Archiv


Analyse des europäischen Universalismus

Allzu gerne werden die hehren Maßstäbe der abendländischen Kultur im Munde geführt, wenn es schlicht darum geht, wirtschaftliche Interessen auch mit Gewalt durchzusetzen. Der Historiker und Sozialwissenschaftler Immanuel Wallerstein hat sich über den europäischen Universalismus Gedanken gemacht, der den Barbaren immer im Anderen sieht. Hans-Martin Lohmann hat Wallersteins kleine Studie gelesen.

    Schon der Kosmos der alten Griechen kannte die begriffliche Unterscheidung zwischen dem Eigenen und dem Fremden. Das Fremde beziehungsweise die Fremden, das waren für die Griechen die Barbaren. In den überkommenen schriftlichen und bildlichen Überlieferungen der klassischen hellenischen Welt erscheinen die Barbaren zwar stets als Menschen anderer Ordnung, was sich etwa schon in der Art ihrer Bekleidung ausdrückte. Zugleich aber waren die Griechen weit davon entfernt, die Überlegenheit ihrer eigenen Kultur vorauszusetzen und deren Besonderheit den Fremden aufzuzwingen. In den Tragödien des Aischylos und im Geschichtswerk Herodots wird die orientalische Welt der Perser, mit denen sich die Griechen am Beginn des 5. vorchristlichen Jahrhunderts in einer existentiellen Auseinandersetzung befanden, als eine Lebensordnung gleicher Würde gedeutet und ein Exklusivanspruch der griechischen Sache nirgends postuliert.

    Rund 2000 Jahre später hatte sich das Verhältnis Europas zur nichteuropäischen Welt grundlegend geändert, und hier setzt das Buch des amerikanischen Historikers und Soziologen Immanuel Wallerstein ein. Wallerstein, Autor des Standardwerks "Das moderne Weltsystem", steht als Wissenschaftler in der Tradition jener französischen Historikerschule, die sich mit langfristigen geschichtlichen Entwicklungen und Perspektiven, mit der longue durée, gleichsam unterhalb der Ereignisgeschichte beschäftigt, wofür als Name und Programm Fernand Braudel stehen mag.

    Um 1500, also mit der Entdeckung und Kolonisierung Amerikas durch Spanier und Portugiesen, begann Wallerstein zufolge ein Prozess, der wie selbstverständlich der Annahme folgte, die europäische Zivilisation sei allen anderen gesellschaftlichen Ordnungen grundsätzlich überlegen und von daher auch moralisch legitimiert, diese mit ihren Segnungen zu beglücken, notfalls mit Gewalt. Der spanische Gelehrte Juan Ginés de Sepúlveda wandte sich in seinen Schriften scharf gegen Leute wie Bartolomé de Las Casas, der es gewagt hatte, die blutige spanische Missionierungskampagne in der Neuen Welt anzuprangern und das Lebensrecht der Indios zu verteidigen. Sepúlveda trug "die gerechten Gründe für den Krieg gegen die Indios" vor und schrieb, die Indios seien

    "Barbaren, einfach, ungebildet und unerzogen, Wilde, völlig unfähig, etwas anderes als mechanische Fertigkeiten zu erlernen, voller Laster, grausam und so geartet, dass es ratsam war, dass sie von anderen regiert wurden"."

    Und weiter heißt es:

    ""Die Indios müssen das spanische Joch tragen [...] zum Ausgleich und zur Strafe für ihre Verbrechen gegen das göttliche Gesetz und das Naturrecht, derer sie sich schuldig gemacht haben, namentlich Götzendienst und der pietätlose Brauch des Menschenopfers."

    Diese Praxis des gewaltsamen Erzwingens der Zivilisation gegen "die Barbarei der anderen" belegt Wallerstein mit dem Titel "europäischer Universalismus". Flankiert wurde solcher Universalismus in einer späteren Phase von dem, was Edward Said "Orientalismus" genannt hat, das heißt von einer intellektuellen Strategie, die zur Verdinglichung und Essentialisierung des Anderen im Sinne seiner Minderwertigkeit und Unterlegenheit führte, in der jüngsten Moderne schließlich von der Idee des wissenschaftlichen Universalismus, die den Anspruch der modernen westlichen Wissenschaft - gemeint sind natürlich die Naturwissenschaften -, das ausschließliche Monopol auf objektive Wahrheit innezuhaben, zementierte.

    Folgt man Wallerstein, so hat sich an dieser Praxis bis heute nicht viel geändert. Auch im 21. Jahrhundert führt der europäische Universalismus Kampagnen und Kriege gegen das Böse im Namen des Guten, zwar nicht mehr unter dem Banner der christlichen Religion, wohl aber in der Gewissheit, auf lange Sicht die moralisch und historisch richtige Sache zu exekutieren, auch wenn es die Betroffenen nicht immer einsehen können oder wollen: Im Irak kämpfen US-Amerikaner und Briten für Demokratie und good governance, am Hindukusch verteidigen deutsche Soldaten Freiheit und Menschenrechte, so die unerbittliche Rhetorik derer, die das Vernünftige und Gute auf ihrer Seite glauben. Die Frage bleibt freilich, wie universell dieser angemaßte Universalismus in Wahrheit ist.

    Wallerstein lässt keinen Zweifel daran, dass es sich trotz aller hehren Beteuerungen hier eher um einen europäischen Partikularismus handelt, dessen Raffinesse darin besteht, dass er seine besonderen Interessen, die in erster Linie ökonomischer und imperialistischer Natur sind, als allgemeine zu verkaufen versteht. Mit dieser Einlassung zugunsten der "Barbaren" legitimiert er keineswegs beunruhigende Phänomene wie den aktuellen islamischen Fundamentalismus und Terrorismus; auch verteidigt er damit nicht einen gleichsam umgekehrten Orientalismus, der alles Schlechte und Minderwertige der westlichen Kultur anlastet. Aber er besteht darauf, dass der von Europa und den USA propagierte Universalismus der Werte eine Fiktion sei.

    Als Analytiker der longue durée gelangt Wallerstein zu der Ansicht, das moderne kapitalistische Weltsystem befinde sich in einer strukturellen Krise, weil sich die Verwertungsbedingungen des global operierenden Kapitals langfristig verschlechterten. In dieser Systemkrise sieht der Autor die Chance, die Trennung der Kulturen, der europäischen und der außereuropäischen, zu überwinden und zu einem wahren, das heißt nicht mehr eurozentrischen Universalismus zu gelangen. Es ist schade und für den Leser etwas enttäuschend, dass Wallerstein zum Schluss seiner Ausführungen weder bereit noch in der Lage zu sein scheint, die politischen und kulturellen Konturen eines wirklich universellen Universalismus wenigstens in Umrissen zu entwerfen. Schließlich darf an das Verlagslektorat die Frage gestellt werden, warum zwei der berühmtesten Aufsätze Max Webers unter falschem Titel zitiert werden.


    Immanuel Wallerstein: Die Barbarei der anderen. Europäischer Universalismus
    Aus dem amerikanischen Englisch von Jürgen Pelzer.
    Wagenbach Verlag, Berlin 2007
    109 Seiten, 10,90 Euro