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Amok an Schulen

Nach dem Amoklauf eines 17-Jährigen an der Albertville-Realschule im baden-württembergischen Winnenden stellt sich zuallererst die Frage: Wie konnte das passieren? Polizei und Psychologen suchen nach den Motiven des Täters, Politiker diskutieren über mögliche Konsequenzen aus dem Amoklauf und die Angehörigen der Opfer fragen sich, warum die Tat nicht verhindert werden konnte.

Von Mirko Smiljanic | 12.03.2009
    Amok an Schulen - Warum töten Jungendliche ohne erkennbaren Grund?


    Columbine, Erfurt, Tuusula - drei Orte, die eine schreckliche Tat verbindet. Zwischen 1999 und 2007 fanden dort in je einer Schule Amokläufe statt: 39 Menschen starben. Es waren schreckliche Ereignisse, aber keine Einzelfälle. Die Zahl von Amokläufen an Schulen steigt ständig. US-Behörden zählten zwischen 1974 und 2000 mehr als 35 solcher Vorfälle, in Deutschland ist der Amoklauf von Emsdetten noch in Erinnerung.

    Was sind die Gründe für diese Häufung? Warum töten Jugendliche ohne erkennbaren Grund Mitschüler und Lehrer? Ist der schulische Druck Auslöser? Leiden sie an Entwicklungsstörungen, die sich dort entladen, wo sie vorzugsweise sind - in der Schule. Welche Rolle spielen gewaltverherrlichende Computerspiele oder über Jahre ertragende Demütigungen? Gibt es Warnhinweise für drohende Amokläufe?

    Erfurt, 26. April 2002. Um 10 Uhr 46 betritt der damals 19-jährige Robert Steinhäuser das Gutenberg-Gymnasium. Mit einer Sporttasche geht er auf die Herrentoilette, wechselte dort Teile seiner Kleidung, bewaffnet sich mit einer Glock 17 und einer Pumpgun und begibt sich anschließend ins Sekretariat. Dort beginnt er den folgenschwersten Amoklauf an einer deutschen Schule.

    Amok: Ohne erkennbaren Grund tötet jemand wahllos Menschen, die ihm nichts getan haben und die er häufig nicht kennt. Ohne Gefühlsregung, kaltblütig, fast professionell. Die teilweise hohe Zahl der Opfer löst regelmäßig Schockwellen in der Bevölkerung aus. Hilflos suchen Polizisten, Psychologen und Politiker Erklärungen für das Unerklärliche. Trägt das angeblich zu lockere Waffenrecht Verantwortung? Oder das Elternhaus? Führen Medien und Gewalt verherrlichende Computerspiele ins Verderben? Tatsache ist: Die Zahl der Amokläufe an Schulen ist stark gestiegen.

    "Wir haben einen starken Anstieg international seit Mitte der neunziger Jahre von Amoktaten beziehungsweise zielgerichteten Gewalttaten, das ist weiter gefasst, an Schulen. Wir haben das in Deutschland seit 1999, als ein Schüler eine Lehrerin mit einem Messer erstochen hat und seitdem doch eine Anhäufung dieser Taten,..."

    ...so Jens Hoffmann, Leiter des Instituts für Psychologie und Sicherheit in Darmstadt. Was aber verbirgt sich hinter dem Begriff "Amok"? Historisch beziehungsweise kulturwissenschaftlich - sagt Joachim Kersten, Professor für Soziologie an der Hochschule für Polizei in Villingen-Schwenningen - führt der Amokbegriff zurück in die Kolonialzeit des heutigen Malaysia. Junge Männer, die in ihrer Ehre gekränkt worden sind, rannten plötzlich "Amuk", Amuk" schreiend durch den Basar und stachen wahllos auf Passanten ein.

    "Dieses Phänomen haben die Kolonialherren als extrem beängstigend empfunden und haben versucht, es in irgendeiner Weise durch Sanktionen einzuschränken oder auch zum Auslöschen zu bringen, haben es aber nicht geschafft. Und dadurch ist der Amokbegriff in den westlichen Sprachgebrauch übergegangen und ist so zusagen das unerklärbare Töten eines Wilden. Und das schwingt auch heute immer noch mit, wenn das benutzt wird, jemand wird wild, man kann ihn nicht mehr verstehen und er tötet andere Menschen."

    Die Tat mit der höchsten Zahl von Todesopfern ereignete sich 1982 in Südkorea. Am 22. April beging dort der Polizist Wou-Bom-kon mit zwei Gewehren und sieben Handgranaten einen Amoklauf: 57 Menschen sterben, 35 werden verletzte. Taten mit so hohen Opferzahlen dürfen über ein paar nüchterne Fakten aber nicht hinweg täuschen: Amokläufe fordern statistisch gesehen durchschnittlich 1,7 Opfer. 30 Prozent verlaufen unblutig, weil der Täter vorher überwältigt wird. Zwei Mal pro Jahr - so der Durchschnittswert - findet in Deutschland ein Amoklauf statt; Fälle wie in Erfurt nur alle 30 Jahre oder noch seltener. Das Problem dieser und anderer Zahlen besteht allerdings darin, dass "Amok" kein wissenschaftlich scharf umrissener Begriff ist, er bezeichnet eher eine Verhaltensweise, die sich über den Ablauf definiert.

    "Dazu gehört, dass nach einer bestimmten Kränkung der Täter in so eine Art Grübelphase verfällt, aus dieser Grübelphase heraus dann explosionsartig agiert. Dieses Explodieren bedingt, dass er sein Leben in Gefahr bringt und auch das anderer, und dass er will, dass der andere stirbt und er auch, dass schließlich und endlich, dass nach der Tat, wenn er von außen gestoppt wird, er sich selber nicht mehr an die Tat erinnern kann oder nur bildhaft."

    Lothar Adler ist Professor für Psychiatrie am Ökumenischen Hainich Klinikum in Thüringen und Autor einer umfassenden deutschsprachigen Studie über den Amok. Wer Amok läuft, begeht einen öffentlichen Suizid! Diese These bestätigen überlebende Amoktäter: Wer öffentlich Selbstmord begeht, ist auf der einen Seite verzweifelt und hoffnungslos; auf der anderen Seite nutzt er diesen letzten Akt, um es "den anderen zu zeigen": Er will ein Schauspiel inszenieren, ein letztes Mal im Mittelpunkt stehen; er will andere mit dem eigenen Tod bestrafen und so Schuldgefühle erzeugen; und er will ernst genommen werden. Dies trifft auf alle Amokläufe zu, erklärt aber nicht, warum sie gerade an Schulen so häufig sind. Für Jens Hoffmann geben andere Faktoren den Ausschlag.

    "Der Hintergrund davon scheint eine Art Ansteckungseffekt durch die Medien zu sein, das heißt, dass man durch eine solche Tat internationale Aufmerksamkeit erregen kann, dass man jemand ist danach, und dass jugendliche Schüler, die sich verzweifelt und fühlen, einen Hass haben, dadurch wissen, durch diese Identität des Amokläufers in der Schule, sind sie jemand und werden unsterblich."

    Das klingt nach Medienschelte, in diesem Fall scheint aber tatsächlich etwas dran zu sein - sagt Hoffmann - und verweist auf den jüngsten Amoklauf an einer Schule in Emsdetten.

    "Die Tat in Emsdetten im vergangenen Jahr, bei der glücklicherweise nicht viel passiert ist, der Amokläufer hat sich selbst getötet und andere verletzt, aber es gab keine weiteren Toten, hatte eine viel höhere Anziehungskraft, weil er so viele Filme ins Internet gestellt hat wie der sehr viel gewalttätigere Amoklauf des Robert Steinhäuser in Erfurt, über den relativ wenig berichtet bekannt wurde. Und wir haben auch Fälle in Amerika, Columbine, diese schlimme Tat, die beziehen sich international fast aller Amokläufer, weil es so viel Material und Berichte gibt. Es gab einen ebenso tragischen Amoklauf mit vielen Toten in einem Indianerreservat, und die haben eine Nachrichtensperre erlassen, es wurde fast nichts bekannt, und deshalb hatte es keine Nachahmungseffekte bei dieser Tat gegeben."

    Wenn Jugendliche Amok laufen, beobachten Wissenschaftler allerdings erstaunliche Phänomene, die in vielen Fällen nur durch den Umgang mit Computern zu erklären sind: Die Täter schießen ausgesprochen präzise.

    "Wenn man sich klar macht, dass in den Kriegen des vergangenen Jahrhunderts die meisten Soldaten noch über die Köpfe des Gegners geschossen haben, weil sie nicht direkt jemanden töten wollten, und diese Zielsicherheit im Grunde genommen erst im Vietnamkrieg erhöht worden ist und seitdem sie sehr hoch geworden ist, also bei den jetzigen Kriegen, ist es fast unfassbar, wie diese Jugendlichen treffen. Die haben trainiert vorher, nicht nur an tatsächlichen Feuerwaffen, sondern an Computern."

    Ob der Umgang mit Computern erklärt, warum Amokläufer immer jünger werden und Amokläufe gehäuft an Schulen vorkommen, bezweifelt allerdings der Psychiater Lothar Adler.

    "Ob das gut ist für Jugendliche oder nicht, ist damit nicht entschieden, aber dass Computerspiele irgend eine Beziehung zum Amok haben, kann man sicher abweisen. Amok gibt es wahrscheinlich, solange es Menschen gibt. Wir kennen ja die alten normannischen Berserker, die malaiischen Amokläufe sind historisch überliefert seit dem 14., 15. Jahrhundert, und da gab es so weit ich weiß keine Computerspiele."

    Bei manchem ruft das Widerspruch hervor. Der Militärpsychologe Dave Grossman etwa sieht in Computerspielen mit hohem "Kill-Faktor" Trainingsveranstaltungen, die zum Töten erziehen. Einen hohen Kill-Faktor haben all jene Spiele, in denen der Spieler mit einer Waffe oder einem Waffenarsenal unmittelbar gegen Feinde kämpft. Den Auslöser zumindest bei jugendlichen Amokläufern in diesen Spielen zu sehen, drängt sich auf. Lothar Adler gibt aber zu bedenken, dass jede Generation ihre eigenen Erklärungsmodelle für Amok entwickelt.

    "Das können Sie sehen, wenn Sie die Literatur über den malaiischen Amok sorgfältig analysieren, dann finden Sie eigentlich immer das, was gerade in Europa en vogue ist an wissenschaftstheoretischen Ansätzen auch als Erklärungsansatz für den Amok. Wenn eben bei Durkheim die Entwurzelung des Menschen als Ursache für Suizid durch Großstädte und so weiter en vogue ist, dann finden Sie auch sofort die Anwendung auf den Amok; oder wenn alle Leute Schizophrenien suchen oder Vorstadien von Schizophrenien, dann gibt auch sofort Wissenschaftler, die erklären, Amok ist dieses. Sie findet im Jahr der PISA-Studie selbstverständlich, Amok habe etwas mit PISA zu tun, und sie finden selbstverständlich, Amok habe etwas mit Computern zu tun, und als die Pornografie freigegeben wurde, hieß es, Amok habe etwas mit Pornografie zu tun. Die müssen ja nicht falsch sein, diese Intentionen oder unehrlich oder unanständig, sie haben nur mit Amok nichts zu tun."

    Als Ursachen für Amokläufe wurden früh schon psychiatrischen Krankheiten vermutet. Mediziner beobachteten, dass viele Täter sich in einer Art Dämmerzustand befinden. In diesem Zustand tun Menschen Dinge, an die sie sich später nicht mehr erinnern können. Der Amoklauf erfolgt in einem Erregungszustand, dem häufig eine totale Erschöpfung folgt.

    "So weit man das überhaupt sagen kann mit der psychologischen Autopsie, ist es so, dass Schizophrene massiv überrepräsentiert sind und Depressive massiv überrepräsentiert sind, und dazwischen eine Gruppe von schwerwiegenden Psychopathen bis hin zu den paranoiden Persönlichkeiten, eine erhebliche Rolle spielt. Das heißt, ein großer Teil Amokläufer gehört nach dem, was wir finden und sichern konnten, bereits zur Gruppe schwerer psychischer Erkrankungen, weit überrepräsentiert!"

    So richtig diese Informationen sind, Jugendliche Amokläufer lassen sich mit ihnen im Vorfeld aber nicht finden. Dazu muss man zunächst verstehen, was zwischen der ersten Kränkung und dem letzten Schuss passiert.

    "Wir kennen diesen psychologischen Prozess als zielgerichtete Gewalt, das ist ein monate-, manchmal auch jahrelanger Vorlaufprozess, an dessen Anfang aber immer eine Verzweiflung steht, eine Krise, dass sehr häufig kränkt bei jungen Menschen, die bestimmte Konflikte nicht verarbeiten können, und ein Stachel bleibt stecken, die grübeln darüber nach, sie fühlen sich verzweifelt und ausweglos, häufig auch haben wir Suizidäußerungen dort, und dann kommt eine kalte Wut dazu, sie wollen sich rächen. Und diese Gedanken werden irgendwann in einen Plan umgesetzt, und da ist sicherlich auch der Blick auf andere Amokläufer international da, und dann kommen ganz am Ende kurz vor der Tat immer noch andere Zurückweisungen, beispielsweise eine Abweisung von einem Mädchen, Schulprobleme, dass man nicht versetzt wird, und dann fällt der letzte Schutzfaktor und sie beginnen mit dieser Tat. Deswegen kann man davon ausgehen, dass wir jetzt einige junge Menschen da draußen haben, die in einem solchen Vorstadium sind, und wenn etwas passiert, deswegen haben wir auch so einen Nachahmungseffekt unmittelbar nach den Taten, die dann sehen, ja, es geht doch, jetzt mach ich das!"

    Der Amoklauf ist das Ende eines langen Prozesses, in den einzugreifen es immer wieder Möglichkeiten gibt - vorausgesetzt man erkennt und versteht die Warnsignale.

    "Ganz früh steht eine Beschäftigung mit anderen Gewalttätern, da identifizieren Sie sich mit, dass es ein Warnsignal, ein großes Interesse an den Columbine-Attentätern beispielsweise, dass sie Zeichnungen der Oper anfertigen, dass sie im Internet viel haben. Die nächste Stufe sind dann schon Planungen und Vorbereitung, das sind dann Zeichnungen, Todeslisten und solche Sachen oder dass sie anfangen, bestimmte Kleidungsstücke zu kaufen, schwarze Trenchcoats oder so was, auf einmal einen anderen Kleidungsstil haben, auf einmal in einer Armeekleidung auftauchen, auf einmal einen Irokesenschnitt haben, dann sollte man genauer hingucken. Wenn sie anfangen, persönliche Gegenstände zu verschenken, so genannte Abschiedshandlungen, weil sie eigentlich schon mit dem Leben abgeschlossen haben, oder, das ist dann auch sehr, sehr nahe dran, am Mittwoch wird etwas passieren, da werde ich die Lehrerin umbringen, oder sagen, komm mal am besten nicht in die Schule."

    Seit langem rätseln Wissenschaftler, ob bestimmte gesellschaftliche Bedingungen Amokläufe begünstigen: die Arbeitslosigkeit mit den damit verbundenen wirtschaftlichen Problemen; das allgemeine Kriminalitätsaufkommen und so weiter. In aller Regel spielen diese Faktoren aber keine entscheidende Rolle. Gleiches gilt für Mobbing, das letzter Auslöser des Amoklaufes sein kann, aber nicht tatsächlicher Grund. Wichtig ist für Jens Hoffmann vom Institut für Psychologie und Sicherheit in Darmstadt, ein offener und respektvoller Umgang der Schüler untereinander. Dazu zählt in letzter Konsequenz auch, dass die Schüler in gewisser Weise aufeinander aufpassen.

    "Sie müssen Mitschüler mit ins Boot nehmen. Es führt kein Weg an Mitschülern vorbei, weil die erkennen solche Warnsignale. Was ganz wichtig ist, ist, dass man das Ganze nicht an der Prävention von Amokläufen aufhängt, sondern sagen, es gibt zunächst mal bestimmte Dinge, die an unserer Schule nicht toleriert werden, wie Gewaltdrohungen oder Mitbringen und Zeigen einer Waffe. Und das andere ist, dass Sie sagen, es geht um Krisensignale, wir wollen mitbekommen, wenn ein Schüler in der Krise ist, verzweifelt, wütend ist und wollen schauen, wie wir ihm helfen können. Sie müssen das anders formulieren und auch anders meinen, zum einen, dass es auch eine Verpflichtung gibt für alle an der Schule, solche Sachen mitzubekommen, aber auch dass sie Ansprechpartner haben, dass sie auch von ihrer Persönlichkeit her wirklich Vertrauenssphäre sind und ansprechbar sind, und dass sie auch ein anderes Vorgehen haben, ein professionelles Know-how, nicht gleich Alarm geschlagen und auf jede Sache einschlagen, sondern hingehen und gucken, und es gibt Risikomodelle, da kann man in 95 Prozent der Fälle nach einem Gespräch einschätzen, er ist jetzt nichts hinter. Das heißt, Sie müssen schon ein Klima schaffen, indem man gehen kann und weitergeben kann, ohne dass man Petze ist."

    Das ist leicht gesagt und schwer getan. Vielleicht braucht es dafür eine neue Schule: Lehrer, die nicht nur Wissen vermitteln, sondern auch "erziehen"; Eltern, die weniger Druck ausüben; und Schulen, die professionell strukturiert sind.

    "Was sich immer mehr durchsetzt, und es ist, glaube ich, der richtige Weg, das sind Krisenteams an Schulen, das heißt, was Sie brauchen sind speziell ausgebildete Lehrer, wir haben dafür ein System "Sichere Schule" entwickelt, zum einen solche Warnsignale kennen, die vertrauenswürdig sind, so dass Mitschüler hingehen, und sagen, da ist etwas Komisches passiert, im Sinne einer Krisenlösung, die auch nach außen vernetzt sind mit Polizei, mit Jugendamt in solchen Einrichtungen, die auch andere Krisen von Jugendlichen kompetent angehen, aufarbeiten können, sie einmal Leute sind, die von ihrer Interessiertheit, aber auch vom Know-how her in der Lage sind, frühzeitig solche krisenhaften Entwicklungen zu erkennen. Und je früher man eine solche krisenhaften Entwicklung erkennt und angeht, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit, dass schwere Gewalttaten an der Schule passieren. "