffenembargos gegen China ein. Teilen Sie die Auffassung, dass die Bundesregierung damit das Bemühen um die Verbesserung der Menschenrechtssituation in China konterkariert?
Lochbihler: Also, es ist sicher das falsche Signal an die chinesische Regierung, wenn man sagen würde, das Embargo wird jetzt aufgehoben weil sich die Menschenrechtssituation verbessert hat. Leider können wir das überhaupt nicht sehen. Zum Beispiel bei der Verhängung der Todesstrafe. Hier sind die Straftatbestände ausgeweitet worden. Folter und Misshandlungen sind weit verbreitet. Wir können also kein Signal sehen, was die chinesische Regierung gibt an konkreten Verbesserungen. Was wir aber hören ist, dass jetzt im Zuge der Verhandlungen für so eine Auflösung des Embargos eben verhandelt wird mit der chinesischen Regierung, dass es Fortschritte gibt insoweit, dass zum Beispiel der UN-Pakt für zivile und bürgerliche Rechte dann vielleicht signiert werden könnte. Deshalb ist es wichtig, dass die deutsche Regierung jetzt nicht einfach die Aufhebung dieses Waffenembargos fordert, sondern dass sie konkret von der chinesischen Regierung Verbesserungen im Menschenrechtsschutz einfordert. Sonst ist das einfach wirklich das ganz falsche Signal. Und Menschenrechtsverteidiger aus China und Menschenrechtsverteidigerinnen dort gehen ja auch an die Öffentlichkeit und sagen, es darf nicht dazu kommen, ohne konkrete Zugeständnisse zu bekommen.
Adler: Kommen wir noch einmal zum Schluss unseres Gespräches zurück nach Deutschland. In Deutschland wird gerade ein Antidiskriminierungsgesetz vorbereitet, das eben Menschen schützen soll vor Herabsetzung beziehungsweise vor ungerechter Behandlung aufgrund der Rasse, der ethnischen Herkunft, der Religion, der sexuellen Ausrichtung und so weiter. Was befürchtet wird, ist, dass dieses Gesetz wohl in seinem Anliegen sehr ehrenwert ist, aber eine Masse von bürokratischen Hürden und Problemen mit sich bringt. Haben Sie das Gefühl, dass, wenn man Menschenrechte einhalten möchte, wenn man Menschenrechtsverletzungen verhindern möchte, dass ein solches Gesetzeswerk der richtige Weg dafür ist?
Lochbihler: Es ist ein Weg. Und wir sehen ja auch in anderen Gesellschaften, dass das nicht so katastrophale Folgen hat, wie jetzt hier diskutiert wird, dass dann von arbeitsrechtlicher Seite das alles nicht umzusetzen wäre und so weiter. Ich denke, man muss sich ernsthaft damit auseinandersetzen, denn es gibt sehr viel Diskriminierung und Rassismus auch in unserer Gesellschaft. Es muss nicht immer gleich dazu führen, dass es zu Gewalttaten kommt gegen Personen, die keine weiße Hautfarbe haben. Es ist viel subtiler. Deshalb müssen wir auch in unserer Menschenrechtbildungsarbeit darüber reden. Und wenn ich jetzt an meine eigenen Erfahrungen hier in Deutschland denke, dann wird über Menschenrechte schon geredet oder Menschenrechte werden verstanden, wenn es sich um Verhältnisse in anderen Ländern handelt. Aber auf die eigene Gesellschaft bezogen möchte man das Wort schon gar nicht verwenden weil man sagt: Nein, nein, bei uns ist das doch nicht. Man misst sich also immer mit Situationen, die noch viel schlimmer sind. Und da finde ich, ist die Debatte um das Antidiskriminierungsgesetz eine sehr wichtige in Deutschland für die Regierungsseite, aber auch für die Zivilgesellschaft.