Archiv

"Amok"
Teil 1: Täterprofile

Immer wieder wird nach einem Amoklauf versucht, verdächtige Eigenheiten in der Psyche des Täters auszumachen - auch dann, wenn er selbst bei der Tat ums Leben gekommen ist. Ob durch solche Analysen tatsächlich Geschehnisse wie das auf der Insel Utøya verhindert werden können, ist aber umstritten.

Von Marieke Degen |
Eine Neun-Millimeter-Patrone
Kann die moderne Psychologie Amokläufe verhindern? (picture-alliance/ dpa - Daniel Karmann)
Als die Autobombe explodiert, sitzt Ulrik Malt in seinem Ferienhäuschen und schaut Tour de France:
"Gegen halb vier wurde die Übertragung unterbrochen und ein Sprecher sagte, dass es im Zentrum von Oslo eine Detonation gegeben habe. Wahrscheinlich mit Toten. Am Anfang haben alle an einen islamistischen Terroranschlag gedacht. Niemand ist auf die Idee gekommen, dass der Täter ein junger, blonder Mann sein könnte, der nur einen Kilometer von mir entfernt in Oslo wohnt."
Am 22. Juli 2011 verübt der Norweger Anders Breivik einen Bombenanschlag auf das Regierungsviertel in Oslo, bei dem acht Menschen getötet werden. Danach fährt er auf die Insel Utøya, zum traditionellen Sommercamp der Arbeiterjugend, und erschießt 69 Menschen. Malt:
Dann zerbricht man sich natürlich den Kopf. Wer zum Teufel ist diese Person? Was stimmt nicht mit dem? Warum hat er das getan?
Ein Mann, der in einem bestimmten Zeitfenster mehrere Menschen tötet. In einer Schule, am Arbeitsplatz, in einem öffentlichen Gebäude, in einem Sommercamp. Er tötet ohne Vorwarnung und ohne erkennbares Motiv. Und oft tötet er sich selbst. Es gibt einen Namen dafür: Amok.
"Sie töten wie eine Maschine. Sie befinden sich in einer Trance. Sie agieren wie in einem Computerspiel."
Amok. Ein Begriff, mit dem Wissenschaftler nicht besonders glücklich sind. Amok stammt aus dem malaiischen und bedeutet so etwas wie plötzliches Ausrasten. Doch ein Amokläufer rastet nicht plötzlich aus. Die Tat ist oft lange geplant. Und die Ausführung kalt und kontrolliert.
"Sie gehen vor die Tür, laden nach, machen die Türen auf, schießen das Magazin leer, sie schießen teilweise durch Türen hindurch und schießen dann auf Menschen, die plötzlich auf dem Gang auftauchen. Und das scheinbar unbewegt. Ohne Mimik, ohne Emotion, ohne Mitleid und ohne zu zögern."
Britta Bannenberg, Professorin für Kriminologie, Universität Gießen, beschäftigt sich seit mehr als zehn Jahren mit dem Thema:
"Ich habe noch nie erlebt, dass einer die Tat bereut hat."
Amokläufe sind selten
Amokläufe hat es vermutlich immer schon gegeben. In Deutschland kennt man noch Fälle aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert. Amokläufe sind sehr selten, in ihrer Wirkung aber jedes Mal verheerend. Und am Ende immer wieder die gleiche Frage: Warum hat er das getan?
"Am ersten Prozesstag, als er das erste Mal im Gerichtssaal aufgetaucht ist. Er kam rein, und das Erste, was ich dachte, war: Das ist ein traumatisierter junger Mann. Eine tragische Figur. In gewisser Weise hatte ich Mitleid."
Ulrik Fredrik Malt, Psychiater, Reichshospital in Oslo. Gutachter von Anders Breivik, dem Attentäter von Utøya.
"Mit Bösartigkeit hat das nichts zu tun. Auch wenn das viele denken. Für so eine Tat gibt keine einfache Erklärung. Es müssen viele verschiedene Faktoren dafür zusammenkommen, eine Art tödlicher Mix. Sie töten nicht, weil sie böse sind, sondern weil sie - aus psychologischer Sicht - Verlierer sind."
Eine Art tödlicher Mix. Was macht ihn aus? Warum läuft ein Mensch Amok? Wissenschaftler, die das ergründen wollen, haben nur eine Möglichkeit. Sie müssen die Fälle, die bereits geschehen sind, rekonstruieren - in der Hoffnung, Parallelen zwischen den Tätern zu entdecken und daraus bestimmte Risikofaktoren abzuleiten. Das ist auch das Ziel von Target, einem interdisziplinären Forschungsprojekt, in dem deutsche Amokfälle seit 1913 aufgearbeitet werden. Doch die Analysen haben ihre Grenzen. Die Fallzahlen sind sehr gering. Und viele Amokläufer - ein Drittel aller erwachsenen und zwei Drittel aller jungen - sind tot. Den Forschern bleiben oft nur die Strafakten. Bannenberg:
"Wir schauen uns an, wer waren die Täter, wir versuchen, ihren Lebenslauf zu rekonstruieren, wir versuchen, ihre Situation nachzuvollziehen, in der sie die Tat geplant haben."
In Britta Bannenbergs Aktenschränken türmen sich Leitz-Ordner mit Ermittlungsergebnissen, Zeugenaussagen, Obduktionsberichten. Die Kriminologin wertet die Tagebücher der Täter aus und ihre Internetaktivitäten, begutachtet Schulzeugnisse, Waffen und Videospiele, führt Interviews mit Opfern und Weggefährten. Nur selten hat sie die Gelegenheit, mit dem Täter selbst zu sprechen:
"Man spürt aber auch bei manchen eine extrem narzisstische Haltung. Das heißt einen extremen Egoismus. Man hat das Gefühl, der Täter redet nur von sich und seinen Befindlichkeiten und verdrängt oder kann vielleicht auch nicht richtig nachempfinden, was er getan hat. Man hat häufig das Gefühl, die Grausamkeit der Tat, die schlimmen Folgen sind beim Täter gar nicht so richtig angekommen."
Verhaltensmuster jugendlicher Täter ist ähnlich
In den letzten Jahren hat Britta Bannenberg über 60 Amoktaten aus Deutschland analysiert, dazu weitere Fälle aus dem Ausland. 25 davon wurden von jungen Tätern begangen, mindestens 13 fanden an einer Schule statt - so genannte School Shootings. Die Verhaltensmuster der Jugendlichen sind dabei auffallend ähnlich:
"Amoktäter sind stille Zeitgenossen, die lange solche Taten planen, die lange in Hass und eher kalter Wut schwelgen, das heißt sie fühlen sich über lange Jahre verletzt, gedemütigt, angegriffen, gemobbt. Diese ganze Palette. Das schreiben sie auf - sie führen ja häufig Tagebuch, sie kommunizieren in sozialen Netzwerken, und da wird deutlich, dass sie sich völlig missverstanden fühlen. Völlig angegriffen fühlen von fast jedem. Und daraus leiten sie auch ihre Rechtfertigungen für ihre Taten ab."
Der tödliche Mix. Eine unglückliche Verkettung von persönlichen Eigenschaften und äußeren Umständen. Ein problematisches Elternhaus. Eigenes Versagen. Kaum Anerkennung. Kränkungserlebnisse. Mangelnder Selbstwert. Außenseitertum. Faszination für Waffen. Das sind nur einige der Zutaten, aus denen sich die hochexplosive Mischung zusammenbraut. Und deren Essenz ist: Junge Amokläufer haben im Umgang mit anderen Menschen offenbar große Schwierigkeiten. Bannenberg:
"Ihr Bindungsverhalten ist komplett gestört. Warum das so ist, wissen wir nicht, aber wir wissen schon, dass sie nicht in der Lage sind, enge, tragfähige Bindungen zu irgendeinem Menschen einzugehen. Sie haben keine engen Freunde, sie haben keine Freundin, sie scheinen aber durchaus über längere Zeit diesen Kontakt zu suchen und merken aber selbst, dass das nicht so gut funktioniert. Und daraus resultiert möglicherweise auch der Hass und die Abwertung anderer Menschen, die Ablehnung anderer Menschen."
Viele Täter fühlten sich gemobbt. Doch Britta Bannenberg hat kaum Hinweise darauf gefunden, dass sie auch tatsächlich gemobbt wurden. Die Täter kapseln sich vielmehr selber ab. Ein Teufelskreis aus Isolation, Rachefantasien und einem Gefühl von Ausweglosigkeit beginnt, der durch Medien - durch Internet, gewalthaltige Filme, Ego-Shooter - noch befeuert wird:
"In keinem einzigen Fall würde man jetzt sagen können, dass die Medien die Tat verursacht haben. Medien spielen aber sehr wohl eine Rolle, weil sie zur Identifikation einladen. Es geht immer um Identifikation mit Rächerfiguren und mit Vorbildern, die ähnliche Taten begangen haben."
Täter haben häufig Persönlichkeitsstörungen
Ob der Racheplan tatsächlich in die Tat umgesetzt wird, hängt auch von der Verfügbarkeit von Waffen ab. In den USA, wo man Schusswaffen fast in jedem Haushalt findet, ist das Risiko eines Amoklaufs deutlich erhöht - auf ein bis zwei pro Monat. Die Täterprofile, die in Deutschland erarbeitet werden, bestätigen ältere Forschungsergebnisse aus den USA - mit einem Unterschied:
"Wir würden sehr viel deutlicher sagen, dass alle Täter psychopathologisch auffällig sind. Also mindestens haben die Täter beginnende Persönlichkeitsstörungen, Verhaltensauffälligkeiten und psychopathologische Auffälligkeiten, und einige wenige gerade der jungen Täter scheinen doch auf dem Weg gewesen zu sein, eine Psychose zu entwickeln."
Anders Breivik fällt in eine Täterkategorie, für die sich Gewaltforscher seit einigen Jahren besonders interessieren: die Lone Wolfs, einsame Wölfe. Das sind erwachsene Amokläufer, deren Tatmotive zusätzlich von extremistischen Ideologien überlagert werden. Lone Wolfs gehören aber keiner radikalen Gruppe an. Sie agieren allein.
Breivik war besessen von der Idee einer angeblichen Islamisierung Europas. Vielleicht wurde er auch deshalb in einem ersten Gerichtsgutachten für schizophren erklärt. Er habe im Wahn gehandelt und sei nicht schuldfähig. Nach Protesten gab es ein zweites Gutachten, das ihm eine dissoziale Persönlichkeitsstörung mit narzisstischen Zügen attestierte. Die verwirrte Staatsanwaltschaft wollte eine dritte Einschätzung. Sie berief den Psychiater Ulrik Fredrik Malt von der Universität Oslo in den Zeugenstand. Und der kommt wieder zu einem ganz anderen Ergebnis:
"Er hat das Asperger-Syndrom, eine Form von Autismus. Aber das ist nicht die Ursache. Er hat eine psychische Störung, ja, aber dazu kommt das sehr problematische Elternhaus, die politischen Ansichten, die schlechten Erfahrungen in der Schule."
Ulrik Malt hat nie mit Anders Breivik gesprochen. Er hat ihn im Gerichtssaal beobachtet, und er hatte Zugang zu allen verfügbaren Unterlagen. Sie reichen zurück bis in die früheste Kindheit:
"Er war schon mit drei Jahren in der Kinderpsychiatrie, weil er verhaltensauffällig war. Damals haben sie darüber diskutiert, ob sie ihn aus seiner Familie herausholen sollten. Weil sich so viele Dinge in die falsche Richtung entwickelten. Sie haben damals schon in ihrem Bericht geschrieben: Wenn man diesem Jungen nicht hilft, wird er später große Probleme bekommen."
Passiert ist nichts. Anders Breivik blieb bei seiner Mutter.
Patienten mit Tötungsfantasien sind Alltag in Psychiatrien
"Asperger-Patienten können nicht wie gesunde Menschen soziale Kontakte eingehen. Und das muss ein Mensch täglich. Es werden Forderungen in der Schule gestellt, es werden Forderungen am Arbeitsplatz gestellt, und wenn diese Forderungen aufgrund der sozialen Kontaktstörung nicht erfüllt werden können, dann kann so ein Mensch richtig in die Ecke gedrückt werden, der kann in Not kommen, und in solch einer Situation kann ein Amoklauf eben auch ein Ausdruck von Not und Leid sein."
Harald Dreßing leitet die forensische Psychiatrie am Zentralinstitut für seelische Gesundheit in Mannheim. Menschen mit Tötungsfantasien sieht er in seiner Klinik jeden Tag:
"Also das Thema, sich selbst etwas anzutun, oder auch aggressive Gedanken gegenüber anderen, das kommt bei sehr vielen psychischen Störungen vor, das ist wirklich Alltag in der Psychiatrie und Psychotherapie. Es gibt immer wieder Menschen, die schlimme Fantasien haben, die werden tagtäglich von uns beraten und behandelt. Das ist klinischer Alltag."
Über den geistigen Zustand von Amoktätern gibt es nur wenige Studien, doch Fachleute gehen mittlerweile fest davon aus, dass alle Amokläufer psychische Probleme haben. Auch wenn die nicht immer auf den ersten Blick ersichtlich sind. Die Palette reicht von schweren psychischen Erkrankungen wie Depressionen und Schizophrenien über Entwicklungsstörungen wie Asperger bis hin zu unterschiedlichsten Persönlichkeitsstörungen. Dreßing:
"Man kann sicherlich sagen, dass psychische Störungen nicht die Ursache sind, also im Sinne: Es gibt eine Ursache, und das ist die psychische Störung, die ist kausal verantwortlich für den Amoklauf. Aber in einem komplexen Bündel an Ursachen spielen psychische Ursachen natürlich bei Amoktätern eine Rolle."
Der forensischer Psychologe Reid Meloy von der Universität von Kalifornien in San Diego hat Ende der Neunziger eine der ersten Studien zu Massenmördern veröffentlicht und mehrere Amoktäter in den USA begutachtet. Ein erheblicher Teil der erwachsenen Amoktäter - manche sprechen von bis zu einem Drittel - litt zum Tatzeitpunkt offenbar an einer wahnhaften Psychose, zum Beispiel an einer Schizophrenie:
"Sie haben den Kontakt zur Realität verloren und kreieren ihre eigene, sehr bizarre Welt. Sie glauben fest daran, von anderen verfolgt zu werden. Mit der Wirklichkeit hat das aber nichts zu tun. Solche wahnhaften Massenmörder fordern tendenziell mehr Opfer als nicht-wahnhafte Täter. In ihrer eigenen Welt machen sie eine bestimmte Gruppe von Menschen aus, die sie verfolgt. Und an denen sie dann Vergeltung üben."
Soziale Fähigkeiten sind start beeinträchtigt
Bei jugendlichen Tätern zeigt sich ein solcher Wahn offenbar seltener. Bei ihnen finden sich mehr Hinweise auf diverse Persönlichkeitsstörungen: Ihre sozialen Fähigkeiten sind stark beeinträchtigt. Viele sind introvertiert und extrem ich-bezogen, fast schon narzisstisch. Meloy:
"Dabei nehmen sie sich selbst viel wichtiger, als sie sind, und fühlen sich schnell von anderen schlecht behandelt. Gleichzeitig versagen sie permanent in zwischenmenschlichen Beziehungen. Und dieses Versagen, gepaart mit dem Gefühl der eigenen Wichtigkeit und dem Gefühl, von allen schlecht behandelt zu werden - das kann einen Menschen zu einer solchen Tat bewegen."
Dann ist da noch der eigene Tod, der in vielen Fällen fest in den Amoklauf mit eingeplant ist. Entweder durch sich selbst, oder durch die Polizei. Harald Dreßing geht davon aus, dass Depressionen das verbindende Element vieler Amoktaten sind:
"Viele Menschen haben dann die Idee, sich selbst zu töten. Also Suizide sind auch wiederum viel häufiger als Amokläufe, aber solche aggressiven Impulse, die gegen einen selbst gerichtet sind, die können sich auch vermischen mit aggressiven Impulsen gegen andere, also wenn man das Erleben hat, die anderen sind Schuld an meinem Leid, dann kann es - das nennt man homizidal-suizidales Syndrom - und das ist ganz typisch für Depressionen, also dass zunächst Aggression sich gegen andere richtet und dann auch gegen sich selbst."
Der tödliche Mix. Forscher können die Risikofaktoren immer näher eingrenzen. Aber die Sache hat einen Haken: Es gibt Millionen Menschen auf der Welt, die psychisch krank sind, die an einer Schizophrenie oder an Depressionen leiden. Millionen Menschen, die in schwierigen Verhältnissen aufwachsen, die im Alltag versagen, die sich missverstanden und allein fühlen. Millionen Menschen lieben Egoshooter. Die allermeisten von ihnen werden niemals einen Amoklauf begehen. Dreßing:
"Wir bezeichnen eine Gruppe von Menschen, die ein Risikofaktorenbündel haben, als potenzielle Amokläufer, können aber sicher nicht sagen: Das wird ein Täter oder das wird kein Täter. Und das ist das große Problem an den Risikofaktoren."
Bannenberg:
"Was am Ende den Ausschlag gibt, warum sich Personen, die durchaus längere Zeit schon an eine Amoktat gedacht haben, vielleicht schon relativ weit waren in ihren Fantasien, warum die keine Vorbereitungshandlungen aufnehmen im Gegensatz zu denen, die das dann tun - da den Unterschied zu machen, das fällt uns noch sehr schwer."
Hunderte Amokdrohungen im Jahr
Kann man Amokläufe verhindern?
Amokläufe sind extrem selten. Sehr viel häufiger sind Amokdrohungen. In Deutschland gibt es jedes Jahr mehrere Hundert, in Schulen und Universitäten, aber auch in Behörden und Unternehmen. Viele Einrichtungen wenden sich dann an Jens Hoffmann und sein Institut Psychologie und Bedrohungsmanagement in Darmstadt. Hoffmann ist Fachmann für Gewaltprävention, er soll die Gefährlichkeit der Situation einschätzen:
"Das Wichtige ist eben hinzuschauen, auch die Person, die bedrohliche Äußerungen getätigt hat, auch mal zu fragen - werden viel zu wenig gefragt, was bedeutet das eigentlich. Schauen, gibt's da Krisen, gibt's da andere Verhaltensweisen, die da problematisch sind, und dann praktisch machen wir Einschätzungen."
Jens Hoffmann bewertet dabei nicht die Persönlichkeit, sondern allein das Verhalten. Meistens steckt nichts dahinter. Die allermeisten Drohungen werden aus der Situation heraus geäußert, im Streit, aus Wut. Die Befragten distanzieren sich schnell. Ab und zu spitzt sich die Situation aber auch zu. Wie bei dem jungen Mann, der an einem schweren Verfolgungswahn litt:
"Er kam in eine solche Lage aus seinem Gefühl, durch eine Krankheit bedingt, dass die anderen ihn fertigmachen wollen und er sich rächen muss, sodass es dann gelungen war, ihn praktisch gegen seinen Willen in psychiatrische Behandlung zu bringen, auch mithilfe der Polizei. Und was sich dann gezeigt hatte, dass er bei sich zu Hause schon Waffen beschafft hatte, jetzt keine Schusswaffen, sondern ein Schwert beschafft hat, mit dem er die Tat begehen wollte, um sich selbst auch zu schützen."
Jens Hoffmann sagt: Amokläufe lassen sich verhindern. Nicht alle, aber viele. Denn die meisten Menschen, die so eine Tat wirklich planen, senden im Vorfeld bestimmte Warnsignale aus. Nicht jeder, der solche Warnsignale aussendet, muss zwangsläufig auch gewalttätig werden. Doch Warnverhalten können darauf hindeuten, dass ein Mensch in einer Krise steckt. Wenn sie rechtzeitig erkannt und richtig gedeutet werden, lässt sich die Krise entschärfen. Hoffmann und sein Team haben in den letzten Jahren Hunderte Amokdrohungen begleitet. Bislang, sagt er, haben sie alle Fälle in den Griff bekommen:
"Wir tun uns immer sehr schwer mit der Aussage, wir hätten schon einmal einen Amoklauf verhindert. Wir wissen es nicht. Sondern die Idee ist, wenn sich ein Risiko zusammenbraut und wir arbeiten daran, dass nichts passiert. Zusammen mit anderen. Ob die Person einen Amoklauf begangen hätte oder nicht, können wir nicht wissen."
Zusammen mit Reid Meloy hat Jens Hoffmann die Warnsignale bei Amoktätern herausgearbeitet. Zu den Wichtigsten zählen Vorbereitungshandlungen, eine Fixierung auf einen Schuldigen und die Identifizierung mit früheren Tätern. Sie zeigen, wer es wirklich ernst meint. Meloy:
"Das bedeutet, dass sie die Tat konkret vorbereiten. Sie beschaffen sich Waffen und Munition und planen sehr sorgfältig, wo und wie die Tat stattfinden soll. Freunde, Familie oder Geschwister bekommen das oft mit. Aber sie können sich nicht vorstellen, dass die Person das tatsächlich durchzieht, und sagen deshalb nichts."
Amokläufer suchen sich eine neue Identität
Zweitens: Das Fixierungswarnverhalten. Bei School Shootern tritt das besonders häufig auf. Meloy:
"Sie sind wie besessen davon, dass eine bestimmte Person oder ein bestimmter Umstand Schuld an ihrem Leid ist. Sie beschäftigen sich permanent damit, sie drücken ihren Ärger und ihre Verachtung bisweilen auch in sozialen Netzwerken aus. Die meisten School Shooters hatten solche Fixierungen - Schüler, die nur gedroht hatten, nicht."
Drittens: Identifizierung. Amokläufer suchen sich eine neue Identität, sie schlüpfen in die Rolle des Rächers. Oft identifizieren sie sich dabei mit früheren Tätern. Meloy:
"Da sind immer wiederkehrende Gedanken, Fantasien, mächtig zu sein, sich an Menschen, die einen verletzt haben, rächen zu können. In seinem Kopf wird er zum Krieger, zum Helden, der es allen zeigt, der den Feind vernichtet, und oft auch sich selbst."
Meistens lassen die Täter irgendetwas von ihrem Vorhaben durchsickern. Es muss nicht immer eine offene Drohung sein: Manchmal sind es beiläufige Bemerkungen gegenüber Dritten, oder Andeutungen im Online-Chat. Fachleute nennen das Leakage. Meloy:
"Wir bitten alle eindringlich, solche Äußerungen - egal in welcher Form - ernst zu nehmen und zu melden. Sie sind oft der erste Anhaltspunkt, dass etwas nicht stimmt, dass da jemand ist, um den man sich möglicherweise kümmern muss. Meistens steckt nichts dahinter, es gibt keine Vorbereitungshandlungen, keine Identifikation, keine Fixierungen. Aber es ist wichtig, dass das überprüft wird."
Warnsignale sind nicht immer offensichtlich. Sie müssen überhaupt erst bemerkt werden. Schulen, Behörden und Unternehmen brauchen Ansprechpartner, an die sich Mitschüler und Kollegen wenden können. Die Einrichtungen müssen wiederum eng mit der Polizei, mit Psychiatern, Psychologen und lokalen Hilfseinrichtungen zusammenarbeiten, um, wenn nötig, weitere Schritte einzuleiten. Weltweit gilt das als beste Strategie, um schwere Gewalttaten zu verhindern. Jens Hoffmann hilft, solche so genannten Bedrohungsmanagements vor Ort aufzubauen, schult den Umgang mit professionellen Online-Programmen, die Fallinformationen automatisch auswerten. Das Interesse, sagt er, ist groß. Seine Seminare sind ausgebucht.
Die Attentate von Oslo und Utøya. Hat Anders Breivik Warnsignale ausgesendet? Hätte man die Tat erahnen können? Die Experten sagen: Höchstwahrscheinlich nicht. Hoffmann:
"Das ist einer der ganz wenigen Fälle, in denen ein Täter, der eine solche Gewalttat begangen hat, wirklich extrem wenig nach außen hat durchsickern lassen, von seinen Aktivitäten."
Die Frage nach dem Warum
Jens Hoffman hat den Fall sehr genau analysiert. Breivik hat diverse Warnverhalten gezeigt: Er hat die Tat gezielt geplant, sich Waffen und Sprengstoff beschafft und damit geübt. Er fixierte sich im Jahr vor der Tat auch immer mehr auf die Idee, dass Europa durch den Multikulturalismus gefährdet sei. Und er identifizierte sich stark mit Kreuzrittern. Aber all das hat er bewusst geheim gehalten. Hoffmann:
"Er hat zum Beispiel Kontakt mit Freunden oberflächlich gehalten, damit sie nicht kommen und nach ihm sehen, weil er sich verändert hat. Er war auf eine sehr düstere Art ein sehr gut vorbereitender, planender Täter, dessen Warnverhalten sehr schwierig zu erkennen gewesen wäre im Vorfeld. Das große Problem ist, wenn wir solche schweren Gewalttaten haben von Personen, die noch angebunden sind in Schulen, die einen Job haben, die studieren, dann hat man Einrichtungen, die solche Warnsignale mitbekommen. Bei solchen Taten wie der Täter in Norwegen, der relativ isoliert war, ist das eben viel schwieriger. Diese Lone Wolfs, diese Einzeltäter, die sich auf radikale Ideologien, wie hier auf rechtsradikale Ideologien, berufen, sind schwer zu identifizieren."
Die Frage nach dem Warum. Die Wissenschaft kann sich ihr nähern. Und wird sie doch nie vollständig beantworten. Malt:
"Es wird immer etwas bleiben, das unsere Vorstellungskraft übersteigt. Damit müssen wir leben."
Die Frage nach dem Warum. Die meisten Täter stellen sie sich selber. Warum denke ich immer ans Töten, schreiben sie in ihre Tagebücher. Warum kann ich nicht anders? Dreßing:
"Es ist wirklich wichtig und das könnte auch eine wichtige Botschaft sein, wenn man über dieses Thema spricht, dass Menschen, die Probleme erkennen und die vielleicht bei sich auch eine Gefährdung sehen, dass die sich wirklich auch vertrauensvoll an solche Profis wenden und um Behandlung nachsuchen. Dass es sehr wohl Hilfestellungen gibt und dass das keineswegs schambesetzt sein muss, wenn man da um Hilfe nachsucht, ich denke, das wäre auch eine wichtige Botschaft."
Eine endgültige Sicherheit gibt es nicht. Amokläufe lassen sich nicht sicher vorhersagen. Sie lassen sich nicht immer verhindern. Malt:
"Es wird wieder passieren."
Anders Breivik, der Attentäter von Utøya und Oslo, wird den Rest seines Lebens in einem norwegischen Hochsicherheitsgefängnis verbringen. Ab und zu schreibt er Briefe aus seiner Einzelzelle, beklagt sich über seine Haftbedingungen. Malt:
"Ihr Journalisten beschäftigt euch viel mit ihm, dem Täter, und ich verstehe das auch. Aber die wahre Tragödie ist, dass er 69 Menschen erschossen hat, aus nächster Nähe. So, wie wir beide hier sitzen. Er hat sie einfach erschossen. Dazu die Opfer des Bombenanschlags, die vielen, vielen Verletzten und ihre Familien, für den Rest ihres Lebens traumatisiert. Das ist die wahre Tragödie."