Sabine Adler: Herr Lammert, herzlich willkommen bei uns im Studio des Hauptstadtstudios des Deutschlandfunks hier in Berlin. Der Bundespräsident ist gestern sozusagen mit einer "Punktlandung" gewählt worden, mit 613 Stimmen. Wir alle haben eine Nacht darüber geschlafen nach diesem ereignisreichen Tag - in mehrfacher Hinsicht. Was wünschen Sie sich von Horst Köhlers zweiter Amtszeit, was erwarten Sie von ihm?
Norbert Lammert: Ich persönlich erwarte in der zweiten Amtszeit keine großen Veränderungen. Der Vorschlag, ihn im Amt zu bestätigen, ist ja auch aus der Überzeugung entstanden, dass er sein Amt in einer in jeder Beziehung überzeugenden Weise wahrnimmt und deswegen kein Grund erkennbar ist, ihn nicht um eine zweite Amtszeit zu bitten. Es liegt in der Natur der Sache, dass ein Präsident, der nach der zweiten Amtszeit gar nicht wiedergewählt werden kann, auch noch ein Stück unabhängiger wird, weil er sich auch subjektiv gar nicht mehr in der Versuchung befindet, bei dieser oder jener Art von Einlassung, die ihn vielleicht persönlich wichtig erscheint, Rücksicht zu nehmen auf die Frage, ob dies in dieser oder jener Weise eine weitere Bestellung gefährden könnte.
Adler: Könnte das zum Beispiel bedeuten, dass Horst Köhler, der nicht zimperlich war mit seiner Kritik quer durch die Parteien, auch an den Parteien, zum Teil auch mit einem Generalvorwurf an die Parteien - dass er eben dann noch deutlicher werden könnte und noch unbequemer werden könnte?
Lammert: So ähnlich habe ich das ja gerade formuliert. Allerdings kann ich den ersten Teil Ihrer Frage so nicht bestätigen. Der Bundespräsident hat ja gerade vorgestern in seiner Rede zum Staatsakt "60 Jahre Bundesrepublik Deutschland", vielleicht zur Überraschung des einen oder anderen, ausdrücklich den Beitrag der Parteien zu dieser Nachkriegsgeschichte gewürdigt. Von einer prinzipiellen Fundamentalkritik des Bundespräsidenten an der Rolle der politischen Parteien war da nun wirklich nichts zu entdecken.
Adler: Er sprach schon aber auch davon - im Nachhinein in Interviews -, dass er sich falsch verstanden fühlte mit dieser Generalkritik an den Parteien. Kommen wir mal auf einen zweiten Gedanken, den er auch gestern noch nach der Wahl direkt angeregt hat, nämlich die Direktwahl des Staatsoberhauptes zu diskutieren, überhaupt andere direktere Formen der Mitbestimmung der Bürger zu diskutieren, als da wären eben Volksabstimmungen - beziehungsweise auch Verfassungsänderungen, wenn sie denn vorgenommen werden sollen, breit zu diskutieren. Nun kennt man Sie, Herr Lammert, als jemanden, der ein Verfechter, ein Vertreter eines puristischen Grundgesetzes ist, der solche Änderungen wahrscheinlich nur mit Graus und Schrecken sich vorzustellen mag. Ist das so?
Lammert: Graus und Schrecken ist jetzt wieder eine unnötige Dramatisierung, aber im Kern vermuten Sie richtig, dass ich die allermeisten der von Ihnen genannten Vorschläge natürlich für diskussionswürdig halte, aber nicht für wirklich entscheidungsreif und auch nicht für wirklich durchdacht. Ich will mit dem Stichwort "Direktwahl des Bundespräsidenten" beginnen, über die man natürlich diskutieren kann. Ich weiß auch gar nicht, wie häufig wir darüber schon diskutiert haben - zumindest nach meiner Erinnerung, ich habe jetzt an sechs Bundesversammlungen teilgenommen, mindestens sechsmal, nämlich immer dann, wenn ein Bundespräsident neu oder wiedergewählt worden ist, ob es nicht viel klüger sei und schon gar reifer für eine stabile Demokratie, den Bundespräsidenten direkt zu wählen. Dabei wird regelmäßig übersehen, dass die Direktwahl des Bundespräsidenten - bei gleichzeitiger indirekter Wahl aller anderen Verfassungsorgane mit Ausnahme des Bundestages - die politische Architektur der Bundesrepublik nachhaltig verändern würde. Und jedenfalls kann man nicht für die Direktwahl des Bundespräsidenten sein in der treuherzigen Vorstellung, und alles andere bleibe selbstverständlich so, wie es immer schon war. Es würde eine nachhaltige Verschiebung in den politischen Gewichten bedeuten, wenn der Präsident seine Wahl einer Urwahl der Wählerinnen und Wähler verdankt, während der Kanzler oder die Kanzlerin indirekt, nämlich über den Bundestag gewählt bleibt und damit übrigens auch jederzeit aus dem Amt gewählt werden kann. Und diese Zusammenhänge werden regelmäßig entweder übersehen oder verdrängt. Und wenn es richtig ist, denn diese Überzeugung teilen ja offenkundig neun von zehn Mitbürgerinnen und Mitbürgern, dass wir mit diesem Grundgesetz im Ganzen glänzend gefahren sind, dann empfiehlt es sich sehr, bei dieser bewährten Architektur zu bleiben.
Adler: Kommen wir vielleicht noch mal auf den gestrigen Tag zurück. Vor nicht einmal 24 Stunden hat das Ereignis begonnen, haben Sie die Bundesversammlung eröffnet. Die Wahl ist im ersten Anlauf erfolgt, was früher klar war, als Sie selbst verkünden konnten, weil ein Orchester in den Plenarsaal marschiert war - ein kleines Orchester, fünf Leute -, weil Blumensträuße hereingebracht wurden, weil sogar schon die Abstimmungszahl - 613 - kursierte. Was ist da schief gelaufen?
Lammert: Also, das muss man jetzt ein bisschen sortieren. Ich beginne mal damit, dass wir ein Wahlergebnis hatten, das, wie Sie das selbst gerade genannt haben, eine "Punktlandung" war. Das heißt, nach dem ausgezählten Ergebnis war ein zweiter Wahlgang nicht erforderlich - wenn denn das Ergebnis richtig ermittelt war. Umgekehrt: Wenn unter mehr als 1200 abgegebenen Stimmen auch nur eine einzige Stimme zufällig in den falschen Auszählungsblock geraten sein sollte, hätte ein zweiter Wahlgang stattfinden müssen. Und deswegen waren natürlich alle Beteiligten, ohne auch nur einen Augenblick darüber zu diskutieren, sich darüber einig, dass ein zweites Mal ausgezählt werden muss, um jedes denkbare Fehlerrisiko zu vermeiden. Damit ergab sich notwendigerweise eine technische Lücke von einer knappen halben Stunde zwischen der Ermittlung des ersten Ergebnisses und der - ich sage jetzt mal - amtlichen Ermittlung des Ergebnisses. Dass sich bei etwa 30, 40 beteiligten Schriftführerinnen und Schriftführern und Assistenten beispielsweise zu den Medien, die anschließend mit einer bemerkenswerten Treuherzigkeit so tun, als hätten sie erst durch das Hereintragen von Blumensträußen eine erste Ahnung vom möglichen Ergebnis erhalten, das im ersten Auszählverfahren ermittelte Ergebnis durchspricht, und dass es sich auch an die Fraktions- und Parteiführungen durchspricht, die dann auch vor dem Herbeischaffen von Blumensträußen schon in dieser und jener unübersehbaren Geste dem einen oder anderen Kandidaten in schonender Weise beibringen, dass es weitere Wahlgänge nicht gibt, das ist alles keine Uraufführung bei dieser Bundesversammlung gewesen.
Adler: Das heißt auch, das kennen Sie schon aus den sechs vergangenen Wahlen?
Lammert: Natürlich, und die meisten Journalisten auch.
Adler: Und das Ganze - nun haben sich trotzdem alle wieder gebührend darüber aufgeregt, wie Sie sagen, ein bisschen künstlich darüber erregt. Nun ist es als Geste der unterlegenen Kandidaten - oder der einen ernst zu nehmenden unterlegenen Kandidatin vielleicht in diesem Fall - war da eine Stimmung in diesem Saal - zu applaudieren, sich zu freuen, bevor das Ergebnis bekannt gegeben wurde - das hat von wenig Fairness gezeugt.
Lammert: Ja, das kann ich nachempfinden, wobei im übrigen Frau Schwan, mit der ich selber nach Ende der Veranstaltung gesprochen habe, mir selber eine solche Beschwerde nicht vorgetragen hat. Aber unabhängig davon, ob sie sich selber dadurch in irgendeiner Weise beschwert gefühlt hat oder nicht: Ich hätte mir das natürlich auch anders gewünscht. Aber das gehört zu diesen weder geplanten noch wirklich vermeidbaren Randbedingungen, die eben auch bei großen Ereignissen immer mal wieder passieren. Das entspricht im übrigen in der Lebenserfahrung. So was kommt bei Familienfesten vor, bei Betriebsfeiern, und mit Ausnahme von Rundfunk- und Fernsehanstalten lässt es sich im Rest einer lebendigen Gesellschaft nicht wirklich verlässlich vermeiden.
Adler: Ich würde gerne noch zwei Fragen von Ihnen beantwortet wissen - zum gestrigen Tag. Erstens, wie oft wurde tatsächlich gezählt, also zweimal, ich meine, Sie hatten das schon angedeutet. Wo war der Bundespräsident in der Zwischenzeit?
Lammert: Der Bundespräsident war vereinbarungsgemäß während des Wahlvorgangs in seinen Dienstsitz zurückgefahren. Und wir hatten miteinander vereinbart, dass wir ihn nach Auszählung des Ergebnisses unterrichten würden, damit er etwa parallel zu dann allmählich wieder in den Saal kommenden Delegierten im Reichstag würde sein können. Das hat sich aufgrund der vorhin genannten Prozedur ein bisschen in den Zeitabläufen verschoben, zumal meine Ankündigung an die Delegierten, dass man mit einer etwa 40- bis 45-minütigen Auszählung rechnen müsse und ich gegen zwei Uhr die unterbrochene Sitzung wieder eröffnen würde, dann auch prompt in der Weise umsetzte, dass die Delegierten wirklich alle ab zwei Uhr gespannt da wieder auf ihren Plätzen saßen.
Adler: Da waren sie dann ausnahmsweise disziplinierter als Sie erwartet hatten.
Lammert: Zu dem Zeitpunkt stand nicht einmal das erste Auszählungsergebnis fest.
Adler: Herr Lammert, Horst Köhler ist angetreten, obwohl er sich darüber im Klaren war, dass er auf die Stimmen der SPD verzichten musste. Ist er damit ein überaus demokratischer Präsident?
Lammert: Kandidaten können sich in der Regel nicht aussuchen, ob sie von diesen oder jenen auch oder auf gar keinen Fall gewählt werden sollen. In dieser konkreten Situation hat er unter den Bedingungen einer Koalition, die von den beiden großen Parteien gebildet wird, während der im Amt befindliche Bundespräsident von einer anderen Parteienkonstellation vorgeschlagen war, nämlich von CDU/CSU und FDP, der andere Koalitionspartner für sich die Frage zu entscheiden, ob er gleichwohl einen eigenen Kandidaten oder eine eigene Kandidatin aufstellen wollte. Das ist selbstverständlich sein gutes Recht und es entspricht in vollem Umfang unseren demokratischen Gepflogenheiten, erstens, dass es überhaupt Alternativen gibt, und dass natürlich auch Amtsinhaber nicht unter Denkmalschutz stehen, sondern sich einer demokratischen Wahl stellen. Daran kann ich nichts finden, was zu beanstanden wäre.
Adler: Gesine Schwan wurden vermutlich gestern Stimmen verweigert. Sie hat weniger bekommen, als aus ihrem Lager denkbar gewesen wären, unter anderem für eine Äußerung, die sie nicht getan hat, nämlich die DDR einen Unrechtsstaat zu benennen. Diese Debatte, auch am Abend zuvor in der Grünen-Fraktion, die dort sehr hoch gekocht sein muss, hat gezeigt, wie empfindlich das Land immer noch genau auf diese Bezeichnung reagiert, wie sich da offenbar tatsächlich die Bevölkerung teilt, wie man überhaupt da keinen Konsens finden kann, immer noch nicht, dass man da einen wunden Punkt trifft. Was folgt für Sie daraus? Ist es Zeit, diese Debatte unbedingt zu führen?
Lammert: Wenn schon bestimmte Begriffe, die ja eigentlich mal für sich betrachtet doch noch nicht eine besondere emotionale Aufladung erkennen lassen, also nicht erkennbar in provozierender Absicht verwendet werden, wenn die schon eine solche polarisierende Wirkung entfalten, was im konkreten Fall ja nicht zu übersehen ist, dann ist das ein starkes Indiz für die Notwendigkeit einer gründlichen Debatte. Was ich in dem Zusammenhang nicht immer sehr fair finde, ist die Erwartung insbesondere an Klärungsprozesse in der früheren DDR oder im jetzigen östlichen Teil des wiedervereinigten Deutschlands, dass dies nun aber gefälligst aber mal zu einem abschließenden und natürlich rundum überzeugenden Ergebnis führen müsse. Dabei wird regelmäßig unterschlagen, dass ähnliche Klärungsprozesse in Westdeutschland nach dem Zweiten Weltkrieg in 20 Jahren natürlich nicht zu einem überzeugenden Ende gekommen waren. Und ich finde, wenn ich dies nebeneinander lege, eher überraschend und eher ermutigend, wie schnell Integrationsprozesse, auch Diskussionsprozesse, im Umgang mit der DDR und dem Charakter dieses Staates und den Mitwirkungen des einen oder anderen und Verwobenheiten und Verflechtungen, die sich daraus ergeben, wie konsequent und vergleichsweise schnell diese Diskussion stattfindet als dass ich Anlass zur Klage sähe, da fände eine systematische Verdrängung statt.
Adler: Es gibt ja eigentlich fast eine Parallele. Wir haben jetzt 20 Jahre nach dem Ende der DDR, wir haben gut 40 Jahre nach dem Beginn der Studentenproteste, vor allem zunächst in Westberlin, dann in der Bundesrepublik. Wir haben ein sehr, sehr frisches, sehr neues, sehr überraschendes Detail in dieser Woche erfahren, nämlich, dass der Mörder von Benno Ohnesorg ein Stasi-Spitzel gewesen sein soll. Vielleicht kann man das sogar auch noch mit mehr Wahrscheinlichkeit so ausdrücken, dass er das wohl war. Was heißt das eigentlich für die Arbeit der Stasiunterlagenbehörde? Ist sie katastrophal gering mit Forschern ausgestattet, dass eine solche Überraschung 20 Jahre später erst gelingen kann?
Lammert: Ja, mir fällt natürlich zu diesem Stichwort jetzt vielerlei ein. Ich beginne mal damit, dass es zunächst mal die Notwendigkeit einer solchen Behörde belegt. Und manche, die nun wiederum dieser Behörde sehr schnell sehr eifrig vorwerfen, dass sie diese Erkenntnis doch viel früher hätte haben können und müssen, vermeintlich vielleicht sogar längst gehabt habe, aber aus welchem Grund auch immer nicht öffentlich gemacht habe, haben noch vor vergleichsweise kurzer Zeit Zweifel an der Notwendigkeit der Behörde geäußert. Da gibt es gelegentlich also auch einen bemerkenswert virtuosen Umgang mit Sachverhalten. Zweitens: Wir machen hier ja wiederum nicht zum ersten Mal die Erfahrung, dass ein riesiges nicht rundum aufgearbeitetes Material oft erst Jahre später zu Funden führt, die bestimmte Ereignisse oder Sachverhalte in ein völlig neues Licht stellt, wobei ich nun allerdings drittens empfehle, nicht gewissermaßen im Sekundentakt auf den überraschenden Befund schon wiederum mit den ultimativen Schlussfolgerungen aufzuwarten. Außer dem Umstand, dass es diese Verbindung gab, wissen wir nach meiner Kenntnis im Augenblick nichts, jedenfalls nichts wirklich Belastbares. Ob dieser Fund alleine, wie Stefan Aust, der langjährige Spiegelredakteur und fraglos Sachverständiger im Umgang mit dem Thema Studentenbewegung, bemerkt hat, ob dieser Befund, wie er schreibt, alles ändert, weiß ich so genau nicht. Es ist ganz sicher ein hochbemerkenswerter Befund, weil dieses damalige Ereignis die Protestbewegung zwar nicht begründet, aber nachweislich in bemerkenswerter Weise befördert hat. Und allein der Umstand, dass die "Bewegung 2. Juni" sich ja nach diesem Datum benannt hat, zeigt die Schlüsselbedeutung, die in der Wahrnehmung vieler junger Leute damals dieses Ereignis hatte. Dass jedenfalls die damals mit Fleiß vertretene Behauptung, und nun lasse dieser Staat auf Protestanten schießen, sich im Lichte dieses Befundes wohl schwerlich wird aufrecht erhalten lassen, das gehört zu den vorsichtigen Anmerkungen, auf die ich mich im Augenblick beschränken möchte.
Adler: Dennoch wird es weiter gehen müssen. Im Fall Kurras ist von der Überprüfung der Pensionsansprüche zum Beispiel die Rede, die dieser ehemalige Beamte ja bezieht beziehungsweise überhaupt von der Notwendigkeit der neu aufzurollenden Ermittlung. Erwarten Sie auch so was?
Lammert: Das haben nun die dafür zuständigen Behörden zu klären und zu entscheiden. Und ich glaube, man erleichtert denen die ruhige, sachliche und vor allen Dingen sachgerechte Entscheidung nicht, wenn es nun möglichst viele anfeuernde Kommentare dazu gibt.
Adler: Historiker haben unter anderem auch immer wieder gefordert, dass die westlichen Spitzel der Stasi, deren Rolle - und: wer war das eigentlich überhaupt -, dass man sich mit dieser Arbeit sehr viel umfassender beschäftigen sollte. Ist da auch der Bundestag gefordert?
Lammert: Er ist ganz sicher auch gefordert, weil sich ja immer mindestens zwei Fragen stellen, bei denen er dann direkt oder indirekt involviert ist. Die eine Frage haben Sie selber vorhin schon mal in einem Nebensatz angedeutet, ob diese Behörde hinreichend ausgestattet ist, um die Aufgaben zu erledigen, die sie erledigen soll, wobei ich auch da allerdings vor maximalen Erwartungen warne. Die Fülle des vorhandenen Materials lässt sich nicht in kurzer Zeit abschließend aufarbeiten. Manches ergibt sich später dann auch erst durch Entdecken von Zusammenhängen, die sich aus den ermittelten, aufarbeiteten, gelesenen, durchgesehenen, analysierten Unterlagen noch gar nicht erschließen. Gleichwohl, diese Frage stellt sich immer mal wieder, ob im Ganzen und im Einzelnen der notwendige Sachverstand in der notwendigen Personalstärke da gegeben ist, wenngleich die allermeisten schon jetzt eine eher niedliche Vorstellung von der Größe dieser Behörde haben. Die gehört zu den größten Bundesbehörden, die wir überhaupt in der Republik haben.
Adler: Der Deutschlandfunk, das Interview der Woche, heute live hier im Hauptstadtstudio des Deutschlandfunks mit Norbert Lammert, dem Präsidenten des Deutschen Bundestages. Herr Lammert, wir haben oft über das Grundgesetz gesprochen. Das Grundgesetz soll verändert werden. Es soll eine Schuldenbremse eingefügt werden, wenn alles gut geht, dann noch in dieser Legislaturperiode. Zeugt dieses Vorhaben nicht von einem unglaublichen
Egoismus der jetzt Agierenden, die möglicherweise doch die Zahl der Jahre, in der sie in Amt und Würden sind, überschauen können, und zeugt es davon, dass den nachfolgenden, jetzt jungen Kollegen ein so enger Spielraum nur noch überlassen wird, mit dem sie kaum zurecht kommen werden, in dem sie kaum agieren können?
Lammert: Die Kritik, die hier jetzt in Ihrer Frage deutlich wird, geht über meine kritischen Anmerkungen noch deutlich hinaus. Ich halte die Überlegung, die in der Föderalismusreform zwischen Vertretern des Bundestages und Vertretern der Länder angestellt worden ist, nicht nur für nachvollziehbar, sondern auch für richtig, ob wir nicht nach einer Sondersituation, in der wir genötigt waren, in einer nicht geplanten, unvorhersehbaren Weise öffentliche Schulden aufzunehmen, nun auch zeitnah einen Mechanismus vereinbaren müssen, der sicherstellt, dass daraus keine ständige Regel wird, sondern dass der Ausnahmecharakter auch durch vereinbarte, belastbare Mechanismen zur Rückführung der Verschuldung gewissermaßen ausgeglichen wird. Bis dahin, glaube ich, kann man und sollte man diesen Überlegungen folgen. Ich finde zweierlei unmaßstäblich und halte deswegen die dafür vorgesehenen Grundgesetzänderungen allein im Umfang für unangemessen und unberechtigt. Zum einen wird hier bis ins Detail hinein, wie man sich eher von Ausführungsbestimmungen eines Staatsvertrages vorstellen würde als von Bestimmungen des Grundgesetzes, in Jahresszahlen und Eurobeträgen festgelegt, welche Länder wann welchen Anspruch auf welche Bundesmittel haben sollen, um danach einer solchen Verpflichtung überhaupt nachkommen zu können. Das gehört, mit Verlaub, ganz sicher nicht ins Grundgesetz. Und zweitens in dieser Neigung, das, was einem wichtig ist - und das war ja auch Gegenstand Ihrer Frage - gleich ins Grundgesetz zu schreiben um es möglichst späteren Korrekturen zu entziehen, jedenfalls die Hürden für spätere Korrekturen so hoch wie eben möglich zu machen, kommt auch ein Anspruch zum Ausdruck, den ich für unangemessen halte. Es liegt im Wesen einer parlamentarischen Demokratie, dass die Wählerinnen und Wähler mit ihren jeweiligen Mehrheiten alle vier Jahre neu darüber entscheiden, von wem sie regiert werden wollen beziehungsweise welcher politischen Gruppierung sie eine politische Gestaltungsaufgabe übertragen wollen. Und je mehr der Verfassungsgesetzgeber an politischen Gestaltungsabsichten in die Verfassung schreibt, desto geringer werden die Entscheidungsspielräume künftiger Generationen und vor allen Dingen auch künftiger demokratischer Mehrheiten. Das ist verfassungspolitisch, wie ich finde, nicht in Ordnung.
Adler: Wir haben eine Wahl hinter uns, die gestrige. In 14 Tagen steht die nächste Wahl an, die Europawahl. Eine Personalie, die nicht entschieden wird am 7. Juni, die aber mit Europa in Zusammenhang steht, ist die des EU-Kommissars, den Deutschland stellen möchte. Im Gespräch ist ein Name, nämlich Friedrich Merz. Würden Sie die Kanzlerin ebenso ermutigen, wie das andere Parteifreunde von Ihnen tun, nämlich Friedrich Merz zu puschen in dieses Amt?
Lammert: Ich glaube nicht, dass die Kanzlerin der persönlichen Ermutigung für Personalentscheidungen bedarf.
Adler: Zumindest ist Friedrich Merz ja nun eindeutiger Gegner der Kanzlerin beziehungsweise sie lieben sich nicht gerade.
Lammert: Man muss sich auch nicht lieben, wenn es um die Benennung von geeigneten Kandidaten für herausragende Ämter geht. Es hat ja niemand vorgeschlagen, dass die beiden heiraten sollen, sondern es geht darum, ob sich eine solche Konstellation möglicherweise als besonders hilfreich erweisen könnte. Ich halte diese Überlegung, die auch nicht völlig neu ist, für einigermaßen nahe liegend, aber eben doch für hochgradig spekulativ, zumal im Augenblick überhaupt noch niemand die Konstellationen kennt, die nach dem Ausgang der Europawahlen am 7. Juni besteht mit Blick auf die Bildung der Kommission, ihres künftigen Präsidenten und seiner Vorstellung über die Zusammensetzung der Kommission. Und deswegen sollte man das jetzt mal in Ruhe abwarten.
Adler: Nun sind die Tage der Großen Koalition gezählt, oder sagen wir die Wochen, bei den Tagen wären es doch noch einige. Mit welchem Gefühl gehen Sie sozusagen in die drittletzte Sitzungswoche, die diese Woche beginnen wird?
Lammert: Also, wie immer sind die letzten Wochen einer Legislaturperiode durch eine Mischung von Hektik und Wehmut gekennzeichnet. Hektik weil nun auf einmal ganz vieles noch ganz schnell gemacht werden soll, übrigens mit den Fehlerrisiken, die sich aus solchen beschleunigten Verfahren dann natürlich sehr leicht ergeben, Wehmut deswegen, weil man ja auch weiß, dass in der Regel ein Viertel bis ein Drittel der Mitglieder des Bundestages nicht wiederkommen, teils freiwillig, teils aufgrund des Wählerentscheids. Ich glaube, dass die Legislaturperiode mit mehr zeitlichem Abstand eine sehr viel freundlichere Beurteilung erfahren wird als das über große Teile dieser Legislaturperiode der Fall war. Große Koalitionen sind nie beliebt und alle Beteiligten empfinden sie auch als Ausnahmezustand, aber sie sind meist besser als ihr Ruf.
Adler: Und das war das Interview der Woche im Deutschlandfunk, heute live aus dem Hauptstadtstudio hier in Berlin. Zu Gast war der Präsident des Deutschen Bundestages Norbert Lammert. Herr Lammert, haben Sie ganz herzlichen Dank für das Gespräch.
Lammert: Ich bedanke mich ebenfalls.
Norbert Lammert: Ich persönlich erwarte in der zweiten Amtszeit keine großen Veränderungen. Der Vorschlag, ihn im Amt zu bestätigen, ist ja auch aus der Überzeugung entstanden, dass er sein Amt in einer in jeder Beziehung überzeugenden Weise wahrnimmt und deswegen kein Grund erkennbar ist, ihn nicht um eine zweite Amtszeit zu bitten. Es liegt in der Natur der Sache, dass ein Präsident, der nach der zweiten Amtszeit gar nicht wiedergewählt werden kann, auch noch ein Stück unabhängiger wird, weil er sich auch subjektiv gar nicht mehr in der Versuchung befindet, bei dieser oder jener Art von Einlassung, die ihn vielleicht persönlich wichtig erscheint, Rücksicht zu nehmen auf die Frage, ob dies in dieser oder jener Weise eine weitere Bestellung gefährden könnte.
Adler: Könnte das zum Beispiel bedeuten, dass Horst Köhler, der nicht zimperlich war mit seiner Kritik quer durch die Parteien, auch an den Parteien, zum Teil auch mit einem Generalvorwurf an die Parteien - dass er eben dann noch deutlicher werden könnte und noch unbequemer werden könnte?
Lammert: So ähnlich habe ich das ja gerade formuliert. Allerdings kann ich den ersten Teil Ihrer Frage so nicht bestätigen. Der Bundespräsident hat ja gerade vorgestern in seiner Rede zum Staatsakt "60 Jahre Bundesrepublik Deutschland", vielleicht zur Überraschung des einen oder anderen, ausdrücklich den Beitrag der Parteien zu dieser Nachkriegsgeschichte gewürdigt. Von einer prinzipiellen Fundamentalkritik des Bundespräsidenten an der Rolle der politischen Parteien war da nun wirklich nichts zu entdecken.
Adler: Er sprach schon aber auch davon - im Nachhinein in Interviews -, dass er sich falsch verstanden fühlte mit dieser Generalkritik an den Parteien. Kommen wir mal auf einen zweiten Gedanken, den er auch gestern noch nach der Wahl direkt angeregt hat, nämlich die Direktwahl des Staatsoberhauptes zu diskutieren, überhaupt andere direktere Formen der Mitbestimmung der Bürger zu diskutieren, als da wären eben Volksabstimmungen - beziehungsweise auch Verfassungsänderungen, wenn sie denn vorgenommen werden sollen, breit zu diskutieren. Nun kennt man Sie, Herr Lammert, als jemanden, der ein Verfechter, ein Vertreter eines puristischen Grundgesetzes ist, der solche Änderungen wahrscheinlich nur mit Graus und Schrecken sich vorzustellen mag. Ist das so?
Lammert: Graus und Schrecken ist jetzt wieder eine unnötige Dramatisierung, aber im Kern vermuten Sie richtig, dass ich die allermeisten der von Ihnen genannten Vorschläge natürlich für diskussionswürdig halte, aber nicht für wirklich entscheidungsreif und auch nicht für wirklich durchdacht. Ich will mit dem Stichwort "Direktwahl des Bundespräsidenten" beginnen, über die man natürlich diskutieren kann. Ich weiß auch gar nicht, wie häufig wir darüber schon diskutiert haben - zumindest nach meiner Erinnerung, ich habe jetzt an sechs Bundesversammlungen teilgenommen, mindestens sechsmal, nämlich immer dann, wenn ein Bundespräsident neu oder wiedergewählt worden ist, ob es nicht viel klüger sei und schon gar reifer für eine stabile Demokratie, den Bundespräsidenten direkt zu wählen. Dabei wird regelmäßig übersehen, dass die Direktwahl des Bundespräsidenten - bei gleichzeitiger indirekter Wahl aller anderen Verfassungsorgane mit Ausnahme des Bundestages - die politische Architektur der Bundesrepublik nachhaltig verändern würde. Und jedenfalls kann man nicht für die Direktwahl des Bundespräsidenten sein in der treuherzigen Vorstellung, und alles andere bleibe selbstverständlich so, wie es immer schon war. Es würde eine nachhaltige Verschiebung in den politischen Gewichten bedeuten, wenn der Präsident seine Wahl einer Urwahl der Wählerinnen und Wähler verdankt, während der Kanzler oder die Kanzlerin indirekt, nämlich über den Bundestag gewählt bleibt und damit übrigens auch jederzeit aus dem Amt gewählt werden kann. Und diese Zusammenhänge werden regelmäßig entweder übersehen oder verdrängt. Und wenn es richtig ist, denn diese Überzeugung teilen ja offenkundig neun von zehn Mitbürgerinnen und Mitbürgern, dass wir mit diesem Grundgesetz im Ganzen glänzend gefahren sind, dann empfiehlt es sich sehr, bei dieser bewährten Architektur zu bleiben.
Adler: Kommen wir vielleicht noch mal auf den gestrigen Tag zurück. Vor nicht einmal 24 Stunden hat das Ereignis begonnen, haben Sie die Bundesversammlung eröffnet. Die Wahl ist im ersten Anlauf erfolgt, was früher klar war, als Sie selbst verkünden konnten, weil ein Orchester in den Plenarsaal marschiert war - ein kleines Orchester, fünf Leute -, weil Blumensträuße hereingebracht wurden, weil sogar schon die Abstimmungszahl - 613 - kursierte. Was ist da schief gelaufen?
Lammert: Also, das muss man jetzt ein bisschen sortieren. Ich beginne mal damit, dass wir ein Wahlergebnis hatten, das, wie Sie das selbst gerade genannt haben, eine "Punktlandung" war. Das heißt, nach dem ausgezählten Ergebnis war ein zweiter Wahlgang nicht erforderlich - wenn denn das Ergebnis richtig ermittelt war. Umgekehrt: Wenn unter mehr als 1200 abgegebenen Stimmen auch nur eine einzige Stimme zufällig in den falschen Auszählungsblock geraten sein sollte, hätte ein zweiter Wahlgang stattfinden müssen. Und deswegen waren natürlich alle Beteiligten, ohne auch nur einen Augenblick darüber zu diskutieren, sich darüber einig, dass ein zweites Mal ausgezählt werden muss, um jedes denkbare Fehlerrisiko zu vermeiden. Damit ergab sich notwendigerweise eine technische Lücke von einer knappen halben Stunde zwischen der Ermittlung des ersten Ergebnisses und der - ich sage jetzt mal - amtlichen Ermittlung des Ergebnisses. Dass sich bei etwa 30, 40 beteiligten Schriftführerinnen und Schriftführern und Assistenten beispielsweise zu den Medien, die anschließend mit einer bemerkenswerten Treuherzigkeit so tun, als hätten sie erst durch das Hereintragen von Blumensträußen eine erste Ahnung vom möglichen Ergebnis erhalten, das im ersten Auszählverfahren ermittelte Ergebnis durchspricht, und dass es sich auch an die Fraktions- und Parteiführungen durchspricht, die dann auch vor dem Herbeischaffen von Blumensträußen schon in dieser und jener unübersehbaren Geste dem einen oder anderen Kandidaten in schonender Weise beibringen, dass es weitere Wahlgänge nicht gibt, das ist alles keine Uraufführung bei dieser Bundesversammlung gewesen.
Adler: Das heißt auch, das kennen Sie schon aus den sechs vergangenen Wahlen?
Lammert: Natürlich, und die meisten Journalisten auch.
Adler: Und das Ganze - nun haben sich trotzdem alle wieder gebührend darüber aufgeregt, wie Sie sagen, ein bisschen künstlich darüber erregt. Nun ist es als Geste der unterlegenen Kandidaten - oder der einen ernst zu nehmenden unterlegenen Kandidatin vielleicht in diesem Fall - war da eine Stimmung in diesem Saal - zu applaudieren, sich zu freuen, bevor das Ergebnis bekannt gegeben wurde - das hat von wenig Fairness gezeugt.
Lammert: Ja, das kann ich nachempfinden, wobei im übrigen Frau Schwan, mit der ich selber nach Ende der Veranstaltung gesprochen habe, mir selber eine solche Beschwerde nicht vorgetragen hat. Aber unabhängig davon, ob sie sich selber dadurch in irgendeiner Weise beschwert gefühlt hat oder nicht: Ich hätte mir das natürlich auch anders gewünscht. Aber das gehört zu diesen weder geplanten noch wirklich vermeidbaren Randbedingungen, die eben auch bei großen Ereignissen immer mal wieder passieren. Das entspricht im übrigen in der Lebenserfahrung. So was kommt bei Familienfesten vor, bei Betriebsfeiern, und mit Ausnahme von Rundfunk- und Fernsehanstalten lässt es sich im Rest einer lebendigen Gesellschaft nicht wirklich verlässlich vermeiden.
Adler: Ich würde gerne noch zwei Fragen von Ihnen beantwortet wissen - zum gestrigen Tag. Erstens, wie oft wurde tatsächlich gezählt, also zweimal, ich meine, Sie hatten das schon angedeutet. Wo war der Bundespräsident in der Zwischenzeit?
Lammert: Der Bundespräsident war vereinbarungsgemäß während des Wahlvorgangs in seinen Dienstsitz zurückgefahren. Und wir hatten miteinander vereinbart, dass wir ihn nach Auszählung des Ergebnisses unterrichten würden, damit er etwa parallel zu dann allmählich wieder in den Saal kommenden Delegierten im Reichstag würde sein können. Das hat sich aufgrund der vorhin genannten Prozedur ein bisschen in den Zeitabläufen verschoben, zumal meine Ankündigung an die Delegierten, dass man mit einer etwa 40- bis 45-minütigen Auszählung rechnen müsse und ich gegen zwei Uhr die unterbrochene Sitzung wieder eröffnen würde, dann auch prompt in der Weise umsetzte, dass die Delegierten wirklich alle ab zwei Uhr gespannt da wieder auf ihren Plätzen saßen.
Adler: Da waren sie dann ausnahmsweise disziplinierter als Sie erwartet hatten.
Lammert: Zu dem Zeitpunkt stand nicht einmal das erste Auszählungsergebnis fest.
Adler: Herr Lammert, Horst Köhler ist angetreten, obwohl er sich darüber im Klaren war, dass er auf die Stimmen der SPD verzichten musste. Ist er damit ein überaus demokratischer Präsident?
Lammert: Kandidaten können sich in der Regel nicht aussuchen, ob sie von diesen oder jenen auch oder auf gar keinen Fall gewählt werden sollen. In dieser konkreten Situation hat er unter den Bedingungen einer Koalition, die von den beiden großen Parteien gebildet wird, während der im Amt befindliche Bundespräsident von einer anderen Parteienkonstellation vorgeschlagen war, nämlich von CDU/CSU und FDP, der andere Koalitionspartner für sich die Frage zu entscheiden, ob er gleichwohl einen eigenen Kandidaten oder eine eigene Kandidatin aufstellen wollte. Das ist selbstverständlich sein gutes Recht und es entspricht in vollem Umfang unseren demokratischen Gepflogenheiten, erstens, dass es überhaupt Alternativen gibt, und dass natürlich auch Amtsinhaber nicht unter Denkmalschutz stehen, sondern sich einer demokratischen Wahl stellen. Daran kann ich nichts finden, was zu beanstanden wäre.
Adler: Gesine Schwan wurden vermutlich gestern Stimmen verweigert. Sie hat weniger bekommen, als aus ihrem Lager denkbar gewesen wären, unter anderem für eine Äußerung, die sie nicht getan hat, nämlich die DDR einen Unrechtsstaat zu benennen. Diese Debatte, auch am Abend zuvor in der Grünen-Fraktion, die dort sehr hoch gekocht sein muss, hat gezeigt, wie empfindlich das Land immer noch genau auf diese Bezeichnung reagiert, wie sich da offenbar tatsächlich die Bevölkerung teilt, wie man überhaupt da keinen Konsens finden kann, immer noch nicht, dass man da einen wunden Punkt trifft. Was folgt für Sie daraus? Ist es Zeit, diese Debatte unbedingt zu führen?
Lammert: Wenn schon bestimmte Begriffe, die ja eigentlich mal für sich betrachtet doch noch nicht eine besondere emotionale Aufladung erkennen lassen, also nicht erkennbar in provozierender Absicht verwendet werden, wenn die schon eine solche polarisierende Wirkung entfalten, was im konkreten Fall ja nicht zu übersehen ist, dann ist das ein starkes Indiz für die Notwendigkeit einer gründlichen Debatte. Was ich in dem Zusammenhang nicht immer sehr fair finde, ist die Erwartung insbesondere an Klärungsprozesse in der früheren DDR oder im jetzigen östlichen Teil des wiedervereinigten Deutschlands, dass dies nun aber gefälligst aber mal zu einem abschließenden und natürlich rundum überzeugenden Ergebnis führen müsse. Dabei wird regelmäßig unterschlagen, dass ähnliche Klärungsprozesse in Westdeutschland nach dem Zweiten Weltkrieg in 20 Jahren natürlich nicht zu einem überzeugenden Ende gekommen waren. Und ich finde, wenn ich dies nebeneinander lege, eher überraschend und eher ermutigend, wie schnell Integrationsprozesse, auch Diskussionsprozesse, im Umgang mit der DDR und dem Charakter dieses Staates und den Mitwirkungen des einen oder anderen und Verwobenheiten und Verflechtungen, die sich daraus ergeben, wie konsequent und vergleichsweise schnell diese Diskussion stattfindet als dass ich Anlass zur Klage sähe, da fände eine systematische Verdrängung statt.
Adler: Es gibt ja eigentlich fast eine Parallele. Wir haben jetzt 20 Jahre nach dem Ende der DDR, wir haben gut 40 Jahre nach dem Beginn der Studentenproteste, vor allem zunächst in Westberlin, dann in der Bundesrepublik. Wir haben ein sehr, sehr frisches, sehr neues, sehr überraschendes Detail in dieser Woche erfahren, nämlich, dass der Mörder von Benno Ohnesorg ein Stasi-Spitzel gewesen sein soll. Vielleicht kann man das sogar auch noch mit mehr Wahrscheinlichkeit so ausdrücken, dass er das wohl war. Was heißt das eigentlich für die Arbeit der Stasiunterlagenbehörde? Ist sie katastrophal gering mit Forschern ausgestattet, dass eine solche Überraschung 20 Jahre später erst gelingen kann?
Lammert: Ja, mir fällt natürlich zu diesem Stichwort jetzt vielerlei ein. Ich beginne mal damit, dass es zunächst mal die Notwendigkeit einer solchen Behörde belegt. Und manche, die nun wiederum dieser Behörde sehr schnell sehr eifrig vorwerfen, dass sie diese Erkenntnis doch viel früher hätte haben können und müssen, vermeintlich vielleicht sogar längst gehabt habe, aber aus welchem Grund auch immer nicht öffentlich gemacht habe, haben noch vor vergleichsweise kurzer Zeit Zweifel an der Notwendigkeit der Behörde geäußert. Da gibt es gelegentlich also auch einen bemerkenswert virtuosen Umgang mit Sachverhalten. Zweitens: Wir machen hier ja wiederum nicht zum ersten Mal die Erfahrung, dass ein riesiges nicht rundum aufgearbeitetes Material oft erst Jahre später zu Funden führt, die bestimmte Ereignisse oder Sachverhalte in ein völlig neues Licht stellt, wobei ich nun allerdings drittens empfehle, nicht gewissermaßen im Sekundentakt auf den überraschenden Befund schon wiederum mit den ultimativen Schlussfolgerungen aufzuwarten. Außer dem Umstand, dass es diese Verbindung gab, wissen wir nach meiner Kenntnis im Augenblick nichts, jedenfalls nichts wirklich Belastbares. Ob dieser Fund alleine, wie Stefan Aust, der langjährige Spiegelredakteur und fraglos Sachverständiger im Umgang mit dem Thema Studentenbewegung, bemerkt hat, ob dieser Befund, wie er schreibt, alles ändert, weiß ich so genau nicht. Es ist ganz sicher ein hochbemerkenswerter Befund, weil dieses damalige Ereignis die Protestbewegung zwar nicht begründet, aber nachweislich in bemerkenswerter Weise befördert hat. Und allein der Umstand, dass die "Bewegung 2. Juni" sich ja nach diesem Datum benannt hat, zeigt die Schlüsselbedeutung, die in der Wahrnehmung vieler junger Leute damals dieses Ereignis hatte. Dass jedenfalls die damals mit Fleiß vertretene Behauptung, und nun lasse dieser Staat auf Protestanten schießen, sich im Lichte dieses Befundes wohl schwerlich wird aufrecht erhalten lassen, das gehört zu den vorsichtigen Anmerkungen, auf die ich mich im Augenblick beschränken möchte.
Adler: Dennoch wird es weiter gehen müssen. Im Fall Kurras ist von der Überprüfung der Pensionsansprüche zum Beispiel die Rede, die dieser ehemalige Beamte ja bezieht beziehungsweise überhaupt von der Notwendigkeit der neu aufzurollenden Ermittlung. Erwarten Sie auch so was?
Lammert: Das haben nun die dafür zuständigen Behörden zu klären und zu entscheiden. Und ich glaube, man erleichtert denen die ruhige, sachliche und vor allen Dingen sachgerechte Entscheidung nicht, wenn es nun möglichst viele anfeuernde Kommentare dazu gibt.
Adler: Historiker haben unter anderem auch immer wieder gefordert, dass die westlichen Spitzel der Stasi, deren Rolle - und: wer war das eigentlich überhaupt -, dass man sich mit dieser Arbeit sehr viel umfassender beschäftigen sollte. Ist da auch der Bundestag gefordert?
Lammert: Er ist ganz sicher auch gefordert, weil sich ja immer mindestens zwei Fragen stellen, bei denen er dann direkt oder indirekt involviert ist. Die eine Frage haben Sie selber vorhin schon mal in einem Nebensatz angedeutet, ob diese Behörde hinreichend ausgestattet ist, um die Aufgaben zu erledigen, die sie erledigen soll, wobei ich auch da allerdings vor maximalen Erwartungen warne. Die Fülle des vorhandenen Materials lässt sich nicht in kurzer Zeit abschließend aufarbeiten. Manches ergibt sich später dann auch erst durch Entdecken von Zusammenhängen, die sich aus den ermittelten, aufarbeiteten, gelesenen, durchgesehenen, analysierten Unterlagen noch gar nicht erschließen. Gleichwohl, diese Frage stellt sich immer mal wieder, ob im Ganzen und im Einzelnen der notwendige Sachverstand in der notwendigen Personalstärke da gegeben ist, wenngleich die allermeisten schon jetzt eine eher niedliche Vorstellung von der Größe dieser Behörde haben. Die gehört zu den größten Bundesbehörden, die wir überhaupt in der Republik haben.
Adler: Der Deutschlandfunk, das Interview der Woche, heute live hier im Hauptstadtstudio des Deutschlandfunks mit Norbert Lammert, dem Präsidenten des Deutschen Bundestages. Herr Lammert, wir haben oft über das Grundgesetz gesprochen. Das Grundgesetz soll verändert werden. Es soll eine Schuldenbremse eingefügt werden, wenn alles gut geht, dann noch in dieser Legislaturperiode. Zeugt dieses Vorhaben nicht von einem unglaublichen
Egoismus der jetzt Agierenden, die möglicherweise doch die Zahl der Jahre, in der sie in Amt und Würden sind, überschauen können, und zeugt es davon, dass den nachfolgenden, jetzt jungen Kollegen ein so enger Spielraum nur noch überlassen wird, mit dem sie kaum zurecht kommen werden, in dem sie kaum agieren können?
Lammert: Die Kritik, die hier jetzt in Ihrer Frage deutlich wird, geht über meine kritischen Anmerkungen noch deutlich hinaus. Ich halte die Überlegung, die in der Föderalismusreform zwischen Vertretern des Bundestages und Vertretern der Länder angestellt worden ist, nicht nur für nachvollziehbar, sondern auch für richtig, ob wir nicht nach einer Sondersituation, in der wir genötigt waren, in einer nicht geplanten, unvorhersehbaren Weise öffentliche Schulden aufzunehmen, nun auch zeitnah einen Mechanismus vereinbaren müssen, der sicherstellt, dass daraus keine ständige Regel wird, sondern dass der Ausnahmecharakter auch durch vereinbarte, belastbare Mechanismen zur Rückführung der Verschuldung gewissermaßen ausgeglichen wird. Bis dahin, glaube ich, kann man und sollte man diesen Überlegungen folgen. Ich finde zweierlei unmaßstäblich und halte deswegen die dafür vorgesehenen Grundgesetzänderungen allein im Umfang für unangemessen und unberechtigt. Zum einen wird hier bis ins Detail hinein, wie man sich eher von Ausführungsbestimmungen eines Staatsvertrages vorstellen würde als von Bestimmungen des Grundgesetzes, in Jahresszahlen und Eurobeträgen festgelegt, welche Länder wann welchen Anspruch auf welche Bundesmittel haben sollen, um danach einer solchen Verpflichtung überhaupt nachkommen zu können. Das gehört, mit Verlaub, ganz sicher nicht ins Grundgesetz. Und zweitens in dieser Neigung, das, was einem wichtig ist - und das war ja auch Gegenstand Ihrer Frage - gleich ins Grundgesetz zu schreiben um es möglichst späteren Korrekturen zu entziehen, jedenfalls die Hürden für spätere Korrekturen so hoch wie eben möglich zu machen, kommt auch ein Anspruch zum Ausdruck, den ich für unangemessen halte. Es liegt im Wesen einer parlamentarischen Demokratie, dass die Wählerinnen und Wähler mit ihren jeweiligen Mehrheiten alle vier Jahre neu darüber entscheiden, von wem sie regiert werden wollen beziehungsweise welcher politischen Gruppierung sie eine politische Gestaltungsaufgabe übertragen wollen. Und je mehr der Verfassungsgesetzgeber an politischen Gestaltungsabsichten in die Verfassung schreibt, desto geringer werden die Entscheidungsspielräume künftiger Generationen und vor allen Dingen auch künftiger demokratischer Mehrheiten. Das ist verfassungspolitisch, wie ich finde, nicht in Ordnung.
Adler: Wir haben eine Wahl hinter uns, die gestrige. In 14 Tagen steht die nächste Wahl an, die Europawahl. Eine Personalie, die nicht entschieden wird am 7. Juni, die aber mit Europa in Zusammenhang steht, ist die des EU-Kommissars, den Deutschland stellen möchte. Im Gespräch ist ein Name, nämlich Friedrich Merz. Würden Sie die Kanzlerin ebenso ermutigen, wie das andere Parteifreunde von Ihnen tun, nämlich Friedrich Merz zu puschen in dieses Amt?
Lammert: Ich glaube nicht, dass die Kanzlerin der persönlichen Ermutigung für Personalentscheidungen bedarf.
Adler: Zumindest ist Friedrich Merz ja nun eindeutiger Gegner der Kanzlerin beziehungsweise sie lieben sich nicht gerade.
Lammert: Man muss sich auch nicht lieben, wenn es um die Benennung von geeigneten Kandidaten für herausragende Ämter geht. Es hat ja niemand vorgeschlagen, dass die beiden heiraten sollen, sondern es geht darum, ob sich eine solche Konstellation möglicherweise als besonders hilfreich erweisen könnte. Ich halte diese Überlegung, die auch nicht völlig neu ist, für einigermaßen nahe liegend, aber eben doch für hochgradig spekulativ, zumal im Augenblick überhaupt noch niemand die Konstellationen kennt, die nach dem Ausgang der Europawahlen am 7. Juni besteht mit Blick auf die Bildung der Kommission, ihres künftigen Präsidenten und seiner Vorstellung über die Zusammensetzung der Kommission. Und deswegen sollte man das jetzt mal in Ruhe abwarten.
Adler: Nun sind die Tage der Großen Koalition gezählt, oder sagen wir die Wochen, bei den Tagen wären es doch noch einige. Mit welchem Gefühl gehen Sie sozusagen in die drittletzte Sitzungswoche, die diese Woche beginnen wird?
Lammert: Also, wie immer sind die letzten Wochen einer Legislaturperiode durch eine Mischung von Hektik und Wehmut gekennzeichnet. Hektik weil nun auf einmal ganz vieles noch ganz schnell gemacht werden soll, übrigens mit den Fehlerrisiken, die sich aus solchen beschleunigten Verfahren dann natürlich sehr leicht ergeben, Wehmut deswegen, weil man ja auch weiß, dass in der Regel ein Viertel bis ein Drittel der Mitglieder des Bundestages nicht wiederkommen, teils freiwillig, teils aufgrund des Wählerentscheids. Ich glaube, dass die Legislaturperiode mit mehr zeitlichem Abstand eine sehr viel freundlichere Beurteilung erfahren wird als das über große Teile dieser Legislaturperiode der Fall war. Große Koalitionen sind nie beliebt und alle Beteiligten empfinden sie auch als Ausnahmezustand, aber sie sind meist besser als ihr Ruf.
Adler: Und das war das Interview der Woche im Deutschlandfunk, heute live aus dem Hauptstadtstudio hier in Berlin. Zu Gast war der Präsident des Deutschen Bundestages Norbert Lammert. Herr Lammert, haben Sie ganz herzlichen Dank für das Gespräch.
Lammert: Ich bedanke mich ebenfalls.