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Andere Umstände

Mit ihrem Debütroman hat sich die 34jährige Berlinerin Grit Poppe viel vorgenommen. Vor dem historischen Hintergrund der sich auflösenden DDR und des Falls der Mauer schildert sie das nicht ganz gewöhnliche Leben einer Heranwachsenden, die schon mit jungen Jahren buchstäblich über Leichen geht. Doch wer nach solcher Ankündigung glaubt, eine Mischung aus einem Ingrid-Noll-Krimi und einer Bewältigungsliteratur der DDR-Vergangenheit in den Händen zu halten, wird bei der Lektüre enttäuscht sein.

Martin Grzimek |
    Die drei Morde der Ich-Erzählerin Mila Rosin beanspruchen im Roman insgesamt nur ein paar Seiten und werden genau so beiläufig und beinahe kommentarlos registriert wie das politische Geschehen der 80er Jahre in der damaligen DDR. Statt dessen steht etwas ganz anderes im Vordergrund. Denn der Lebensbericht aus dem grauen Alltag der DDR, den uns Mila Rosin bzw. Grit Poppe liefert, gleicht eher dem Protokoll einer Fallstudie über Hysterie und narzißtische Störungen als einem Roman. Und gerade das scheint das zugleich Reizvolle wie auch Verwirrende an diesem Buch zu sein, das seine Geschichte schnörkellos und bisweilen witzig und in schnoddrigem Ton erzählt.

    Mila wächst in einer Kleinstadt der ehemaligen DDR auf. Sie lebt zusammen mit ihrer geschiedenen Mutter, die als Krankenschwester arbeitet. Der Vater ist ein libidinöser Vagabund, den es von einer Frau zur anderen treibt. Mila sieht ihn nur einmal im Jahr, trifft ihn ab und zu aber auch in den Ferien bei seinen verschiedenen Frauen und lernt dadurch ihre Halbschwestern und -brüder kennen. Als sie dreizehn ist, verliebt sie sich unsterblich in ihren Englischlehrer, erträumt sich ein Kind von ihm, verfolgt und beobachtet ihn, und als er sie eines Tages von sich weist, ersticht sie ihn mit einem Taschenmesser, das sie von ihrem Vater geschenkt bekommen hat.

    Von da an nimmt Milas problematisches Verhältnis zu Männern seinen schicksalhaften Lauf. Ob Schulfreund, Universitätsprofessor oder Zufallsbegegnung - nie gelingt es ihr, eine echte Beziehung zu knüpfen. Sie wird ausgenutzt, hingehalten, betrogen und will doch nichts anderes als Zuwendung, Geborgenheit und Anerkennung. Als sie schließlich schwanger ist, stirbt der Freund, mit dem sie zusammen die Vereinigung Deutschlands erlebt und sich ein gemeinsames Leben hatte vorstellen können, bei einem Autounfall. Daraufhin verläßt sie Deutschland, fliegt mit ihrem Baby nach San Francisco, lernt dort einen Schwarzen kennen, erträumt sich wieder ein Leben in einer Familie, wird enttäuscht, bringt den Mann um und wandert mit ihrem Kind auf dem Arm weiter, ziellos auf der Suche: "Ich weiß nicht, wohin ich eigentlich laufe mit meinen tauben Füßen. Ich bin so müde, daß ich mich - wäre ich allein - ins Gras werfen würde, mit dem Gesicht zur Erde, den Ameisen und Käfern Gesellschaft leisten. Aber ich bin nicht allein. Alice ist bei mir. Und ich muß fort aus der Stadt."

    In gewisser Weise hat Mila das erreicht, was sie von Kindheit an wollte: eine ständige Begleitung. Daß dabei ein paar Männer auf der Strecke blieben, ist wohl egal. Sie hat ihren Bericht über ihr Leben in San Francisco auf lakonische Art begonnen und ebenso unbeteiligt beendet. Der unbefangene Ton des Erzählens suggeriert eine Beziehungslosigkeit gegenüber ihrem eigenen Tun - aber auch dem gegenüber, was sie selbst erleiden mußte. Sie ist Täter und Opfer zugleich, ihre Morde sind eine sinnlose Rache an ihrem Vater und einer Gesellschaft, die von Vorschriften und Verboten geprägt ist und deren Ideale zu leeren Phrasen verkommen sind. Die Geschichte ist nicht mehr ernst zu nehmen.

    Selbst der Fall der Mauer erscheint in dem Roman von Grit Poppe, die sich von 1989 bis 1991 in der Bürgerbewegung "Demokratie Jetzt" engagierte, eher wie ein Happening. Die gewonnenen Freiheiten werden von der Erzählerin hauptsächlich darin gesehen, nun endlich dorthin reisen zu können, wohin man möchte. Doch ansonsten durchzieht den Text ein Gefühl der Ratlosigkeit und Enttäuschung. Ein Nebenaspekt, der im Roman immer wieder auftaucht, wird in dieser Hinsicht besonders wichtig. Mila liest ständig und immer nur Jack London und verbeißt sich regelrecht in den Todeskampf von Wolf und Verhungerndem, leidet ihn mit und erkennt darin ihre eigene Situation. Über der Gegenwart auch nach der Wiedervereinigung liegt noch immer bleiern und freudlos der Schatten der DDR-Vergangenheit. Nur das hilflose, ganz von Mila abhängige Baby kann positive Erwartungen erwecken und sie auch erfüllen. Das einzige, was Mila bleibt, ist die Flucht nach vorn und Deutschland weit hinter sich zu lassen.

    Mit ihrem ersten Roman hat Grit Poppe ein schweres Thema auf eigenständige Weise und mit viel Geschick in den Griff bekommen. Aber die Aufarbeitung einer unbequemen Vergangenheit überläßt sie dem Leser.