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An Arachnes Faden über den Sternen balancieren

In dem wundervollen gerade wieder aufgelegten Erinnerungsbuch von Franz Blei Erzählung meines Lebens findet der Leser auch ein kleines Kapitelchen über einen französischen Dichter, der für das fin de siècle exemplarisch steht. Marcel Schwob ist sein Name und bei unszulande beinahe unbekannt.

Von Richard Schroetter |
    Von ihm heißt es, er sei ein typischer Luftmensch gewesen, sehr klug, hochsensibel und unheimlich belesen. Was der normale Bürger verabscheut, liebt er zärtlich : Prostituierte, Verbrecher, die Süchtigen aller Laster, aber auch Kinder, Heilige, ja Wahnsinnige auch; die Galerie der out laws eben.

    Ihr sagt, ich sei verrückt, und habt mich eingesperrt; aber ich lache über eure Vorsichtsmaßnahmen und eure Ängste. Denn ich werde frei sein, wann immer ich will; an einem langen Seidenfaden, den mir Arachne zugeworfen hat, werde ich euren Wächtern und Gittern entkommen. Zwar ist die Stunde noch nicht da - aber sie nähert sich: Mein Herz wird schwächer und schwächer, und mein Blut beginnt zu stocken. Ihr, die ihr mich jetzt für verrückt haltet, werdet mich für tot halten: Ich aber werde an Arachnes Faden über den Sternen balancieren.

    Diese Passage aus der Erzählung Arachne entstammt dem Band "Das gespaltene Herz". Schwob läßt da vordergründig einen Wahnsinnigen sprechen. Doch in Wahrheit führt der Faden dieser und all seiner anderen Geschichten direkt in die Sphäre des Traums und des Unbewußten. Der Traum denkt in Bildern, hat Sigmund Freud gesagt. Und Alberto Savinio meint: Im Traum herrsche das Mittelalter an sich. Beides trifft auf Schwobs raffiniert kompilierte Prosa zu. Wie das gerade Geträumte ist sie von einer magischen Präzision, man ist beeindruckt, ja oft verwirrt, und vielleicht ist das auch die Erklärung, warum man plötzlich den Faden verliert und sie wieder vergißt.
    Schwob selbst liefert uns eine andere erstaunlich rationale Erklärung.

    Das Herz des Menschen ist gespalten: Egoismus und Nächstenliebe halten sich die Waage; der Einzelne bildet darin das Gegengewicht zu den Massen; zur Selbsterhaltung nimmt er die Opferung anderer in Kauf ; die beiden Pole des Herzens liegen in der Tiefe des Ich und in der Tiefe der Menschheit.... So schwankt die Seele zwischen dem einen und dem anderen Extrem. ... Der vitale Egoismus wird durch die persönlichen Ängste auf die Probe gestellt: Es ist jenes Gefühl, das wir SCHRECKEN nennen.. Der Tag, an dem der Mensch sich die Ängste, unter denen er leidet, auch bei anderen vorstellt, ist derjenige, an dem ihm seine soziale Bindung bewußt wird. Der Weg vom Schrecken zum Mitleid ist allerdings für die Seele lang und beschwerlich.

    Marcel Schwob, kam aus einer Familie von Rabbinern, Ärzten, Gelehrten, sein Vater war Zeitungsverleger. Der Essener Literaturwissenschaftler und -kritiker, Gernot Krämer, der Herausgeber dieses Erzählbandes, überdies Autor einer luziden Studie über Schwobs Werk und Poetik, er meint dazu:

    Gernot Krämer kam aus einer Familie von Rabbinern, Ärzten, Gelehrten, sein Vater war Zeitungsverleger. Und das hat sicher eine Rolle bei seiner eigenen Entwicklung gespielt, nicht nur hin zum Lesen und zum Schreiben, sondern auch, daß er auch für Zeitungen selber gearbeitet hat. Er war erfolgreich als Journalist. Er ist dann mit 14 nach Paris geschickt worden von seinen Eltern, hat bei seinem Onkel, der Direktor der Bibliothek Mazarin war, ist von ihm gefördert worden, und hat dann um die Zwanzig angefangen, Erzählungen zu veröffentlichen. Und bereits mit 24 Jahren ist der Erzählungsband Das gespaltene Herz erschienen. Da war Marcel Schwob schon relativ etabliert.

    Schwob kannte sehr viele Leute in den Pariser Avantgardezirkeln. Eine Zeitlang spielte er eine sehr wichtige Rolle als Förderer und Vermittler darin:

    ...dass er, obwohl er eine sehr genaue Vorstellung als Schriftsteller von seinem eigenen Wollen als Schriftsteller hatte, doch sehr vielseitg war, was seine Wertschätzung für andere Schriftsteller betraf. Er war auch ein großer Literaturförderer. Und er hat so unterschiedliche Schriftsteller wie Paul Valery, Paul Claudel, Alfred Jarry unterstützt, Jules Renard zum Beispiel auch. Also daß muß man sich mal vorstellen, diesen etwas verquasten Lyrismus von Paul Claudel, der sich dann zum Katholizismus hinentwickelt hat, auf der anderen Seite, jemand wie Alfred Jarry, der Bürgerschreck, dieser berühmte Exzentriker und Chaot.

    Besonders englische und amerikanische Autoren interessierten ihn sehr:

    In dem zeitgenössischen Literaturstreit kann man sagen, dass er sich sehr stark eingesetzt hat für angloamerikanische Literatur. Und da waren die Autoren, die er besonders geschätzt hat und in Frankreich durchzusetzen versucht hat: Robert Louis Stevenson, Oscar Wilde, Poe, der natürlich vor ihm schon sehr bekannt war, und nicht mehr ganz so bekannt in England: George Meredith.

    Sein Jugendidol war der berühmte Verfasser von Mr. Jekyll und Mr. Hyde, Robert Louis Stevenson. Und das hatte einen ganz triftigen Grund :

    In einem seiner Briefe schreibt Stevenson, er sei zu 55 Prozent Abenteurer und zu 45 Prozent Schriftsteller. Das ist etwas, was Marcel Schwob, der Büchermensch auch sehr gerne gewesen wäre. Ich glaube, er hat dieses Weltläufige sehr bewundert bei Robert Louis Stevenson. Davon abgesehen gibt es natürlich den direkten Einfluß der Stevensonschen Erzählweise, der Schreibweise auf Marcel Schwob. Es gibt ein ähnlich gelagertes Interesse an Ausnahme-Existenzen, an kriminellen Figuren, und da ist zum Beispiel François Villon, der spätmittelalterliche Dichter, über den Stevenson seinerzeit einen Essay und eine Erzählung geschrieben hat, die Marcel Schwob auch kannte. Und er seinerseits war ein großer Villon-Experte. Er hat mehrere Aufsätze über Villon geschrieben, wollte immer eine Biographie über Villon verfassen. Dazu ist es, wie zu vielen anderen Projekten, speziell aus den letzten Lebensjahren nicht mehr gekommen. Man muß sich M. Schwob als jemanden vorstellen, der ganz viel noch vorhatte, aber mit Ende Zwanzig unheilbar krank geworden ist, und dann fast noch zehn Jahre dahingesiecht ist. Er hatte unzählige Projekte für eigene Erzählungen, Romane, Theaterstücke, nichts mehr ist davon verwirklicht worden.

    Von Bedeutung ist auch Schwobs Verhältnis zu Oscar Wilde.

    Das hat begonnen 1891 als Oscar Wilde nach Paris gekommen ist und Marcel Schwob ihn in Empfang genommen hat und sein Stadtführer und Vermittler gewesen ist. Er hat ihn vielen Leuten bekannt gemacht. Er war übrigens auch einer derjenigen, die Oscar Wildes Salome, die ja auf Französisch geschrieben worden ist korrigiert haben. Sie haben sich gegenseitig auch Texte gewidmet. Allerdings auch später zerstritten. Und als später Oscar Wilde in England der Prozess gemacht wurde wegen Homosexualität, hat sich Marcel Schwob aus Feigheit wahrscheinlich von ihm distanziert und offenbar alle Briefe vernichtet, die er von Oscar Wilde bekommen hatte.

    Bei all dem darf man nicht den familiären Hintergrund vergessen:

    Das ist eine Familie gewesen von assimilierten Juden, die ihre jüdische Tradition bewahrt haben. Der Onkel von Marcel Schwob, Leon Cahan, der Direktor der Bibliothek Mazarin, hat auch ein Buch geschrieben La vie juive, das ist bis heute ein sehr wichtiges Buch, eine jüdische Kuturgeschichte in Frankreich, und dieses Buch hat auch das Ziel verfolgt, den Franzosen das jüdische Brauchtum verständlich zu machen, und die Juden als loyale französische Staatsbürger darzustellen, wenn man ihnen ihre Glaubensfreiheit läßt. Marcel Schwob hat sich mehr als Leon Cahan assimiliert, der jüdische Hintergrund ist bei ihm weniger stark als bei Leon Cahan, aber es gibt Analysen einzelner Erzählungen, wo auf jüdische Symbolik zum Beispiel hingewiesen wird.

    Als Journalist hat sich Schwob besonders in der Dreyfus-Affäre engagiert.

    Das heißt er war ein Parteigänger jener, die sehr früh Dreyfus für ein Opfer einer Intrige gehalten haben, jemanden, der zu unrecht verurteilt worden ist, und er hat sich publizistisch vehement eingesetzt für seine Sache. Das hat ihn auch einige Freundschaften gekostet, u.a mit Paul Valèry, der ein erbitterter Anti-Dreyfuesard war. Und Marcel Schwob hat dafür auch einiges inkauf genommen. Er ist in der antisemitischen Presse wüst beschimpft worden.

    Paul Valèrys Ressentiments ihn paradoxerweise nicht daran, sich bei den Surrealisten für Schwob einzusetzen.

    André Breton ist durch Paul Valery auf Schwob hingewiesen worden und bedankt sich in einem Brief sehr für diesen Hinweis. Michel Leiris wiederum ist bei Marcel Schwob gleich zu Beginn seines Schreibens verknüpft. Er hat nämlich mitgeteilt, dass seine ersten Schreibversuche angeregt waren durch seinen Roman der 22 Lebensläufe (...) Und Michel Leiris hat sich später auch immer wieder an Schwob gerne erinnert und in dem ein o. anderen Buch finden sich immer wieder Hinweise besonders auf das Buch von Monelle, dass er sehr geschätzt hat.

    Der Roman der 22 Lebensläufe und das Buch Monelle haben Schwobs Ruhm verfestigt. Sein Ruf drang bis ins ferne Argentinien. Seine Bücher las dort der junge Jorge Louis Borges. Schwob inspirierte ihn zu seiner Universalgeschichte der Niedertracht. In Schwob erkannte Borges einen Geistesverwandten. Und tatsächlich gibt es zwischen den beiden viele Gemeinsamkeiten wie Gernot Krämer betont :

    ...zum einen, daß beide die kurze Form gepflegt haben, Erzählungen und Essays geschrieben, keiner von beiden hat einen Roman zustande gebracht, dann waren beide große Büchermenschen, die einen großen Teil ihres Lebens in der Bibliothek verbracht haben, deren Inspiration im Wesentlichen wieder aus Büchern stammte. Und dann haben sie beide auch ähnliche Schreibweisen, sie fingieren gerne, also sie erfinden Dinge und geben sie als authentisch aus, abgeschwächt nimmt Marcel Schwob da schon einiges von Borges vorweg.

    Wie Borges schrieb Schwob letztlich Bücher über Bücher :

    Bücher über Bücher, das ist im Grunde das Thema bei M. Schwob das ist vielleicht der postmodernste Zug an ihm - die Erkenntnis, dass man nichts Neues schreiben kann, das ist eine Grundüberzeugung. Er hat mehrmals gesagt: "Wir kommen spät. Es bleibt nichts anderes als gut zu schrieben." Und seine Poetik beruht auf dem Bewußtsein, daß er tradierte Stoffe, Themen, Mittel immer wieder neu bearbeitet, einschmilzt, neu kombiniert, re-arrangiert .. Das ist ‘nen ausgeprägt postmoderner Zug.

    Auch wenn uns die Postmoderne nicht mehr ganz up-to-date erscheint, mit Marcel Schwob verhält es sich anders :

    Generell ist das Interesse an M. S. wieder erstarkt. Also es gibt zwei neue Werkausgaben, es gibt einen Sammelband, es sogar einen Comic über Marcel Schwob. Also Marcel Schwob ist wie Kafka und Proust mittlerweile zum literarischen Comic-Helden aufgestiegen.