Archiv


An der Seite Hitlers

Viele Erinnerungsbücher zum 3. Reich erscheinen zur Zeit, oft mit heißer Nadel gestrickt, um einem Film, einem anderen Buch oder dem Tod des Zeitzeugen zuvor zu kommen. Dazu gehört auch Rochus Misch: nach eigenem Bekunden "Hitlers Telefonist, Kurier und Leibwächter". Er hat seine Lebenserinnerungen unter dem Titel "Der letzte Zeuge" vorgelegt. Henry Bernhard hat sie für uns gelesen.

    Ich bin ein unbedeutender Mann, aber ich habe Bedeutendes erlebt. Ich war knapp 28 Jahre alt, als das Dritte Reich unterging. Ich stellte nach Hitlers Tod vom "Führerbunker" aus noch die Leitung zu den Russen her, und nach meiner offiziellen Entlassung durch Reichskanzler Joseph Goebbels zog ich schließlich alle Stecker aus der Telefonanlage.

    1939 erreicht Rochus Misch der Ruf ins persönliche Begleitkommando Hitlers. Da ist Misch noch normaler Soldat. Er stammt aus Oberschlesien, ein Weisenkind, das Nazi-Regime beachtet er zunächst kaum. Er interessiert sich mehr für seine Arbeit als Kunstmaler und für Fußball. In die SS gerät er, weil er nach dem Wehrdienst gern Beamter werden will - am liebsten bei der Bahn. Als Telefonist, Kurier und Leibwächter arbeitet Misch für Hitler. In der Reichskanzlei, in der Wolfsschanze, auf dem Obersalzberg, und zuletzt im Berliner Führerbunker. Man wählt ihn aus, weil er keinen Ärger macht. Von Hitler ist er beeindruckt.

    Ich hatte weder ein Monster gesehen noch einen Übermenschen. Der Privatmann Hitler war ein normaler, ein einfacher Mann, der einfachste Mann, den ich kannte.

    Die Front war weit, die Braut nah, die Arbeit interessant und im Vergleich zur Front ungleich lockerer und ungefährlicher - was wollte man mehr angesichts des mörderischen Schlachtentaumels des 2. Weltkriegs?
    Zeit also für Klatsch und Tratsch aus Hitlers nächster Nähe, wie es der BILD-Zeitung schmeckt, die Auszüge abdruckte. Misch hält zwar viel auf seinen Anstand, auf Abstand, auf Diskretion; doch schon das vertrauliche "Eva" für Eva Braun, der späteren Frau Hitlers, stößt dem Leser auf. Geschmacklos vor allem angesichts dessen, was sich draußen abspielte: Vernichtungskrieg, Massenmord, Holocaust. Wäre Hitler einmal in ein KZ gereist, um es zu besichtigen - Misch ist sich sicher, dass sie dann dabei gewesen wären, er und seine Kameraden.

    Wo er hinging, gingen auch wir hin. Wo er hinkam, da kamen auch wir hin. Ich habe keine Fragen gestellt, wenn man besser keine stellte. Ich habe auch keine Fragen gestellt, wenn man dies hätte machen können. Der junge Rochus hatte wenig Fragen.

    "Man lebte ja zusammen." ist vielleicht der kürzeste Satz des Buches und gleichzeitig sein bedeutendster. Er sagt ungewollt auch das aus, woran das Buch krankt: Aus räumlicher Nähe zum Zentrum des apokalyptischen Bösen in der Welt sind Misch nur der Kameradengeist und der Stolz geblieben, berühmte Männer getroffen zu haben und nicht etwa spätere Bedenken. Wenn auch zunächst die Neugier den Leser durch das Buch trägt - spätestens ab der Mitte des Buches macht sich Langeweile breit. Immer wieder weist Misch stolz auf seine Zuverlässigkeit und seine Verschwiegenheit hin - Sekundärtugenden, deren Aufzählung von einem ehemaligen SS-Mann heute im besten Falle deplatziert wirken.

    Das Buch ist reichhaltig und durchaus informativ bebildert. Fragwürdig jedoch ist eine Fotomontage, die den Autor in Gesellschaft Hitlers zeigt. Ein weiteres Manko ist die Perspektive: Im Zentrum der Autobiographie des Rochus Misch steht nicht Rochus Misch selbst, sondern Hitler. Misch erinnert sich an Gesten, an vereinzelte Worte, die sein "Chef" ihm gegenüber verlor - er präsentiert sie wie Trophäen. Dennoch erfahren wir wenig neues über Hitler, es sei denn, jemand hat noch nicht gewußt, dass Hitler keinen Humor hatte, wie Misch berichtet.

    Was er zum 20. Juli 1944, zum gescheiterten Attentat Stauffenbergs auf Hitler, zu sagen hat, ist verblüffend. Misch, der aus dem Mittagsschlaf zum Dienst geholt wurde, musste eilig Telefonverbindungen zwischen der "Wolfsschanze", dem Ort des Attentats, und Berlin herstellen. Damit sollte klar gestellt werden, dass Hitler den Anschlag überlebt hatte.

    Ich kannte mich mit der Telefonanlage am besten aus. Die hochmoderne Anlage ließ uns nicht im Stich. Es gelang uns, alle gewünschten Verbindungen zur "Wolfsschanze" für Goebbels herzustellen. Damit war der Spuk vorbei. Die Reichskanzlei war wieder in unserer Hand. Meine Anspannung wich, und ich wurde wieder von Müdigkeit überwältigt, schließlich hatte man mich wegen des Attentats aus dem Mittagsschlaf gerissen.

    Auch durch Rochus Misch also ist der 20. Juli 1944 gescheitert - ein Puzzleteil nur, aber auch keine Lappalie. Der Attentäter Stauffenberg dagegen ist für ihn - noch immer! - ein Kameradenmörder. Reflexionen gibt es bei Misch nicht, auch nicht 60 Jahre nach dem Erlebten. Einzig der sinnlose Tod der sechs Goebbels-Kinder berührt ihn damals wie heute aufs Tiefste.

    Da saß ich, bis vor kurzem noch der Leibwächter des "Führers" Adolf Hitler - aber ich konnte nicht einmal diese Kinder beschützen.

    Womit wir beim "Endkampf" und im "Führerbunker" angelangt wären. Rochus Misch war einer von 6 "Führerbunker"-Bewohnern. Ganz im Gegensatz zum Rest des Buches gelingen ihm die Beschreibungen der letzten Tage im Untergrund Berlins, mit seiner gespenstischen Atmosphäre voller Verrats- und Rettungsphantasien, dicht und beklemmend. Für Misch war es eine "Totengruft", in der er einen "Logenplatz" besetzte. Als Mitte April 1945 alles Personal im Führerbunker entlassen wird, um die eigene Haut zu retten, hört Rochus Misch den Satz, der ihn noch heute stolz macht: "Misch, sie werden natürlich noch gebraucht!" Und so bleibt er pflichttreu bis zum Ende, während sich Generäle und Parteibonzen davonmachen oder in den Tod fliehen. Misch schiebt Dienst bis 5 nach 12, bis Goebbels ihn entlassen sollte, am 2. Mai `45. Nicht ohne zuvor alle Stecker aus der Telefonanlage zu ziehen, flieht Misch und fällt nach wenigen Stunden der Roten Armee in die Hände. Er kommt in sowjetische Gefangenschaft, wird als SS-Mann in Hitlers nächster Umgebung enttarnt und gefoltert: Wo sich Hitler aufhielte, wollen die Russen von ihm wissen. Auch die Folter schildert Misch sachlich, ohne emotionale Regung. Sie ist immerhin so schlimm, dass Misch um den Tod als Erlösung bittet. Er wird 1949 zum Tode verurteilt, später zu 25 Jahren Zwangsarbeit "begnadigt" und bleibt schließlich 8 Jahre in den Händen der Sowjets. 1953 kehrt er endlich nach Hause zurück.

    Es fällt ihm schwer, nach acht Jahren Gefangenschaft Fuß in einer Heimat zu fassen, die er nicht kennt. Seine Frau macht derweil Karriere und zieht für die SPD ins Berliner Abgeordnetenhaus ein. Eine groteske Szene: Misch, der 5 Jahre Hitlers Leibwächter und Telefonist war, bittet seine Frau, die Politik doch sein zu lassen, weil ihm Politiker unsympathisch seien.

    Es war oft schwer für mich, so wie es für sie schwer gewesen sein muss, als ich in den Diensten Hitlers stand. Ich war immer ein unpolitischer Mensch. Ich war selbst nie Parteimitglied, nicht in der SPD, nicht in der NSDAP.

    Für ihn ist es alles eins: SPD - NSDAP, die alten Geschichten. Rochus Misch, "Hitlers Telefonist, Leibwächter und Kurier", sitzt noch immer im "Führerbunker", den er wohl nie mehr verlasen wird. Zum Schluss des Buches schwingt er sich zu einem knappen pathetischen Schlusswort auf, gegen den Krieg. Es klingt, nach all den Landsergeschichten zuvor, hohl und bemüht. Trotz des wohlwollenden Vorworts von Ralph Giordano - kaum zu glauben, das er das getan hat - ist "Der letzte Zeuge" kein Buch, das neue Erkenntnisse hervorbringt - oder höchstens die, wie banal und scheinbar friedlich der Dienst am Bösen im Zeitalter der Arbeitsteilung sein kann.

    Henry Bernhard: Rochus Misch: Der letzte Zeuge - Ich war Hitlers Telefonist, Kurier und Leibwächster. Pendo Verlag, 280 Seiten, € 19,90.