Donnerstag, 02. Mai 2024

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An den Grenzen Europas

Lückert: Oder und Rhein sind Grenzflüsse, so liest man in der Ankündigung der Oderfahrt, aber sie überwinden zunehmend ihren trennenden Charakter und werden zu verbindenden Elementen eines zusammenwachsenden Europas. Der Literaturkritiker und Redakteur des Deutschlandfunks, Hubert Winkels ist für ein paar Stunden vom Boot gestiegen, auf dem er seit einer Woche mit 60 Schriftstellern, Verlegern und Übersetzern auf der Oder schippert, Herr Winkels, vielleicht eine ganz praktische Frage zu Beginn, wie groß ist das Schiff und wird es da nicht zuweilen recht eng?

15.05.2004
    Winkels: Ja, ein bisschen hat das Schiff den Charakter eines Butterschiffs. Es ist tatsächlich bis zum 1. Mai, also bis zum Anschluss Polens an Europa für diese Butterfahrten eingesetzt. Also es ist ein kleines Schiff, kein besonders luxuriöses Schiff, aber wenn gelegentlich einmal die Sonne scheint auf der Oderfahrt und man sich auf dem Oberdeck herumtreiben kann und durch diese wunderschöne im Grunde ganz wild wirkende Oder blickt, dann ist es natürlich ein Traumschiff. Unten ist es ein bisschen eng und frugal, aber dafür ist es auch im Sinne der Völkerverständigung eng und Nähe erzeugend.

    Lückert: Wie sieht denn das Programm aus? Gibt es Lesungen, Diskussionen?

    Winkels: Ja, also es ist ein bisschen eine Studiosus-Reise, diese Butterfahrt. Also man besichtigt viel, man hört viele Vorträge über Schlesien, über die Geschichte Schlesiens, über die großen Barockdichter Schlesiens. Man hat aber auch Lesungen an den Uferstätten. Also es geht insgesamt von Breslau bis Stettin. In 14 Stationen wird gehalten, aber die eigentlichen Veranstaltungen finden eigentlich in der schlesischen, in der polnischen Provinz statt. Das läuft oft sehr witzig ab, weil unsere Delegation mit, sagen wir mal, vielleicht 60 Leuten einläuft an winzig kleinen Anlegestellen, und dort steht gelegentlich der Bürgermeister und sein Verwaltungsassistent im schwarzen Anzug, mit Krawatte. Wir gehen runter und werden beschenkt, und dann gibt es eine ganz förmliche Ansprache, und unser Delegationsleiter Herr Lothar Jordan vom Kleist-Museum in Frankfurt an der Oder erwidert dann diese Rede, und das hat schon etwas Belustigendes, diese förmlichen Spiele am Ufer in kleinen polnischen Städten. Aber dann finden in diesen Orten, in Universitäten, im Theater Lesungen statt. In der Regel wird auch übersetzt, gelegentlich aber nicht. Die Grundsprache ist eher Deutsch. Es sind etwa zehn polnische, zehn deutsche und zehn niederländische Autoren dabei, darunter recht bekannte wie Michael Lenz aus Deutschland oder Eva Lipska aus Polen. Neben diesen Lesungen, Vorträgen, Gesprächen, gibt es die informelle Seite des Ganzen, die beherrschend ist. Also die Tage auf dem Schiff, die Abende an der Hotelbar oder in den kleinen Orten in den entsprechenden Dorfkneipen, in denen dann eine andere Form von Verständigung hergestellt wird.

    Lückert: Ihre schöne Reise in Ehren, aber mal die Frage gestellt: Wie sieht man denn die Chance, dass die Stimme der Intellektuellen tatsächlich auch gehört wird beim Aufbau dieses neuen Europas?

    Winkels: Nun muss man sagen, diese ganze Veranstaltung – ich schätze sie wirklich sehr bei allen Schwierigkeiten – ist ein Symbol und tut als Symbol ihre Wirkung. Also das Symbol ist die Botschaft. Dass jetzt von dem, was da besprochen, verhandelt, gelesen wird, sehr viel direkt vermittelt wird in die Bevölkerung, ich glaube, das steht weder im Vordergrund noch funktioniert es besonders. Es werden da wirklich Leute von Universitäten auch zu den Lesungen hingebeten. Das ist nicht die große städtische Öffentlichkeit, die man erwartet. Aber es ist schon sehr deutlich, dass von allen Seiten, also von diesen Honorationen der Orte, von den Schriftstellern, den Intellektuellen, den Professoren, die auf dem Schiff Vorträge halten, das Bemühen so stark ist, sich als in einem gemeinschaftlichen kulturellen Raum zu definieren, dass man sich im Grunde fragt, wo kam eigentlich die Feindschaft her und wo verlaufen tatsächlich noch Grenzen?

    Es kann einem zwischendurch unheimlich sein, wenn man sich erinnert, da waren doch mal Schwierigkeiten. Sie drücken sich eigentlich im Umgang miteinander kaum noch aus. Es ist sogar so erstaunlich, dass uns ein polnischer Niederlandist einen Vortrag über Schlesien hält und immer darauf verweist, dass Polen doch von hier aus gesehen erst in 15 Kilometern beginnt. Wir wissen natürlich auch, dass wir in Polen sind, aber er spricht in dem Moment als Schlesier, und das Königreich Polen endete eben 15 Kilometer jenseits dieses Ortes, wo wir waren, und das ist für den Schlesier wichtiger als die faktische Staatszugehörigkeit im Moment. Solche Töne sind natürlich neu. Die waren, sagen wir mal, vor 15 Jahren völlig undenkbar, selbst in den letzten zehn Jahren nicht gewöhnlich.