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Analyse mit mehrdeutigen Schlüssen

Zielen Massenmord und Terror auf die physische Auslöschung der schwarzafrikanischen Bevölkerung in Darfur, oder geht es um die totale politische und territoriale Kontrolle? Dieser Frage geht Gérard Prunier in seinem Buch "Darfur - Der 'uneindeutige' Genozid" nach. Kristin Platt, Darfur-Spezialistin des Bochumer Instituts für Diaspora- und Genozidforschung, hat es für uns gelesen.

26.02.2007
    "Uns wurde gesagt, dass wir arabische Nomaden seien. Dass wir unser Land und unser Vieh schützen müssen. Versprochen wurde uns ein monatlicher Lohn von 500 sudanesischen Pfund. Dann wurden wir trainiert. 20 Tage lang. Vor allem, wie man eine Waffe benutzt. Ich hatte eine Kalashnikov. Dann wurden wir eingeteilt. Drei Jahre lang bin ich mit ihnen von Dorf zu Dorf gezogen. Die Regierung hatte befohlen, die Dörfer anzugreifen. Und unsere Kommandeure entschieden, welche zuerst zerstört werden sollten. Wir waren das Bataillon, das nach den Luftangriffen und nach den Kameltruppen kam. Wenn wir das erste Feuer sahen, dann gingen wir in die Dörfer."

    Im vergangenen Oktober ist es dem "Times Magazine" gelungen, ein Interview mit einem geflohenen Kämpfer der Dschanschawid, jener paramilitärischen Einheiten zu führen, die im Regierungsauftrag seit dem Frühjahr 2003 erbarmungslos gegen die Bevölkerung des Darfur vorgehen, der fast frankreichgroßen Region im Nordwesten des Sudan, die trotz der vermutlich inzwischen 40. 000 Toten den Nachrichtenredaktionen nur gelegentlich eine Meldung wert ist.

    "Die Angriffe begannen meist am frühen Morgen und dauerten dann bis zum Ende des Tages. Sie sagten 'Tötet die Schwarzen, tötet die Schwarzen'. Die Frauen und Mädchen wurden zur Seite gebracht. Ich habe nie eine Frau vergewaltigt, aber die anderen taten es. Wenn sich eines der Mädchen weigerte, hörte man Gewehrschüsse. Das Vieh wurde auf Lastwagen wegtransportiert, während wir zum nächsten Dorf gebracht wurden. Wir haben ihre Häuser niedergebrannt. Wir haben die Männer getötet. Die Frauen und Kinder."

    "Darfur. The Ambiguous Genocide", so lautet der Titel des Buches des renommierten französischen Afrika-Spezialisten Gérard Prunier, das 2005 in London erschien und das nun auch in Deutsch vorliegt. Die erste Abweichung der deutschen Ausgabe findet man im Titel: "Darfur. Der 'uneindeutige' Genozid." Vielleicht passt ein Reden von Uneindeutigkeit statt Ambiguität, also Mehrdeutigkeit, tatsächlich besser in die hiesigen Diskussionen über Darfur. Redet man doch lieber von "Gewaltmärkten" oder "asymmetrischer Gewalt", anstatt die Akteure direkt zu benennen.

    Und wie sehr die Ereignisse in Darfur eine präzise Benennung erfordern, macht das Buch von Gérard Prunier deutlich. Auch wenn es dem Autor nicht ausdrücklich um den Versuch geht, das Abschieben der Gewalt in eine allgemeine Rede von Gewaltrisiken und Gewaltpotenzialen unmöglich zu machen, auch wenn der Autor selbst sich um eine konkrete Schlussfolgerung eher zu drücken scheint. Denn von Darfur zu sprechen heißt, die Frage zu beantworten, ob man die Ereignisse als Genozid werten muss. Schließlich würde die Benennung als Genozid eine Intervention unumgänglich machen.

    Gérard Prunier beginnt sein Buch mit einem dichten historischen Überblick, an den er eine Analyse der Entstehung eines sudanesischen Nationalismus zwischen 1930 und 1960 anschließt. Damit zeigt er, dass die politischen und sozialen Entwicklungen des Landes nicht allein in einem Spannungsfeld wirtschaftlicher Krisen und widerstreitender internationaler Einflüsse Europas, der Golfstaaten, Ägyptens und Libyens gesehen werden können. Hingegen macht er auf eine ungelöste, nationale Frage aufmerksam.

    Mit beeindruckendem Detailreichtum beschreibt der Afrikaexperte den weiteren Weg des Sudan von 1985 bis 2003, den er als eine Entwicklung von der "Marginalisierung" Darfurs bis zur "Revolte" kennzeichnet, also bis zur Entstehung von politischen Gruppen, die sich für eine Autonomie des Darfur einsetzen. Prunier betont, wie unnachgiebig jeder Versuch, sich den repressiven Gesetzgebungen der Zentralregierung in Khartoum zu widersetzen, mit direkter Gewalt beantwortet wurde. Und doch bleibt sein analytisches Resümee "Zentrum versus Periphererie", dass er im Buch einschiebt, bevor er die jüngsten Ereignisse behandelt, eher unbefriedigend.

    Denn ohne die konzentrierte Islamisierungspolitik seit Beginn der 1990er Jahre zu problematisieren oder die radikale Veränderung der administrativen, sozialen und politischen Strukturen in Darfur, ohne die Ethnisierungspolitik zu untersuchen, die die Regierung des Sudan verfolgt, gelingt es ihm nur in Ansätzen, die Ursache für die, wie es in der deutschen Ausgabe heißt, "genozidale Politik" herauszuarbeiten. Die Betonung der immer schon dagewesenen Gewalt, der Gedanke, der Konflikt sei nun einmal aufgrund des "ethnischen Mosaiks" von afrikanisch- und arabisch-stämmigen Bevölkerungen kaum zu vermeiden, solche Überlegungen sind für eine Ursachenanalyse nicht nur zu vereinfachend, sie sind falsch: Denn in der Deutung der Ereignisse als "ethnischer Konflikt" oder als eine durch die Globalisierung verschärfte "Zentrum-Peripherie"-Beziehung wird die politische Wirksamkeit von Weltanschauungen, Ideologien oder religiösen Normvorstellungen bedenklich unterschätzt.

    So spricht Prunier von einer seit 1999 zunehmend in die Enge gedrängten, ja "hilflosen" Regierung, die angesichts ihrer Unfähigkeit, ein geeignetes Mittel zur Beruhigung der Rebellen zu finden, etwas entwickelt, was er "Guerillabekämpfung zum Billigtarif" nennt. Doch waren der Einsatz der Antonow-Flugzeuge und Hubschrauber, die Waffenkäufe in Deutschland, die Ausrüstung und Bezahlung der Sondereinheiten oder die geschickten Pressekampagnen tatsächlich so billig? Auch ein Satz wie "Die Regierung ließ die Dschanschawid von der Leine" drängt den Eindruck einer analytischen Leerstelle auf, einer Leerstelle, die durch Kategorien wie die "humanitäre Krise" nicht einmal kosmetisch verdeckt wird.

    Pruniers Aneinanderreihung von Einzelaspekten nationaler und internationaler politischer und wirtschaftlicher Entwicklungen reicht nicht aus, die Ursachen der heutigen Gewalt im Sudan zu erkennen. Ja, zum Teil scheint seine Perspektive einen Blick auf die Ursachen sogar zu verstellen. Denn in Darfur geht es nicht um ethnische Differenzen oder Ressourcenkonkurrenzen, sondern um die gewaltsame Durchsetzung nationalistischer Vorstellungen von Volk und Territorium. Die im Buch offen bleibenden Aspekte sind vielleicht auch dem begrenzten Material anzulasten. So werden Regierungsverlautbarungen oder Gesetzgebungen im Sudan selten in die Analyse einbezogen. Daher gelingt es nicht, den westlichen Blick zu widerlegen, der Afrika noch immer als Region zu sehen scheint, wo "die wilden Völker sinnlos aufeinander schlagen".

    Gérard Pruniers Resümee bleibt bemüht vorsichtig: Insgesamt müsse man von einem misslungenen Versuch der Rebellenbekämpfung sprechen. Ein Versuch, der vielleicht ein Genozid sei, weil sich im Sudan eine zu allem entschlossene ethnisch und kulturell dominierende Gruppe einer unterdrückten Gruppe gegenüberstehe. Vielleicht aber sei es doch auch kein Genozid, weil für den Autor die Zahl der Toten zählt; und diese sei einfach noch nicht so hoch, obwohl, so Prunier weiter, nach der UN-Konvention in Darfur eindeutig ein Genozid stattfinde.

    Pruniers Buch zum uneindeutigen oder auch mehrdeutigen Genozid hat seine Stärke sicherlich nicht in den uneindeutig-mehrdeutigen Schlussfolgerungen. Beeindruckend ist dagegen eine detaillierte Analyse der europäischen Haltungen, so auch seine kritische Einschätzung eines Friedensabkommens für Darfur, das Prunier nicht nur hinsichtlich seiner Voraussetzungen, sondern auch in den Vorschlägen als fragwürdig ansieht.

    "Der Westen liebt politische Beruhigungsmittel, wenn es um Afrika [...] geht. Und er scheint fest entschlossen zu sein, sich von Darfur nicht um seinen narkoseähnlichen Schlaf bringen zu lassen."

    Das Buch wirft bei allem Engagement seines Autors Fragen auf: Eine der wichtigsten Fragen ist, inwieweit wir bereit sind, die Relativierung der Genozid-Kategorie mitzutragen, die den agierenden Politikern den Weg aus der Verantwortung zu ebnen sucht.