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An den Schnittstellen von Geschichte und Geschichten

Die Literatur ist ein Experimentierfeld für unendlich viele Spiegelungen dessen, was wir Wirklichkeit nennen. Das Diverse und Geschichtete der Wirklichkeit lässt sich mit literarischen Mitteln adäquater darstellen als mit wissenschaftlichen Vorgehensweisen. Der Schriftsteller kann sich im Gewand seiner literarischen Figuren zu dieser oder jener Position und Haltung, und auch Verfehlung und Irrationalität bekennen.

Von Hans-Jürgen Heinrichs |
    Der Wissenschaftler dagegen hat diese Möglichkeit zur Travestie, zum Spiel und Rollentausch nur sehr eingeschränkt. Er sieht sich zur Darlegung der Position, von der aus er spricht, zur argumentativen und rationalen Erörterung der beschriebenen und gedeuteten Wirklichkeit genötigt. Zugleich ist die heutige, telekommunikativ, ökonomisch, politisch und kulturell vernetzte Welt in jedem Augenblick als ganze in unserem Blick, so dass alle herkömmlichen strikten Aufteilungen und Zuteilungen von Wirklichkeitssegmenten zu den Wissenschaften hinfällig geworden sind.

    So wenig wie die Soziologie heute ein angemessenes Bild von Wirklichkeit nur innerhalb der westlichen Gesellschaften zu entwickeln vermag, so kann auch die Ethnologie ihr Verständnis von Wirklichkeit nicht einfach nur an der Kenntnis außereuropäischer Kulturen messen, ohne dieses wieder zurückzubeziehen auf den grundlegenden Wandel aller Gesellschaften und der Bilder, die wir uns von ihrer Realität machen. In solchen Bildern des Gegenwärtigen und des Vergangenen suchen wir nach Konturen für eine kollektive und individuelle Identität.

    Wir sind heute mehr denn je in der Lage, die Verschiedenartigkeit und zugleich Begrenztheit unserer Konstruktionen von "Wirklichkeit", von "Eigenheit" und "Fremdheit" zu erkennen. So kommen nicht nur die Ethnologen, sondern auch Vertreter der unterschiedlichsten Disziplinen, zu dem gleichen Ergebnis, dass wir die vertraute, die vermeintlich "eigene" Wirklichkeit genauso wie den Fremden erfinden, ihn exotisieren oder erniedrigen, ihn entsprechend unseres eigenen Blicks und unseres Bildes vom Menschen formen. Der Fremde ist für sich selbst, wie jeder von uns, ein "Eigener". Seine Fremdartigkeit ist ein Konstrukt aus vielen Projektionen und Zuschreibungen.

    Unerschöpflich ist die Phantasie der Menschen im Erfinden immer neuer Eigenschaften, durch die sie sich von Angehörigen anderer Gesellschaften unterscheiden möchten. Die europäische Geschichte offenbart eine große Fülle deformierender Spiegel, in denen sich der Europäer in seinen eigenen Verzerrungen, Verdrängungen und Erfindungen anschaut.

    Zu den schillerndsten Spiegelungen zählen diejenigen des Barbaren, des Wilden, des Teufels und des Juden - allesamt Manifestationen von Ausgrenzung und Verbannung; Trugbilder, um eine eigene Identität herauszubilden, was im Falle Europas ein Kunststück war, besitzt Europa doch weder eine einheitliche ethnische Herkunft noch eine verbindliche Kultur und Sprache. So trafen sich alle Bestrebungen einer europäischen Bewusstseinsbildung und Geschichtsschreibung in der Konstruktion von Gegensatzpaaren, wobei der Barbar und der Wilde die dauerhaftesten Mythen darstellen. Bezeichnete man zu Anfang einen jeden, der nicht fließend Griechisch sprach, der "stammelte", als Fremden, erfuhr diese Ausgrenzung durch das Theater sehr bald eine metaphorische und bildreiche Vielgestaltigkeit, so dass sich fortan der Fremde mühelos mit Inzest, Verbrechen und Menschenopfer in Verbindung bringen ließ.

    Unserem Bild von dem Griechen und dem Europäer liegen nicht haltbare Abstraktionen zugrunde: Weder lässt sich eine ursprüngliche Reinrassigkeit konstruieren, noch erfüllten in Wirklichkeit die griechische Polis und Demokratie unsere Vorstellungen von Gleichheit und Freiheit. Ihre Absetzung von der asiatischen Gewaltherrschaft entbehrt jeder Grundlage, genauso wie ihre vermeintliche Überlegenheit in Bildung und Kunst. Es ist gerade die Mehrkulturalität - die Produktivkraft, die jeder kulturellen Begegnung innewohnt -, die Europa entstehen ließ. Der Fremde war dabei stets nur eine Fiktion, um aus der Vielgestaltigkeit eine Einheit zu konstruieren, von der man zu jeder Zeit glaubte, dass sie für das eigene Selbstwertgefühl unabdingbar sei.

    Nur die Zuschreibungen des Andersartigen, Minderwertigen und Teuflischen wechselten und trafen dabei auch Gruppen und Ethnien, die bis zu einem bestimmten Zeitpunkt entscheidend zum Aufbau einer Gesellschaft beigetragen hatten und als integere Bestandteile angesehen wurden. Die Historiker haben dies am Beispiel der Juden gezeigt, die bis ins elfte Jahrhundert vollkommen in die Gesellschaften integriert waren. Keine fanatischen, irrational agierenden, einzelgängerischen Ignoranten beraubten die Juden ihrer Verdienste als Gründungsmitglieder des heutigen Europa; es war die Kirche, die den Mythos eines "inneren Feindes" ins Leben rief, dem dann jedes kollektive Unheil ungeniert angelastet werden konnte.

    Ob im Spottbild des angeblich typischen Juden, Schwarzen und Asiaten oder im Klischee des Heiden, des Ketzers und Ungläubigen - stets verschwindet der andere Mensch spurlos in einem Mythos, in einer Erfindung, in einer Erzählung und kann dann als Zerrbild wieder angeschaut und zur weiteren Selbststabilisierung benutzt werden. Dieser Prozess ist bis heute nicht abgeschlossen. Täglich erfinden die Menschen den Fremden neu; machen sich ein Bild von ihm, so, wie es dem Stand der eigenen Kultur und den Erfordernissen der Gesellschaft entspricht.

    Die heutigen Medien erfassen nun immer mehr von diesen konstruierten Feindbildern und dem darauf aufbauenden Wirklichkeitsverständnis. Die Medien ziehen diese Wirklichkeit an sich heran, setzen sie als Information frei, strukturieren die Information in ihren Schemata von Freund und Feind, von Gut und Böse, Recht und Unrecht und produzieren auf diese Weise ein gemeinsames Wissen und ein gemeinsames Unwissen.

    Die Medien sind zur dritten gesellschaftlichen Instanz geworden, gleichberechtigt der sogenannten Realität und der Gedanken-Gefühlswelt. Mit dieser Gleichberechtigung ist auch eine Vermischung und Überlagerung verbunden: Die computerspielsüchtigen Jugendlichen leben in Zwischenwelten oder sogar in der virtuellen Welt als dem primären Umfeld oder gleichsam der ersten Natur. Und was geschieht, wenn der holländische Fernsehsender BNN eine Show ankündigt, bei der einem realen Bewerber von einer realen, sterbenskranken Frau eine Niere geschenkt wird? lässt sich dann noch zwischen dem tatsächlichen Notstand an Spendeorganen und der inszenierten Realität auf dem Bildschirm unterscheiden? In der Wahrnehmung der Zuschauer hätte sich, wäre die Ankündigung wahr gemacht worden, die Dramaturgie der Show - das vorgeführte, in Szene gesetzte Leid - in dieser Form als die Wirklichkeit eingeprägt. Und ganz in diesem Sinne lautete ja auch die von den Verantwortlichen vorgegebene Rechtfertigung: das, was gezeigt werde, sei "die harte Wirklichkeit". Nun stellte sich aber selbst die Ankündigung des real-virtuellen Geschehens als bloß virtuell heraus.

    Die Wirklichkeit wird in immer ausgeklügelteren medialen Inszenierungen als Spielform, als eine Art Chatroom vorgeführt. Hiervon geht ein Sog aus, der alle Verhaltensweisen der Menschen im Alltag betrifft, zumindest tangiert. Jede individuelle Handlung und jede noch so persönlich erscheinende Haltung ist den einwirkenden medialen Kräften ausgesetzt. Das Fern-Sehen und Mehr-Sehen ist nicht gleichzusetzen mit einem Mehr-Wissen oder gar Intensiver-Fühlen. Die Medien totalisieren und fragmentarisieren die Wirklichkeit gleichermaßen: sie produzieren die Illusion einer Welt, und sie verkürzen jedes gelebte Leben auf Bild-Einstellungen; das Disparate wird übersichtlich visualisiert und das Einheitliche in Sequenzen zerlegt, das Dramatische entdramatisiert und das eher Belanglose dramatisiert.

    Die Moderne ist besessen von dem Wahn, alles sichtbar und hörbar zu machen, keinen Augenblick der Informationslosigkeit entstehen zu lassen, das Fernste in die Nähe und das Nahe in emotionale Ferne zu rücken. Nähe und Ferne werden hergestellt und stehen nicht mehr in einem organischen und emotional gewachsenen und angemessenen Verhältnis zueinander. Das Raum-Zeit-Kontinuum ist gedehnt. Hier und Dort sind zu austauschbaren Größen geworden; unbestimmt und fragil.

    Nimmt man zum Beispiel eine Fahrt auf der Autobahn, einen Gang durch den Supermarkt, die Flug-Abfertigung oder die Art und Weise, in der ein Bankautomat zu bedienen ist: es sind vor allem Begegnungen mit Zeichensystemen, weniger mit Menschen. Hinweisschilder geben uns Auskunft über das, was wir tun sollen oder was wir sehen; Computer sprechen uns scheinbar persönlich an - etwa mit dem Satz "Ihr Vorgang wird bearbeitet" - und doch sind damit alle Kunden gemeint.

    Man fährt durch Landschaften, in denen Zeichen und Hinweisschilder an die Stelle eigener Orientierung und Wahrnehmung getreten sind - der Ethnologe Marc Augé hat den Menschen der "Übermoderne" als Passanten und als Bewohner von eher flüchtigen "Nicht-Orten" beschrieben. Und der Zeichentheoretiker Paul Virilio spricht gar von einer "unbemerkten Pathologie" im Transport- und Übertragungswesen. Die Bewegung führt nicht mehr von hier nach da, sondern zu einer Auflösung. Virilio schreibt: "Von der Abschaffung der körperlichen Anstrengung des Gehens über den sensomotorischen Verlust der ersten schnellen Transportmittel hat man schließlich einen Zustand erreicht, der dem Verlust der Sinne ähnelt ... Der Reisende erschließt sich die Welt zwar immer noch mit dem Auge, allerdings übernimmt jetzt der kinematische Motor für ihn das Vorübergleiten einer Landschaft ..."

    Wir haben es also mit einer durch Zeichensysteme, Technologien und Konsumismus, durch weltweite Fluchtbewegungen und multikulturelle Prozesse vereinheitlichten Welt zu tun. Reichen die Begrifflichkeit und das Instrumentarium der Philosophie, der Kulturkritik, Psychoanalyse und Soziologie (in denen Moderne und Postmoderne begriffen werden sollen) überhaupt noch aus, um diese Dynamik zu erfassen? Kann die Ethnologie den Fremden und das Fremde in den westlichen Gesellschaften ebenso wie in den außereuropäischen, den "traditionalen" Gesellschaften noch deuten und unser Alltagsbewusstsein von den Schlacken der Vorurteile, der rassischen, religiösen, ethnischen und nationalen Ideologien ein Stück weit befreien? Die heutigen Wissenschaften vom Fremden stellen sich diesen Fragen, schlagen andere Zugangsweisen vor und plädieren für eine Erweiterung des Gegenstandsbereichs der sogenannten "traditionalen Gesellschaften".

    Auch werden die Ethnologen von der geschichtlichen Entwicklung - der Herausbildung einheitlicher Gesellschaften, Kulturen und Wirtschaftsformen sowie der Auflösung der klassischen Studienobjekte - dazu gezwungen, sich neu zu orientieren. Angesichts globaler Migrationsbewegungen und der gleichzeitigen Zunahme ethnischer Identitätsbestrebungen, also dem Insistieren auf dem Eigenen, muss sich die Ethnologie, jenseits ihrer früheren kolonialistischen "Aufträge", erneut in fremde Angelegenheiten einmischen.

    Die Ethnologie mag sich auf diese Weise in ihrer gesellschaftlichen Relevanz aufgewertet sehen. Und doch darf dieser ihr mehr indirekt zugewachsene Stellenwert nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie für die Gesellschaft und die Politik ihres eigenen Landes eine äußerst periphere Rolle spielt.

    Wissenschaftliche Modelle weisen dann über den Rahmen, in dem sie entwickelt worden sind, hinaus, wenn sie Wirklichkeit nicht festschreiben, also aus einem in sich äußerst beweglichen Gebilde keine starre Struktur machen. Modelle und Theorien sollten Vergangenes und Gegenwärtiges auf eine Weise organisieren, dass sie, wie dies der Historiker Lucien Febvre gesagt hat, den Menschen nicht zu schwer auf den Schultern liegen. So kann aus dem Verständnis der jeweiligen Vergangenheit ein kritisches Licht auf die Gegenwart fallen. Dieser Umgang mit der Vergangenheit spielt sich immer auch im Raum der Sprache ab und ist insofern als ein literarischer zu bezeichnen. Die Öffnung der Geschichtswissenschaft auf andere Denk- und Sprechweisen ist weder in diesem Fach noch in irgendeinem anderen zu dessen Schaden.

    Es wird viel davon abhängen, dass die Wissenschaft die Sprachlichkeit ihrer Erkenntnisse nicht nur wahrnimmt, sondern daraus auch Konsequenzen für den Aufbau und die Durchführung ihrer eigenen Forschung zieht. Als ebenso wichtig ist eine Verschiebung der autoritären Instanz des Forschers und seiner Subjektivität anzusehen. Es geht um die Zurücknahme einer maßlosen Selbstüberschätzung des Wissenschaftlers.

    Wissenschaft kann zu diesem Schritt mit dem Versprechen gelockt werden, dass sie etwas Neues finden wird: nämlich einen hohen Grad an Selbstreflexivität. Im Sich-Einlassen auf die Unsicherheiten eines Ich (das sich von Gedanke zu Gedanke, von Text zu Text allererst findet) kann sich Wissenschaft als lebendige Theorie auf eine ungeahnte Weise entfalten.

    Wirklichkeit zugänglich und verstehbar zu machen heißt auch, sie dem Hörsinn, dem Geruchs- und Tastsinn, den Augen und der Körperhaltung zugänglich zu machen. Der Bericht von einem Ereignis wandelt sich auf diese Weise zum sinnlichen Bericht eines Sinns, eines Sinns, der erzählt wird. Nicht gegen die Versuchungen des Berichts und der Literatur kommt die Geschichtswissenschaft zu sich selbst, sondern durch deren Integration.

    Erst aus der Distanz heraus erschließen sich dem Historiker die Kultur und die lange Dauer von Geschehnissen sowie die Rolle, die dabei nicht nur die großen Helden und Persönlichkeiten, sondern all die auf immer Ungenannten spielen; zugleich aber kann er niemals absehen von den Ereignissen und den Personen, die unweigerlich an sie geknüpft sind. Er muss sich der Tatsache stellen, dass die Wahrheit der berichteten Ereignisse sowie die Realität der Subjekte, denen sie zugeordnet werden, stets ungewiss bleiben.

    Hatten sich die Historiker der alten Schule noch dem Ideal einer strengen Prüfung und Kritik der Quellen und Dokumente unterzogen, mussten die Historiker der neuen Schule erkennen, dass all das Material nichts ist ohne die "Architektur" und die "Architekten": Das sind die Subjekte, denen die Ereignisse zugestoßen sind, in einem vagen Raum von Gefühlen und Affekten.

    Damit scheint aber gerade wieder der Status der Wissenschaft von Grund auf gefährdet; die Gewissheit einer historischen Wahrheit hat sich verflüchtigt. Es ist die Stärke der modernen Geschichtswissenschaft, ebenso wie der Ethnologie und Literaturwissenschaft, an dieser Ungewissheit - einer Art Unschärferelation - festzuhalten und sie zum Kriterium einer Wissenschaft zu erheben, die sich zur "Geschichte-als-Wissenschaft" und zur "Geschichte-als-Erzählung" bekennt und diese Spannung innerhalb ihrer Darstellung selbst zum Ausdruck bringt. Nur so verkürzt man sie nicht zum Mitläufer der Sozialwissenschaft, der Linguistik, der Politik- und Wirtschaftswissenschaft, lässt ihre Sprache nicht in Formalismus erstarren, was soviel hieße, wie sie schmerzlos sterben zu lassen.

    Die besondere Rolle der neuen Geschichtsschreibung besteht darin, dass sie unlösbar in alltagssprachliche, literarische und politische Redeweisen und Meinungen, in die Mehrdeutigkeit dessen, was "Geschichte" meint, verwoben ist und dabei doch ein Ziel vor Augen hat: unter der Oberfläche der Erscheinungen und deren sichtbarer Ordnung eine verborgene Ordnung und eine Poetik der Kultur aufzudecken. Hier trifft sich die Geschichtswissenschaft mit der Ethnologie. Auch sie versucht, verborgene Ordnungen unter der Oberfläche zu entziffern.

    Und auch die Ethnologie kommt nicht gegen die Versuchungen der unbekannten Erzählhaltungen und Erzähltechniken sowie gegen die Verführungen der Fremden (die den Ethnologen auf die eigene Seite ziehen wollen) zu sich selbst, sondern durch die Integration der in jeder Situation vorhandenen unbewussten Dynamik in die Beschreibung und Analyse. Verwiesen auf die Ordnung der Sprache, folgen der Psychoanalytiker und der Ethnologe den "Niederschriften" des unbewussten.

    Gehen wir von einem Beispiel aus: Eine Afrikanerin erzählt dem Ethnologen von den ständigen Streitereien mit ihrem Freund. Was kann er dazu sagen und warum erzählt sie ihm gerade diese Geschichte, und warum an diesem Tag? Oder ein Nepalese erzählt einen Traum, voll fremdartiger Bilder und eigenartiger sprachlicher Umkehrungen. Wie hat der Ethnologe dies zu deuten? Eins ist sicher, nie kann er etwas direkt beobachten und dann darstellen. Stets ist es ein Widerhall, den der Ethnologe und der Analytiker an sich selbst wahrnehmen, ein Widerhall der Äußerungen, die der andere macht. Dies hat so etwas wie eine Störung im unbewussten des Forschers zur Folge. Anders jedoch als in der Psychoanalyse geht es in der sozialpsychologischen und ethnopsychoanalytischen Deutung von Bewusstseins- und Sprachformen prinzipiell nicht um therapeutische Eingriffe und Veränderungen.

    Genauso wie in der Psychoanalyse von Anfang an die "sprachliche Analytik" den "Königsweg" zum Unbewussten ausmachte, so hat auch die Geschichtswissenschaft seit Jules Michelet das "Wortereignis", den "Exzess der Wörter" und deren Realität im Blick. Die vergangenen Mächte des Lebens werden in Zeichen und Bildern rekonstruiert.

    Den Historiker mag die Möglichkeit des Ethnologen, den Mächten des Lebens noch leibhaftig zu begegnen, mit Neid erfüllen. Der Ethnologe hört auf die Selbstdarstellungen der Mitglieder einer ihm fremden Gesellschaft und verwandelt schon im Sehen und Hören das Andere in Eigenes, überlagert Informationen mit Emotionen und Erklärungen, verfertigt Deutungen. Er übersetzt also Darstellungsweisen, Erzählungen und Redeformen in solche, die seinem Bild von Wissenschaft und Wirklichkeit entsprechen.

    Welche Fragen hat der Wissenschaftler wie und in welcher Sprache und selbst oder mittels eines (sich eventuell selbst zensurierenden) Informanten gestellt? Wie hat er das Material zusammengefügt und redigiert, was hat er weggelassen, nur weil es ihm nicht wichtig erschien? Wie war sein Selbstverständnis gegenüber persönlichen Daten und welchem Konflikt ist er aus dem Weg gegangen? Wissenschaft sollte immer auch eine bewusste Aufnahme affektiver, gefühlsmäßiger Beziehungen mit den Menschen, das bewusste Erleben der sich dabei entwickelnden vielschichtigen Prozesse und Verläufe sein. Der Wissenschaftler sollte sich in andere Menschen, in deren innere und gesellschaftlich manifestierten Entwürfe einfühlen. Das Sich-Einfühlen und Sich-Hineindenken in andere Haltungen, Phantasien und Visionen ist zum Beispiel in der augenblicklichen Auseinandersetzung mit dem Islam von elementarer Bedeutung.

    Eigene Traditionen, Angst und Nützlichkeitsnormen bestimmen die Wahrnehmung des Forschers ebenso sehr und nicht weniger grundlegend als die von ihm angewandte Methode. Der Blick auf das Fremde und den Fremden ist immer auch ein kulturell und emotional begrenzter Blick. Deswegen lautet eine Grundforderung an die Human- und Verhaltenswissenschaften, den Beobachter in seiner wirklichkeitssetzenden Funktion zu berücksichtigen.

    Ein kleines Beispiel mag dies illustrieren: Befragt man die Zuschauer eines Films, so wird man in der Regel erstaunt feststellen, wie unterschiedlich sie das Geschehen wahrgenommen haben. Gab es in dem Film besonders heikle Szenen, werden diese von vielen Menschen nur sehr ausschnitthaft registriert worden sein. Stets blenden wir aus unserem Gesichtsfeld aus, was uns nicht erträglich scheint.

    Dies gilt prinzipiell auch für den Wissenschaftler. Er konstruiert Modelle, um sich das "Nächste" und das "Fremdeste" begreifbar zu machen. Er versucht im Idealfall, seine blinden Flecken zu verkleinern, seine kulturspezifischen Einstellungen und Beurteilungskriterien in ihrer verzerrenden Auswirkung so gering wie möglich zu halten. Seine Forschung wird jedoch nicht dadurch objektiv, dass er sich als Teil der Beobachtungs- und Erkenntnissituation ignoriert, sondern in dem Maße, wie er diese Abhängigkeiten thematisiert, sie ausdrücklich mit in die Untersuchung einbezieht.

    Auch der "Empiriker" erklärt immer seine eigenen Erklärungen. Wir wissen heute: Aussagen, die der Sozialwissenschaftler und der Ethnologe treffen, sind Aussagen, die sie an sich selbst gemacht haben. Alles, was ihnen von Informanten zugetragen wird, ist bereits für diese Situation bearbeitet, übersetzt, vernünftig formuliert worden. Jedes allgemeine Wissen trägt die Spuren solcher Veränderungen und verdeckter Daten. Fremderklärungen entstehen im Spannungsfeld des Sprechens, des Dialogs mit andern Menschen und des Selbstgesprächs, der Selbstverständigung. In jedem und aus jedem Text sprechen viele Autoren . Jeder Text ist ein dichtgewobenes Bündel von Perspektiven und Sprachen: ein Zentrum vieler Blicke und Einstellungen.

    Ob Ethnologe, Soziologe oder Geschichtswissenschaftler - jeder von ihnen löst Bewegungen aus dem alltäglichen Geschehen heraus, deutet sie im Zusammenhang der jeweiligen Kultur, der sozialen, politischen und symbolischen Ordnungen und Unbewussten Strömungen und überträgt sie in ein erzählerisches Universum.

    Es gibt also keine von den Phantasien und Wünschen ablösbare, bloß vernünftige Annäherung an die Wirklichkeit. Stets können wir uns nur schrittweise vom eigenen Blick lösen. Wir können keinen objektiven Standpunkt setzen oder voraussetzen. Alles spielt sich im emotionalen und geistigen Zentrum des Beobachters, in seiner inneren Welt ab. Es besteht eine Resonanzbeziehung zwischen Beobachter und Beobachtetem - der Ethnopsychoanalytiker Georges Devereux hat in seiner Studie Angst und Methode in den Verhaltenswissenschaften dafür die prägnante Formel gefunden. "Jede Beobachtung ist eine Beobachtung am Beobachter."

    Wissenschaftler befinden sich bei ihrer Beschreibung von Wirklichkeit stets an den Schnittstellen von Geschichten und Geschichte. Sie sind angewiesen auf die Erfahrungen, die in jeder einzelnen Geschichte zum Ausdruck kommen. Darin gleichen sie dem Fischer, der auf bewegter See von seinem Boot aus um sich herum nur Berge und Abgründe wahrnimmt. Aber Wissenschaftler müssen gleichsam an Land gehen, den Schritt vom zu Nahen ins Allgemeine wagen. Darin gleichen sie dem Beobachter, der vom Ufer aus aufs Meer schaut und statt der unendlich vielen Bewegungen nur eine mehr oder weniger gekräuselte Oberfläche wahrnimmt. In dieser Distanz beginnen die Forscher zu konstruieren und zu erfinden.

    Jede Wissenschaft und jeder Text liefert immer nur begrenzte und angenäherte Darstellungen der Wirklichkeit, auch wenn viele Autoren uns glauben machen wollen, sie vermittelten die Wirklichkeit. Durch jede Wirklichkeitsdarstellung zieht sich eine terra incognita, ein unbekanntes Land, dessen Grenzen wir allerdings beständig verschieben, verzerren - und entzerren können.

    In früheren Jahrhunderten ließen weitsichtige Forschungsreisende auf den Landkarten, auf denen sie ihre Reisen verzeichneten, im Umfeld der von ihnen besuchten Gebiete weiße Stellen frei. Das war die terra incognita, über die sie nichts zu sagen vermochten. Vielleicht können die Wissenschaftler in der Achtung vor dem Unbekannten von den Reisenden lernen. Oder von den Künstlern. So beschreibt etwa der Maler und Schriftsteller Henri Michaux das Unbekannte als Stachel seiner Kreativität: Eines Tages glaubt er, jetzt, wo er die Originale der Bilder René Magrittes gesehen und auch den Künstler kennen gelernt hat, würden seine Ideen noch einmal ganz neu aktiviert werden. Aber gerade da fällt ihm nichts mehr ein. Das Bekannte scheint sich wie eine Barriere vor dem Unbekannten ausgebreitet zu haben.