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Anarchietheorie in der Verpackung eines Krimis

Als William Godwin 1793 seine große Abrechnung mit jeglicher Herrschaft verfasste, meinte der englische Premierminister voreilig, das Einschreiten des Zensors würde sich nicht lohnen. Aber wider alles Erwarten verkaufte sich Godwins Werk 4000 Mal und machte den Autor reich und berühmt - jedenfalls für eine gewisse Zeit. Am 7. April 1836 verstarb der Anarchist William Godwin.

Von Ruth Fühner | 07.04.2011
    Seine Frau Mary Wollstonecraft war eine der ersten Feministinnen, seine Tochter Mary Shelley wurde weltberühmt als Schöpferin des "Frankenstein" – er selbst ist weitgehend vergessen, dabei gilt er als Begründer des modernen Anarchismus: William Godwin, geboren am 3. März 1756 in Wisbech im englischen Cambridgeshire als Sohn eines streng calvinistischen Priesters. Auch William übte in mehreren Provinzstädten das Predigeramt aus. Aber als er mit 26 nach London ging, hatten die Ideen, die jenseits des Ärmelkanals die Französische Revolution vorbereiteten, auch ihn ergriffen. Die Prinzipienstrenge des Calvinismus behielt er sein Leben lang bei; von seinen religiösen Überzeugungen trennte er sich bald.

    "Nicht einmal Gott hat das Recht, ein Tyrann zu sein",

    schrieb er in einer seiner "historischen Skizzen".

    Godwin fand Anschluss an die radikalen Zirkel Londons und veröffentlichte in verschiedenen republikanischen Zeitschriften. 1793 erschien das Buch, das seinen Ruf als politischer Philosoph begründete, die "Enquiry Concerning Political Justice”, zu deutsch: "Über die politische Gerechtigkeit":

    "Mit welcher Freude muss jeder wohlinformierte Menschenfreund auf die Glück verheißende Zeit blicken, die Auflösung der politischen Regierung, jener primitiven Maschinerie, welche die einzig beständige Ursache der Schlechtigkeiten der Menschen gewesen ist und die Übel verschiedenster Art in ihrem Wesen vereinigt hat und sich nicht anders beseitigen lässt als durch ihre völlige Vernichtung!"

    Eine Gesellschaft, die jedem Individuum die Freiheit garantiert, wollte Godwin erreichen durch die stufenweise Abschaffung von Gesetz und Strafe, Staat und Regierung, Ehe und Eigentum. All diese Einrichtungen, so argumentierte er, förderten nur das Schlechte im Menschen. Der trage von Natur aus in sich alle Anlagen zum Guten – vorausgesetzt, Aufklärung und Vernunft dürften ihr Werk tun. Godwins enthusiastisches Vokabular speist sich unüberhörbar aus dem Erbe seiner religiösen Kindheit:

    "Die Vernunft ist die Königin der moralischen Welt, die Seele des Universums, die Leuchte des menschlichen Lebens, die Säule der Gesellschaft, Grundstein des Gesetzes, Leuchtturm der Nationen – die goldene Kette, die der Himmel herabgelassen hat."

    Für alle, denen der Zugang zu philosophischen Büchern versperrt war, verpackte Godwin seine Botschaft kurz nach dem Erscheinen der "Enquiry" in eine spannende Geschichte über einen aristokratischen Mörder und seinen plebejischen Entdecker. "Caleb Williams oder Die Dinge wie sie sind" gilt als einer der ersten Kriminalromane und beeinflusste Autoren wie Charles Dickens und Edgar Allen Poe. Im Vorwort schreibt Godwin, das Buch sei…

    "...eine allgemeine Darstellung jener verschwiegenen häuslichen Gewalt, durch die der Mensch zum Zerstörer des Menschen wird."

    Godwin lehnte jegliche Form der Herrschaft ab – aber ebenso verurteilte er den Terror, den die französischen Revolutionäre im Namen der Freiheit ausübten. Trotzdem sah er sich, je mehr die konservativen Kräfte in England Oberwasser bekamen, immer heftigeren Angriffen ausgesetzt.
    Nicht nur aus politischen Gründen. Mary Wollstonecraft und er hatten geheiratet, obwohl das gegen ihre Prinzipien verstieß - anders konnten sie ihre Tochter rechtlich nicht absichern. Als Wollstonecraft starb, veröffentlichte Godwin ihre Biografie, in der er über ihre Affären und ihre Selbstmordversuche berichtete – ein Skandal.

    So zog sich Godwin aus der politischen Diskussion zurück und verlegte sich auf das Schreiben von Dramen, Biografien und Romanen, die alle nicht sehr erfolgreich waren. Um sich ein Einkommen zu sichern, eröffnete er eine Buchhandlung mit Schul- und Kinderbüchern, zu der er selbst als Autor reichlich beitrug; schließlich galt der ehemals angefeindete Anarchist als so harmlos, dass ihm die Regierung eine Stellung im Schatzamt übertrug – zum Spott der Zeitgenossen.

    William Godwin starb am 7. April 1836. Zur Jahreswende hatte er, 80jährig, in sein Tagebuch geschrieben:

    "Welche gewichtigen Ereignisse werden diese Seiten prägen! Welche Angst, welcher Schrecken – oder, auch das ist möglich, welche Freude, welche gottgleiche Erhebung der Seele!"

    Godwins Ideen lebten weiter im Werk des russischen Anarchisten Kropotkin. Marx und Engels würdigten ihn postum für seinen Beitrag zur Theorie der Ausbeutung.