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Anatoli Pristawkin: Ich flehe um Hinrichtung - Die Begnadigungskommission des russischen Präsidenten

Das Gebietsgericht hat mich zur Höchststrafe, der Erschießung, verurteilt. Das Urteil ist vom Gericht der russischen Föderation bestätigt worden, und seit der Bestätigung habe ich weder Gnadengesuche noch Beschwerden geschrieben, in der Hoffnung, dass das Urteil unverzüglich vollstreckt wird. Aber nun ist schon ein Jahr vergangen, und das Urteil ist noch immer nicht vollstreckt. Ich bin verurteilt zur Erschießung, nicht zur Einzelhaft, und ich bitte Sie, meinen Antrag auf unverzügliche Vollstreckung meines Urteils zu überprüfen.

Suzanne Bontemps | 12.05.2003
    Der Todeskandidat Juri Bojarkin hatte sein Opfer vergewaltigt und lebendig in ein Eisloch geworfen.

    Seit meiner Verurteilung habe ich mich mehrmals mit einem Gnadengesuch an Sie gewendet und es sind mehr als zwei Jahre vergangen...... Ich bitte Sie, auf meinen persönlichen Wunsch hin die Vollstreckung meines Urteils anzuordnen. Ich selber kann nicht Hand an mich legen, denn das ist gegen Gottes Willen.

    Maxim Merkulov, 28 Jahre alt, hatte die Frau seines verreisten Freundes und dann die achtjährige Tochter vergewaltigt und ebenfalls ermordet.

    Bitten um den Vollzug der Todesstrafe, Gesuche um Begnadigung, Kurzbiographien, Gerichtsurteile, Rückblicke auf die russische Rechtsgeschichte – Anatoli Pristawkin dokumentiert in seinem Buch "Ich flehe um Hinrichtung" ein dunkles Kapitel der russischen Gesellschaft. Von 1992 bis 2001 leitete er als Vorsitzender die vom ehemaligen russischen Präsidenten Jelzin eingesetzte Begnadigungskommission und berief trotz vehementen Protests der Juristen, Schriftsteller, Historiker, Journalisten und Geistlichen in dieses Gremium. Es waren Menschen, die in schwierigsten Situationen zu helfen bereit waren... Zig-Tausende Akten haben die Kommissionsmitglieder in diesen Jahren gelesen, haben in langen Sitzungen um ein Urteil gerungen. Rund 1200 Todesurteile konnten in Zeitstrafen umgewandelt werden – und das gegen der erklärten Willen der Bevölkerung, von der - Umfragen zufolge - über 70 Prozent für die Todesstrafe plädiert. Drei Bände über die Arbeit des Gremiums der Begnadigungskommission sind in Russland erschienen, die deutsche Ausgabe ist zu einem fast 400 Seiten langen, bedrückenden Bericht gekürzt, von dem Pristawkin in der Vorbemerkung schreibt:

    Das Genre dieses Buches lässt sich guten Gewissens so benennen: WEINEN UM RUSSLAND. Es handelt nicht nur von Häftlingen, von Menschen in der Todeszelle. Es handelt letztlich von uns allen, die wir eingesperrt sind in das kriminelle Straflager, das Russland heißt.

    "Ich flehe um Hinrichtung" ist eine Anklageschrift gegen den Staat und die russische Gesellschaft, die sich trotz ihrer neuen demokratischen Rechte zu einem Großteil noch immer freiwillig der Macht unterwirft. Pristawkins Buch wird zurecht mit Solschenizyns "Archipel Gulag" verglichen. Die Aufklärungsarbeit, die Solschenizyn für Stalins Unrechtssystem leistete, bewältigt der Moralist Pristawkin in dieser dramatischen Denkschrift für die jüngere Vergangenheit und die Gegenwart.

    Wir haben Angst vor der Macht, vor jeder Macht, eingesogen ... nein, nicht mit der Muttermilch, sondern mit der Wassersuppe des Waisenhauses. Und sie sitzt in den Genen unserer fernen und näheren Vorfahren, die auch Sklaven waren.

    Nach den Unterlagen der Begnadigungskommission sitzen in Russland mehr als eine halbe Million Menschen in Gefängnissen und Lagern. In Japan mit einer vergleichbaren Bevölkerungsanzahl sind es vierzig- bis fünfzigtausend Strafgefangene. Anders ausgedrückt: In Russland sind 15 bis 20 Prozent der Bevölkerung durch die Gefängnisse gegangen. Jeder fünfte. Mehr als sechstausend Frauen werden jährlich in Russland umgebracht. Aber auch wegen geringfügiger Delikte geraten die Täter in ein "Fließband der Entmenschlichung", wie es der Autor nennt. Für den Diebstahl von Autoreifen etwa oder eines Fernsehers werden jahrelange Haftstrafen verhängt.

    Vor allen den Kindern, den jugendlichen Tätern und den Kinderopfern gilt Pristawkins Erbarmen und Mitleid. Der Autor weiß, wovon er spricht, geriet er doch selbst als Jugendlicher in den Kinder-Gulag. Elternlos, gerade zehn Jahre alt, war er zu Kriegsbeginn durch das Land vagabundiert und hatte sich auch von der Beute kleinerer Diebestouren über die Runden gebracht. Es gibt in Russland fünf Millionen allein gelassene Kinder, meist Kinder heruntergekommener, alkoholkranker Eltern, und das sind nach Pristawkin fünf Millionen zukünftiger potentieller Verbrecher. Nach Pristawkins persönlicher Statistik, die er führte, um sein Volk besser zu verstehen, hat die Hälfte der russischen Bevölkerung (Schüler und Rentner nicht eingerechnet) noch nie gearbeitet, und die Hälfte der anderen Hälfte arbeitet auch nur gelegentlich: als Hilfskraft, Lastträger oder Wächter im Kindergarten. Die Hälfte der Straffälligen hat nicht gearbeitet, ein Viertel ist alkoholabhängig.

    Die Geringschätzung, ja dieser Hass gegenüber der Arbeit ist nicht erst in der Zeit der sowjetischen Sklaverei entstanden, ist aber in dieser Zeit erstarkt und zur nationalen Mentalität geworden, ebenso wie der Suff. Und das Stehlen.

    Das Soziogramm der postkommunistischen Gesellschaft, das Pristawkin als langjähriger Vorsitzender der russischen Begnadigungskommission zeichnet, hinterlässt einen finsteren Eindruck. Es beschreibt ein Volk, das vielfach zerrissen,...

    ... auf die ganze Welt spuckt, aber in erster Linie auf sich selbst.

    "Ich flehe um Hinrichtung" ist ein abgrundtief pessimistisches Buch. Was ist das für ein Volk, in dem zum Tode Verurteilte um ihre Hinrichtung bitten. Pristawkin klagt schonungslos an, aber er richtet nicht. Auch bei der Schilderung der entsetzlichsten Verbrechen spürt der Leser die große Anteilnahme des Autors an seinem Volk, von dem er sich an keiner Stelle distanziert. Über die Russen sagt er:

    Sie sind irrational in allem, aber auch groß in ihrer aus den tiefsten Tiefen kommenden erstaunlichen Genialität, die sich in allem äußert, auch im Stehlen, Lügen und Rauben, und man wundert sich, wie sich Genie und Verbrechen in diesem Volk vereinen Und man weiß nicht, was größer ist.

    Vor zwei Jahren hat Jelzins Nachfolger Wladimir Putin Pristawkins Gremium in die Wüste geschickt und eine neu installierte Begnadigungskommission ausschließlich mit Juristen besetzt. Den unbequemen ehemaligen Vorsitzenden Pristawkin ernannte der Kremlchef zu seinem persönlichen Berater. Ein geschickter Schachzug, meinen Freunde des in dieser Funktion kalt getellten Menschenrechtlers.Für Pristawkin bleibt aber auch jetzt genug zu tun. Denn die Todesstrafe, die er so vehement bekämpft, sie wurde nicht abgeschafft, sondern der Vollzug nur ausgesetzt - obwohl Russland bereits seit 1996 Vollmitglied des Europarates ist.