Die Verwandlung des brasilianischen Mädchens in ein deutsches gehört zu den stärksten Kapiteln des Romans. Als innerer Monolog der Siebenjährigen ist es gestaltet. Ein herzzerreißender Gefühls- und Bewußtseinsrapport einer aufgezwungenen Metamorphose. Die vollendete Kunst; Kinder zu kneten. Doch besonders an der Fremdheit und Heimatlosigkeit Anas zeigt der Roman das Leid von Emigration und Exil. Insofern kann "Ana in Venedig" auch als eindringliche Parabel über die Situation der Migranten unserer Tage gelesen werden. Vor allem aber transzendiert der Roman das konkrete Erleben von Fremdheit und Heimatlosigkeit zu einer universellen Erfahrung. Das universelle Unbehaustsein als anthropologische Konstante. Dem entwurzelten Migranten offenbart es sich am ehesten. Das Leben ist wie eine unheilbare Wunde, sagt die tuberkulosekranke und dem Tode nahe Ana. Deshalb vergeudet man nur seine Zeit, wenn man die Wunde zu heilen versucht. Man soll lieber lernen, mit der offenen Wunde zu leben. Mit dieser Erkenntnis macht die alte Ana den jungen Nepomuceno vertraut. (Dieser Nepomuceno leidet nicht nur unter seiner fragilen brasilianischen und künstlerischen Identität, sondern auch unter der ständigen Bedrohung eines körperlichen Zusammenbruchs. Zudem erlebt er sowohl in der brasilianischen Kulturschickeria, als auch im kulturellen Ambiente Europas die Dekadenz seiner Epoche, der Venedig zum Symbol ihrer Morbidität wurde.) Selbstzweifel, Ermüdung, Heimweh und Todesfurcht bestimmen Nepomucenos Lebensgefühl. Bis er Ana begegnet und begreift, daß Tod und Scheitern dem Leben eingeschrieben sind und daß es darauf ankommt, das Chaos als Nährboden für Neues zu betrachten. Adrian Leverkühn gegenüber, dem "Sohn der Hoffnungslosigkeit", wie es im Roman heißt, verteidigt Nepomuceno schließlich sein Glaubensbekenntnis der Lebensbejahung im Chaos. Trevisan dazu: "Ohne Chaos gibt es keine Zukunft. Das Chaos ist das Mysterium. Wir müssen fähig sein, das Neue in diesem MySterium zu finden. Jeder Schmerz, jeder Schatten hat seine Lichtseite, jedes Chaos beinhaltet etwas Schöpferisches, das Chaos ist schöpferisch. Und ich schlage in meinem Roman vor: Schluß mit der Angst vor dem Chaos! Es ist notwenig, ins Chaos abzutauchen. Es reicht mit der alten Ordnung! Suchen wir die neue Ordnung. Und die neue Ordnung liegt in der Unordnung."
Seine ästhetische Ordnung gründet Trevisan über weite Strecken auf der Romantradition des 19. Jahrhunderts. Gleich der erste Satz zeigt den gewählten Ton dieser Prosa: "Der verehrte Leser möge Nachsicht üben angesichts des vielleicht nicht ganz angemessenen Tons dieser Zeilen, die sich als leidenschaftsloser Exkurs über das Ende einer Epoche und eines ihrer Repräsentanten verstehen". Doch leidenschaftslos sind diese Zeilen ganz und gar nicht, im Gegenteil. Sie versteigen sich mitunter in ein Pathos, das an jene überdimensionalen Historiengemälde erinnert, die man gemeinhin als Schinken bezeichnet. Mit seinen knapp 740 Seiten ist "Ana in Venedig" auch in quantitativer Hinsicht ihr Pendant. "Ach, der Tod, ach das Leben" stoßseufzt es aus allen Ecken und verwischt die genaue Epochenanalyse und den klaren philosophischen Diskurs. Und die bildungsbürgerliche Schwärmerei des kunstsinnigen Europareisenden liegt einem schwer im Magen. Nepomucenos Ansichten der Alten Welt, des Ewigen Rom, des Florenz der Medici, des Untergehenden Venedig spiegeln lediglich die Klischees des im vergangenen Jahrhundert produzierten und in manchen Reiseführern bis heute reproduzierten Italienbildes. Das hätte uns der Autor in diesem Umfang ersparen können. Ironie kommt nur in den Tischgesprächen der vielgängigen Diners zum Tragen. Hier ist Trevisan ein Meister. Zum Gelingen des Romans gehört vor allem die Auseinandersetzung mit dem Werk Thomas Manns. "Ich bin vom Werk Thomas Manns nicht nur beeinflußt, sondern fasziniert", so Trevisan. "Sein Stil durchdringt meinen ganzen Roman. "Ana in Venedig" ist ein Dialog mit dem Werk von Thomas Mann. Denken Sie an die Figur des Adrian Leverkühn. Aber nicht nur an sie. Es gibt sehr viele andere wichtige Details. Von den Hausangestellten in den ‘Buddenbroks’ angefangen, die ich auch in ‘Ana in Venedig’ eingesetzt habe. Es gibt eine Erzählung von Thomas Mann mit dem Titel "Enttäuschung" von 1896, die ich vollständig in die Figur des Kastraten, der auf dem Markusplatz am gleichen Ort wie in der Erzählung, im Florian, auftaucht, übertragen habe. Ich habe auf diese Weise Thomas Mann neu gelesen. Bis zu einem Punkt, an dem ich nicht mehr wußte, was von mir und was von Thomas Mann ist. Und ich glaube, mein Roman will eine Antwort sein auf den ‘Doktor Faustus’. Eine Antwort auf den Dämon der Negativität, des Pessimismus, auf den Dämon der Dekadenz."