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Amoralisches Spiel

Der 43-jährige Schweizer Igor Bauersima zählt zu den meistgespielten Autoren. Seine Stücke wurden in 20 Sprachen übersetzt und an mehr als 100 Theatern weltweit gespielt. Nun hat er in Stuttgart seine erste Oper auf die Bühne gebracht, Rossinis Spätwerk "Le Comte Ory".

Von Frieder Reininghaus |
    Erstaunlicherweise ging das Libretto bei der Zensur durch, obwohl diese unter Karl X. in Frankreich verschärft wurde. Der nachmals so erfolgreiche Eugène Scribe hatte in dem für Rossini 1828 gefertigten Textbuch die derbe Sexualkomik ebenso abgeschwächt wie den antiklerikalen Kick der alten Vorlage:

    Diese, eine "picardische Romanze", berichtete mit kaum verhohlener Schadenfreude davon, dass der notorische Schwerenöter Ory sich zusammen mit 14 seiner Ritter einst verkleidete. Als angeblich verfolgte Nonnen erlangen die Burschen nächtens Zutritt zu einem (von einer jungen Äbtissin geleiteten) Frauenkloster.Die Heimsuchung soll dann furchtbar-fruchtbare Wirkung gezeitigt haben.

    Scribe verlegte die aufgeheiterte Handlung in die ferne Kreuzritterzeit und aus dem Kloster in ein Château, dem die Männer wegen eines Sarazenen-Feldzugs abwesend waren. Wie bei da Pontes und Mozarts Don Giovanni geht es um höchst unbotmäßige Liebesbemühungen (bei Graf Ory gelten sie der schönen Gräfin Adèle).

    Wie bereits die unmittelbare Nachwelt aufmerksam registrierte, meinte es Don Giovanni allerdings grundsätzlich: Er wollte mit seinem maßlosen Begehren auf Erden schon seinen Himmel vorwegnehmen, stellte so die göttliche Ordnung provozierend in Frage und forderte die Strafe der höchsten Instanz geradezu heraus. Auch Comte Ory hat mit der Sphäre des Religiösen zu schaffen. Freilich auf weit harmlosere Art:

    Der Herr Graf, des Kämpfens gegen die "Ungläubigen" müde, desertiert. Er verkleidet sich als Eremit und Wunderheiler, der recht naive Landleute an der Nase herumführt und von der erotisch-sexuellen Unterversorgung der zu Hause zurückgebliebenen Frauen und Mädchen zu profitieren gedenkt. Ory ist und bleibt Trittbrettfahrer des Glaubensbedürfnisses wie der Gutgläubigkeit.
    Mit dem bocksbärtigen Angelo Scardino betritt ein sichtlich windiger Therapeut die Opernbühne, dessen Tenor in den Mittellagen verführerischen Schmelz entwickelt. Die Höhen der Grafen-Partie allerdings klingen meist allzu scharf und werden ohne geschmeidigen Registerausgleich angesteuert. An wirklich großer Eleganz fehlt es auch der Stimme der Gegenspielerin: Ina Kancheva singt als Adèle zwar weithin sauber und korrekt, entfaltet aber doch nicht die Strahlkraft einer überragenden Primadonna. So profilieren sich zwei der dramaturgisch-sozial niederer stehenden Frauen mit hervorragend geführten Mezzostimmen: Ezgi Kutlu als "Gesellschafterin" und Tina Hörhold als Page.
    Dass der erste Akt, in dem der Page die Idee der Verkleidung entwickelt und der zunächst inkognito operierende Graf sie sich aneignet (bis er enttarnt wird), in Stuttgart jetzt weniger konsistent wirkte als der zweite, mag am Werk liegen. Rossini hatte zunächst die Highlights aus der für die Krönung Karls X. bestimmten "Reise nach Reims" recycelt und manches nur bedingt schlüssig eingebunden.

    Der Regisseur und Ausstatter Igor Bauersima zeigte den mithin dramaturgisch problematischen ersten Teil als Vergnügungspark von heute - im Hintergrund Riesenrad, Karussell und sporadisches Feuerwerk. Dabei gab er die schöne Asymmetrie der originalen Szenenabweisung auf und rückte die "Klause" des Eremiten - ein dunkles Spiegelkabinett - in die Mitte zwischen zwei glitzernde "Amüsierlokale".

    Reichlich Video-Animation bestückt vor allem den Rahmen der Staatsopernbühne. Das von Bauersima praktizierte Prinzip der Ernüchterung, frei assoziativer Zusatzbebilderung und Aktualisierung funktioniert dann im zweiten Teil passabel: Die als Nonnen verkleideten Ritterrüpel kommen in so etwas wie den Wellness-Bereich einer modernen Wohnanlage. Der Orchestergraben dient als Bassin, ohne dass die nun inspirierter spielenden Musiker baden gingen. Das Bild parodierte eine Stuttgarter Inszenierung von Joachim Schlömer.

    Womöglich hat Bauersima im Sinne seiner theaterpädagogischen Erläuterungen fürs das Programmheft "alles richtig gemacht", zumindest weitgehend. Dennoch - oder gerade deswegen - ist kein wirklich prickelnder Theaterabend zustande gekommen: Seit wann muss eine elaborierte Opera buffa denn derart auf kleinste gesellschaftliche Konsensnenner hin an- und ausgelegt werden? Ein wenig weh tun dürfte eine Inszenierung schon!