Ein Jugendlicher, nennen wir ihn Justus, kritzelt seit Wochen aufgeschlitzte Menschenleiber in seine Schulhefte. Auf seinem Handy sind Gewaltvideos gespeichert, und zu Hause beschäftigt er sich vor seinem Computer stundenlang mit sogenannten Killerspielen. In diesem Sommer hat sich Justus sowohl vom Schulausflug als auch vom Klassenfest abgemeldet, auf Facebook postet er Fantasien von brennenden Schulen - und jetzt hat ein Mitschüler in Justus' Garderobenfach eine geladene Waffe entdeckt.
Justus ist ein fiktiver Fall. "Aber typisch für krisenhafte Entwicklungen", meint Vincenz Leuschner von der Freien Universität in Berlin. Der Sozialwissenschaftler hat sämtliche Fälle schwerer Schulgewalt in Deutschland untersucht und festgestellt:
"Diese krisenhafte Entwicklung äußert sich ganz unterschiedlich; in jedem Fall haben die späteren Täter Hinweise nach außen hin durchsickern lassen. Das kann sein, dass es sich um Gewaltfantasien handelt, die mündlich oder schriftlich oder als Bild nach außen kommuniziert werden; es kann sich dabei um direkte Drohungen handeln oder um andere Auffälligkeiten, wie das übermäßige Interesse an Schusswaffen, an früheren Fällen schwerer Schulgewalt."
Laut Vincent Leuschner haben viele Schulen Probleme, die ausgesandten Warnsignale zu erkennen. Auf den fiktiven Fall bezogen könnte das heißen: Ein Lehrer ließ Justus Gewaltzeichnungen kommentarlos in den Papierkorb wandern, ein anderer ging über seinen sozialen Rückzug hinweg, der Sozialpädagoge schwieg über die Handyvideos und so weiter. Und so gab es vielleicht bei allen Beteiligten ein kurzes Befremden über Justus, aber niemand sah das Gesamtbild. Und deswegen schritt auch niemand ein, weiß Sozialwissenschaftler Leuschner:
"Das ist der Grund, weshalb in ganz vielen Fällen schwerer Schulgewalt diese im Vorfeld nicht erkannt wurden, weil diese Informationen zwar vorlagen, aber fragmentiert waren. Und das ganz Wichtige ist, dass wir erst mal in der Schule Strukturen schaffen, dass solche Informationen zusammengetragen werden."
Dafür wurde das Projekt "Netwass" entwickelt. "Netwass" bedeutet "Networks against School Shootings". Vincenz Leuschner verantwortet das Projekt am Fachbereich Erziehungswissenschaften der FU Berlin:
"Das Projekt selbst beinhaltet eine Schulung für ein sogenanntes Krisenpräventionsteam an den Schulen; in diesen Krisenpräventionsteams arbeiten in der Regel der Schulleiter, der Sozialarbeiter und ausgewählte Mitglieder des Kollegiums mit; und wir bilden sie quasi dahin gehend aus, solche Hinweise ernst zu nehmen und mit solchen Hinweisen umzugehen."
Mittlerweile gibt es bereits in Baden Württemberg, Brandenburg und Berlin insgesamt 100 derartige Krisenpräventionsteams. Lehrer, Sozialarbeiter und Klassenkameraden können sich an sie wenden, wenn sie einen Schüler für gefährdet halten. Das Team kann dann ein Gesamtbild einholen und gegebenenfalls eine Bedrohungsanalyse skizzieren. Viele Lehrer und Pädagogen machen jedoch ihre sorgenvollen Beobachtungen mit sich selbst aus. Sei es, weil sie sich im Kollegium nicht exponieren wollen, sei es, weil sie ihre Schüler nicht stigmatisieren möchten. Für diese Lehrkräfte hat das Projekt jetzt in Zusammenarbeit mit dem "Berliner Notdienst Kinderschutz" ein Beratungstelefon eingerichtet. Hier können sich die Pädagogen rund um die Uhr anonym Hilfe holen. Am Beratungstelefon werden sie auf Sozialpädagogen wie Sebastian Moritz treffen. Der hat sich mit einem Lehrgang von "Netwass" auf seine Aufgabe vorbereitet. Sebastian Moritz wird den Lehrern zunächst an die Hand geben, wo sie innerhalb der bestehenden Strukturen Hilfe bekommen können:
"Wichtig wäre für mich dann in der Rückfrage auch: Gibt es jemanden, der einen Zugang hat zu dem Jugendlichen - vielleicht auch zu den Eltern? Wenn es so ist, dass auch die Risikofaktoren, wie zum Beispiel Waffenbesitz, sehr, sehr klar sind, dann müssten wir auch darüber hinaus darauf hinarbeiten, dass da auch präventiv die Polizei tätig wird und da geguckt wird."
Erfahrungen mit dem Beratungstelefon liegen noch nicht vor; es ist erst seit drei Tagen geschaltet. Eines jedoch ist klar: Patentrezepte für pädagogisches Handeln können weder das Projekt "Netwass" noch das Beratungstelefon liefern. Die Krisenintervention selbst muss jede Schule individuell auf den Einzelfall zuschneiden.
Mehr Informationen:
NETWASS - frühzeitige Prävention schwerer zielgerichteter Gewalt an Schulen
Justus ist ein fiktiver Fall. "Aber typisch für krisenhafte Entwicklungen", meint Vincenz Leuschner von der Freien Universität in Berlin. Der Sozialwissenschaftler hat sämtliche Fälle schwerer Schulgewalt in Deutschland untersucht und festgestellt:
"Diese krisenhafte Entwicklung äußert sich ganz unterschiedlich; in jedem Fall haben die späteren Täter Hinweise nach außen hin durchsickern lassen. Das kann sein, dass es sich um Gewaltfantasien handelt, die mündlich oder schriftlich oder als Bild nach außen kommuniziert werden; es kann sich dabei um direkte Drohungen handeln oder um andere Auffälligkeiten, wie das übermäßige Interesse an Schusswaffen, an früheren Fällen schwerer Schulgewalt."
Laut Vincent Leuschner haben viele Schulen Probleme, die ausgesandten Warnsignale zu erkennen. Auf den fiktiven Fall bezogen könnte das heißen: Ein Lehrer ließ Justus Gewaltzeichnungen kommentarlos in den Papierkorb wandern, ein anderer ging über seinen sozialen Rückzug hinweg, der Sozialpädagoge schwieg über die Handyvideos und so weiter. Und so gab es vielleicht bei allen Beteiligten ein kurzes Befremden über Justus, aber niemand sah das Gesamtbild. Und deswegen schritt auch niemand ein, weiß Sozialwissenschaftler Leuschner:
"Das ist der Grund, weshalb in ganz vielen Fällen schwerer Schulgewalt diese im Vorfeld nicht erkannt wurden, weil diese Informationen zwar vorlagen, aber fragmentiert waren. Und das ganz Wichtige ist, dass wir erst mal in der Schule Strukturen schaffen, dass solche Informationen zusammengetragen werden."
Dafür wurde das Projekt "Netwass" entwickelt. "Netwass" bedeutet "Networks against School Shootings". Vincenz Leuschner verantwortet das Projekt am Fachbereich Erziehungswissenschaften der FU Berlin:
"Das Projekt selbst beinhaltet eine Schulung für ein sogenanntes Krisenpräventionsteam an den Schulen; in diesen Krisenpräventionsteams arbeiten in der Regel der Schulleiter, der Sozialarbeiter und ausgewählte Mitglieder des Kollegiums mit; und wir bilden sie quasi dahin gehend aus, solche Hinweise ernst zu nehmen und mit solchen Hinweisen umzugehen."
Mittlerweile gibt es bereits in Baden Württemberg, Brandenburg und Berlin insgesamt 100 derartige Krisenpräventionsteams. Lehrer, Sozialarbeiter und Klassenkameraden können sich an sie wenden, wenn sie einen Schüler für gefährdet halten. Das Team kann dann ein Gesamtbild einholen und gegebenenfalls eine Bedrohungsanalyse skizzieren. Viele Lehrer und Pädagogen machen jedoch ihre sorgenvollen Beobachtungen mit sich selbst aus. Sei es, weil sie sich im Kollegium nicht exponieren wollen, sei es, weil sie ihre Schüler nicht stigmatisieren möchten. Für diese Lehrkräfte hat das Projekt jetzt in Zusammenarbeit mit dem "Berliner Notdienst Kinderschutz" ein Beratungstelefon eingerichtet. Hier können sich die Pädagogen rund um die Uhr anonym Hilfe holen. Am Beratungstelefon werden sie auf Sozialpädagogen wie Sebastian Moritz treffen. Der hat sich mit einem Lehrgang von "Netwass" auf seine Aufgabe vorbereitet. Sebastian Moritz wird den Lehrern zunächst an die Hand geben, wo sie innerhalb der bestehenden Strukturen Hilfe bekommen können:
"Wichtig wäre für mich dann in der Rückfrage auch: Gibt es jemanden, der einen Zugang hat zu dem Jugendlichen - vielleicht auch zu den Eltern? Wenn es so ist, dass auch die Risikofaktoren, wie zum Beispiel Waffenbesitz, sehr, sehr klar sind, dann müssten wir auch darüber hinaus darauf hinarbeiten, dass da auch präventiv die Polizei tätig wird und da geguckt wird."
Erfahrungen mit dem Beratungstelefon liegen noch nicht vor; es ist erst seit drei Tagen geschaltet. Eines jedoch ist klar: Patentrezepte für pädagogisches Handeln können weder das Projekt "Netwass" noch das Beratungstelefon liefern. Die Krisenintervention selbst muss jede Schule individuell auf den Einzelfall zuschneiden.
Mehr Informationen:
NETWASS - frühzeitige Prävention schwerer zielgerichteter Gewalt an Schulen