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An der Schwelle zur kollektiven Scham

Der Kampf der islamistischen Hamas im Gazastreifen gegen die Fatah und die Regierung in Ramallah könnte zur Spaltung des Landes und zu neuem Kreg führen - falls der nicht längst begonnen hat. In den Kämpfen der vergangenen Tage haben sich die Intellektuellen und Künstler des Landes bislang mit Stellungnahmen zurückgehalten. In Europa jedenfalls waren ihre Stimmen bislang kaum zu vernehmen. Das ändert sich nun.

Von Joseph Croitoru |
    "Es kam, wie es kommen sollte" - mit diesem Titel eines Gedichts des palästinensischen Nationaldichters Mahmud Darwish überschrieb heute die Zeitung "Al-Ayyam" aus Ramallah einen Kommentar des palästinensischen Schriftstellers Ghassan Zaqtan. Dessen Worte drücken jenen tiefen Schmerz aus, wie ihn viele der säkularen Intellektuellen in Palästina nach den blutigen Ereignissen der letzten Tage empfinden mögen.

    Zaqtan, 1954 geboren, gehört einer Generation palästinensischer Literaten an, die auch stets um den Dialog mit ihren israelischen Kollegen bemüht waren. Ihr Ziel ist es immer gewesen, dem von der Hamas immer stärker aufgebauten Feindbild von den Israelis entgegenzuwirken. Dies ist nur ein Aspekt eines Kulturkampfes, der jetzt in den Palästinensergebieten tobt. In seinem Kommentar wirft Zaqtan den palästinensischen Islamisten vor, eine Kultur des Todes und des Mordens verbreiten zu wollen.

    Er und seine Kollegen hätten zwar gehofft, dass sie sich mit ihren Befürchtungen im Irrtum befänden, doch nun habe die Hamas ihr wahres Gesicht gezeigt: Sie strebe, so Zaqtan, eine vollständige Vernichtung der säkularen palästinensischen Kultur an. Mit Hilfe ihrer Rechtsgelehrten, Moscheeprediger und Publizisten sei die Hamas bemüht, nicht nur die palästinensische Geschichte im islamischen Sinne umzuschreiben, sondern der Gesellschaft ihren Islamismus mit Gewalt aufzuzwingen. Zaqtan geht jedoch gleichzeitig mit seinen Intellektuellen-Freunden hart ins Gericht: Sie seien schließlich zu naiv gewesen und wären auf die Beschwichtigungsparolen der Islamisten und ihre falsche Toleranz hereingefallen.

    Andere palästinensische Intellektuelle sprechen in ihren Pressekommentaren der letzten Tage eine noch deutlichere Sprache. Der Begriff "kollektiver Selbstmord" taucht hier immer wieder als Metapher für die allgemeine Verwirrung und Ratlosigkeit auf. So ist Ahmad al-Rabi in der Ostjerusalemer Zeitung "Al-Quds" der Ansicht, dass nun nach dem Irak auch die Palästinenser, die in letzter Zeit kaum noch mit Selbstmordattentaten in Verbindung gebracht wurden, erneut in eine Kultur des Selbstmords abdriften, die größtes Unheil verspreche.

    Und der angesehene Publizist Ali Dscharadat wirft der Hamas vor, mit ihrer Zerstörungswut die bisherigen Errungenschaften der palästinensischen Nationalbewegung zunichte zu machen -palästinensische Politik könne nicht nach den Regeln der Selbstmordattentate gemacht werden. Die Hamas-Führung vergleicht Dscharadat mit einem Piloten, der enthusiastisch in seine Maschine steige, aber dann nicht mehr wisse, wo er landen solle. Der Karikaturist des Blatts findet eine noch schärfere Formulierung: Sein gezeichneter Kommentar zeigt im Vordergrund einen vermummten Selbstmordbomber der Hamas, im Hintergrund prangt die Karte des Gazastreifens - diese allerdings ist in Grün, der Farbe des Islam, getaucht und in einen riesigen Käfig gesperrt.

    Die Hamas und die ihr nahe stehenden Publizisten zeigen sich von diesen bedrohlichen Szenarien unbeeindruckt. In der erst unlängst von Hamas-Kreisen gegründeten Zeitung "Felesteen" wurde auch heute wie eh und je mit den gewohnten abgenutzten Parolen zu dem angeblich notwendig gewordenen nationalen Dialog aufgerufen. Der Universitätsdozent Yussef Kamel Ibrahim aus Gaza fordert alle Seiten auf, die nationale Einigkeit zu bewahren und an den Verhandlungstisch zurückzukehren. Hier entsteht der genau entgegen gesetzte Eindruck zu dem Bild, das die säkularen Intellektuellen der Fatah von den Islamisten zeichnen. Die Fatah-Milizionäre werden schlimmer Gewalttaten beschuldigt, in "Felesteen" ist sogar die Rede davon, dass sie bereits auch Hamas-Anhänger in der palästinensischen Diaspora im Libanon verfolgten. Die heutige Karikatur dieser islamistischen Zeitung spricht zwar eine dramatische Sprache - zahlreiche mit Blut befleckte Hände halten die Karte des gesamten historischen Palästina hoch, die wie eine palästinensische Nationalfahne gezeichnet ist. Wer aber an dem Blutvergießen die Schuld trägt, das verrät sie nicht. Die Hamas ist es aus Sicht des Karikaturisten jedenfalls nicht.