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Ana in Venedig

Alberto Nepomuceno war Brasilianer, lebte um die Jahrhundertwende und gilt als einer der Wegbereiter einer originär brasilianischen E-Musik. In Rom und Berlin hat er studiert. In seinem Roman "Ana in Venedig" erzählt Joao Silverio Trevisan aber nicht nur Nepomucenos Lebensgeschichte, sondern auch die der Mutter von Heinrich und Thomas Mann, Julia. Julia Mann, eine geborene da Silva Bruhns, verlebt die ersten Jahre ihrer Kindheit in Brasilien. Ihr Vater stammt aus Lübeck und hat es im Küstenstädtchen Parati zum wohlhabenden Plantagenbesitzer gebracht. Dutzende schwarzer Sklaven bewirtschaften sein Gut. Als Julias Mutter, eine Brasilianerin, stirbt, ist Julia sieben. Wir schreiben das Jahr 1858. Der Vater kehrt mit Julia und seinen anderen Kindern nach Lübeck zurück: aus dem tropischen und katholischen Brasilien in den kühlen, protestantischen deutschen Norden. Julias schwarze Amme, eine freigelassene Skalvin, begleitet die Familie. Ana ist ihr Name, sie ist die Titelheldin des Romans. Doch die neue Umgebung bleibt Ana fremd, und Julia gelingt es nur unter großen Qualen, sich einzuleben. Soweit die authentischen Begebenheiten, von denen der Roman erzählt. Erfunden dagegen ist die Begegnung der drei Brasilianer. 1890 kommen Julia, Ana und Alberto Nepomuceno in Venedig zusammen und werden Freunde. Julia ist mittlerweile mit dem Senator Thomas Johann Heinrich Mann verheiratet und verbringt in der Lagunenstadt mit Ehemann und Kindern die Sommerfrische. Nepomuceno reist bald weiter nach Berlin. Im Anhalter Bahnhof erwartet ihn ein Journalist. Der Interviewer entpuppt sich als die Hauptfigur aus Thomas Manns Roman "Doktor Faustus": Adrian Leverkühn. Und während des Interviews verwandelt sich der Bahnhof in den Flughafen Berlin-Tegel. Ein Zeitsprung von hundert Jahren. Alles in allem: eine bessere Geschichte kann man sich für einen Roman kaum vorstellen. "Ich habe ‘Ana in Venedig’ nur geschrieben, um das Ende des 20. Jahrhunderts verstehen zu können", erläutert Trevisan. "Ich habe über das Ende des 19. Jahrhunderts geschrieben, einzig und allein, um die Wurzeln der Probleme des ausgehenden 20. Jahrhunderts zu verstehen. Ich habe entdeckt, daß die Krisen am Ende dieser Jahrhunderte einander viel ähnlicher sind, als wir gedacht haben. Es gibt sehr vieles, was sich vergleichen läßt. Diesen Erschöpfungszustand des ausgehenden 19. Jahrhunderts erleben wir auch heute. Die Krise des 19. Jahrhunderts war die Krise einer überholten bürgerlichen Kunst, und Thomas Mann hat diese Krise gültig formuliert. Es gab darüberhinaus jene Krisen, die aus der industriellen Revolution resultierten, aus den Nationalismen jener Zeit. Heute kann man von Erschöpfung in den Bereichen Ästhetik, Ideologie und Ökologie sprechen. So habe ich den ganzen Roman im Hinblick auf diesen Zeitsprung am Schluß konstruiert."

Christoph Schmitz |
    "Ana in Venedig" entwirft ein sozialgeschichtliches, und vor allem auch ein kulturgeschichtliches Panorama der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Brasilien und Deutschland. Die unmenschlichen Lebensbedingungen der schwarzen Sklaven im brasilianischen Kaiserreich, die Bewegungen zur Abschaffung von Sklaverei und Monarchie werden ebenso erzählt wie die Entwicklung eines eigenständigen kulturellen Lebens in Brasilien. (Auch wenn nach wie vor Europa in ästhetischer Hinsicht als das Maß aller Dinge angesehen wird - Nepomuceno ist ein begeisterter Anhänger der Musik Richard Wagners und Franz Liszts -, so suchen die Kunstschaffenden erstmals nach eigenen brasilianischen Ausdrucksmöglichkeiten.) Die Suche nach einer kulturellen Identität spiegelt die Suche nach der brasilianischen Identität schlechthin. Entwurzelung, Identitätsverlust und Identitätssuche erleben die drei Brasilianer in der europäischen Fremde auf besonders intensive Weise. Nach ihrer afrikanischen Spache Yoruba wird Ana in Lübeck nun das Portugiesische entrissen. 32 Jahre später in Venedig ist sie zumindest äußerlich ein gebrochener Mensch. Ihr Portugiesisch hat sie fast vergessen, und Deutsch radebricht sie nur. Die Brasilianerin Julia wird zur Deutschen dressiert. Ihre Sprache, ihr sonniges Gemüt, ihre katholische Bilderwelt werden ihr mit allen Mitteln einer autoritären Pädagogik ausgetrieben und korrektes Deutsch und die Geziertheiten des "feinen Fräuleins" von hohem Stande eingebleut. "Ich mußte sogar auf gänzlich unkonventionelle Mittel zurückgreifen, um mich diesen Figuren zu nähern", so Trevisan. "In der afrobrasilianischen Religion Candomble gibt es das sogenannte Muschelspiel, ein Mittel, um den Geist einer Person zu erkunden. Damit habe ich herausgefunden, daß der Geist Julias die Gottheit Oxum war. Das hat mich sehr beruhigt, denn es bestätigte alles, was ich über Julia dachte. Oxum ist nämlich durch und durch eitel, fast bis zur Grausamkeit. Sie liebt es, sich darzustellen. So ist auch die entwurzelte Julia Mann gewesen. Sie hat versucht, eine richtige Deutsche zu werden, auch mittels ihrer Eitelkeit."

    Die Verwandlung des brasilianischen Mädchens in ein deutsches gehört zu den stärksten Kapiteln des Romans. Als innerer Monolog der Siebenjährigen ist es gestaltet. Ein herzzerreißender Gefühls- und Bewußtseinsrapport einer aufgezwungenen Metamorphose. Die vollendete Kunst; Kinder zu kneten. Doch besonders an der Fremdheit und Heimatlosigkeit Anas zeigt der Roman das Leid von Emigration und Exil. Insofern kann "Ana in Venedig" auch als eindringliche Parabel über die Situation der Migranten unserer Tage gelesen werden. Vor allem aber transzendiert der Roman das konkrete Erleben von Fremdheit und Heimatlosigkeit zu einer universellen Erfahrung. Das universelle Unbehaustsein als anthropologische Konstante. Dem entwurzelten Migranten offenbart es sich am ehesten. Das Leben ist wie eine unheilbare Wunde, sagt die tuberkulosekranke und dem Tode nahe Ana. Deshalb vergeudet man nur seine Zeit, wenn man die Wunde zu heilen versucht. Man soll lieber lernen, mit der offenen Wunde zu leben. Mit dieser Erkenntnis macht die alte Ana den jungen Nepomuceno vertraut. (Dieser Nepomuceno leidet nicht nur unter seiner fragilen brasilianischen und künstlerischen Identität, sondern auch unter der ständigen Bedrohung eines körperlichen Zusammenbruchs. Zudem erlebt er sowohl in der brasilianischen Kulturschickeria, als auch im kulturellen Ambiente Europas die Dekadenz seiner Epoche, der Venedig zum Symbol ihrer Morbidität wurde.) Selbstzweifel, Ermüdung, Heimweh und Todesfurcht bestimmen Nepomucenos Lebensgefühl. Bis er Ana begegnet und begreift, daß Tod und Scheitern dem Leben eingeschrieben sind und daß es darauf ankommt, das Chaos als Nährboden für Neues zu betrachten. Adrian Leverkühn gegenüber, dem "Sohn der Hoffnungslosigkeit", wie es im Roman heißt, verteidigt Nepomuceno schließlich sein Glaubensbekenntnis der Lebensbejahung im Chaos. Trevisan dazu: "Ohne Chaos gibt es keine Zukunft. Das Chaos ist das Mysterium. Wir müssen fähig sein, das Neue in diesem MySterium zu finden. Jeder Schmerz, jeder Schatten hat seine Lichtseite, jedes Chaos beinhaltet etwas Schöpferisches, das Chaos ist schöpferisch. Und ich schlage in meinem Roman vor: Schluß mit der Angst vor dem Chaos! Es ist notwenig, ins Chaos abzutauchen. Es reicht mit der alten Ordnung! Suchen wir die neue Ordnung. Und die neue Ordnung liegt in der Unordnung."

    Seine ästhetische Ordnung gründet Trevisan über weite Strecken auf der Romantradition des 19. Jahrhunderts. Gleich der erste Satz zeigt den gewählten Ton dieser Prosa: "Der verehrte Leser möge Nachsicht üben angesichts des vielleicht nicht ganz angemessenen Tons dieser Zeilen, die sich als leidenschaftsloser Exkurs über das Ende einer Epoche und eines ihrer Repräsentanten verstehen". Doch leidenschaftslos sind diese Zeilen ganz und gar nicht, im Gegenteil. Sie versteigen sich mitunter in ein Pathos, das an jene überdimensionalen Historiengemälde erinnert, die man gemeinhin als Schinken bezeichnet. Mit seinen knapp 740 Seiten ist "Ana in Venedig" auch in quantitativer Hinsicht ihr Pendant. "Ach, der Tod, ach das Leben" stoßseufzt es aus allen Ecken und verwischt die genaue Epochenanalyse und den klaren philosophischen Diskurs. Und die bildungsbürgerliche Schwärmerei des kunstsinnigen Europareisenden liegt einem schwer im Magen. Nepomucenos Ansichten der Alten Welt, des Ewigen Rom, des Florenz der Medici, des Untergehenden Venedig spiegeln lediglich die Klischees des im vergangenen Jahrhundert produzierten und in manchen Reiseführern bis heute reproduzierten Italienbildes. Das hätte uns der Autor in diesem Umfang ersparen können. Ironie kommt nur in den Tischgesprächen der vielgängigen Diners zum Tragen. Hier ist Trevisan ein Meister. Zum Gelingen des Romans gehört vor allem die Auseinandersetzung mit dem Werk Thomas Manns. "Ich bin vom Werk Thomas Manns nicht nur beeinflußt, sondern fasziniert", so Trevisan. "Sein Stil durchdringt meinen ganzen Roman. "Ana in Venedig" ist ein Dialog mit dem Werk von Thomas Mann. Denken Sie an die Figur des Adrian Leverkühn. Aber nicht nur an sie. Es gibt sehr viele andere wichtige Details. Von den Hausangestellten in den ‘Buddenbroks’ angefangen, die ich auch in ‘Ana in Venedig’ eingesetzt habe. Es gibt eine Erzählung von Thomas Mann mit dem Titel "Enttäuschung" von 1896, die ich vollständig in die Figur des Kastraten, der auf dem Markusplatz am gleichen Ort wie in der Erzählung, im Florian, auftaucht, übertragen habe. Ich habe auf diese Weise Thomas Mann neu gelesen. Bis zu einem Punkt, an dem ich nicht mehr wußte, was von mir und was von Thomas Mann ist. Und ich glaube, mein Roman will eine Antwort sein auf den ‘Doktor Faustus’. Eine Antwort auf den Dämon der Negativität, des Pessimismus, auf den Dämon der Dekadenz."