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Anders als ausgemacht

Früher, als die Mauer noch stand, erschien die Welt übersichtlich: Die Generation der um 1970 Geborenen konnte sich nicht vorstellen, dass sich die vertraute Lebenswelt je ändern würde. Über Nacht kam alles anders.

Von Tim Lang und Thomas Klug |
    Früher, als die Mauer noch stand und die Welt übersichtlich erschien, war auch die Zukunft schöner: Alles sollte immer besser werden. Da ähnelten sich die Versprechen der Alten an die Jungen in Ost und West. Es waren die Zeiten, wo man dachte, Kohl wird auf ewig Kanzler und Honecker immer Generalsekretär bleiben. Die Generation der um 1970 Geborenen konnte sich nicht vorstellen, dass sich die vertraute Lebenswelt je ändern würde. Über Nacht kam alles anders. Die Generation von damals ist dabei, Verantwortung zu übernehmen und macht eine Erfahrung: Die Zukunft hat sich nicht an die Vorhersagen gehalten. Alles ändert sich.
    Thomas Klug und Tim Lang haben sich in ihrer Generation umgesehen und fünf Menschen in ihrem alltäglichen Leben beobachtet: die Tochter einer DDR-Dissidentin, die als Sozialpädagogin arbeitet, einen Bauernsohn aus Thüringen, der in einer Chemiefirma arbeitet, einen Krabbenfischer von der Nordsee, der aus einer Fischerfamilie stammt, einer Ostberliner Kinderbuchautorin in Augsburg und einen Architekten in München, der Yogastunden gibt. So unterschiedlich das Leben und die Erfahrungen der fünf Protagonisten in dieser Langen Nacht sind, sie eint eines: Sie alle stellen sich der verändernden Welt und wollen dem Leben ihr Glück abtrotzen.
    Auszug aus dem Manuskript:

    Manche sagen, die Welt war noch in Ordnung, damals in den 70er Jahren, als die aufwuchsen, die den Krieg und die Trümmer, nur aus Büchern und Filmen kennen. Die Entwicklung kannte nur eine Richtung: vorwärts.
    Im Westen war dieses vorwärts der Wohlstand, den es zu erringen galt. Vorwärts hieß, dickere Autos, größere Wohnungen, weitere Urlaubsreisen, wachsende Bankkonten. Da sollte sie nur kommen, die Zukunft. Wohlstand durch soziale Marktwirtschaft.
    Und im Osten ging es ohnehin immer vorwärts. Nach dem ernst gemeinten "überholen, ohne einzuholen", kam die Litanei vom "Alles für das Wohl des Volkes". Da war nicht nur von "vorwärts" die Rede, sondern von "weiterer Vervollkommnung". Das hieß Pläne erfüllen und übererfüllen, Steigerung der Produktion. Immer mehr von allem für alle. Wohlstand durch Kommunismus.
    Es ist anders gekommen – im Osten und im Westen. Die Renten sind gar nicht mehr so sicher. Und die Mauer, die in 50 oder 100 Jahren noch stehen sollte, ist weg. Die Zukunft hat sich nicht daran gehalten, wie sie sein sollte. Neue Schlagwörter sind aufgetaucht: Globalisierung ist das Wort, mit dem alles erklärt werden soll. Flexibilität soll der Schlüssel sein für alles, was ansteht.

    Musikliste:
    Titel: Dead already
    Länge: 03:00
    Interpret: Thomas Newman ()
    Komponist: Thomas Newman
    Label: GEFFEN
    Best.-Nr: 450210-2
    Plattentitel: American beauty (Music from the original motion picture soundtrack)
    Titel: Round midnight
    Länge: 04:31
    Interpret: Reiner Winterschladen (tp, flh)
    Komponist: Thelonious Monk, Charles Melvin "Cootie" Williams
    Label: Intuition
    Best.-Nr: 40042
    Plattentitel: Citizen Wayne
    Titel: Summer 78
    Länge: 02:00
    Interpret: Yann Tiersen (p)
    Komponist: Yann Tiersen
    Label: Virgin
    Best.-Nr: 582020-2
    Plattentitel: Good bye Lenin! Der Soundtrack zum Film
    Titel: Darjeeling
    Länge: 01:30
    Interpret: Lotos Garden Orchestra
    Komponist: keine Angaben
    Label: Delta
    Titel: Silver Dragon
    Länge: 01:30
    Interpret: Lotos Garden Orchestra
    Komponist: keine Angaben
    Label: Delta
    Titel: Tanz auf dem Eis
    Länge: 01:59
    Interpret: Niki Reiser (programming)
    Komponist: Niki Reiser
    Label: Virgin
    Best.-Nr: 842694-2
    Plattentitel: Jenseits der Stille - Die Originalmusik zum Film
    Auszug aus dem Manuskript:

    Im Nachhinein sah es so aus, als wäre alles über Nacht anders geworden. Als hätte die Erde sich einmal falsch herumgedreht und alles in Unordnung gebracht. Die Mauer gefallen, der Kalte Krieg zu Ende und die Kassen leer. Erst im Osten, dann im Westen. Die Wahrheiten der Eltern galten nichts mehr. Fleiß führt nicht unbedingt zu einem dicken Konto, der Kommunismus ist auf unbestimmte Zeit vertagt. Und die Rente, über die spricht man lieber gar nicht erst. Und Flexibilität ist kein Luxus mehr, sondern Notwendigkeit. Zum ersten Mal merkt eine Generation zwischen 30 und 40, dass es nicht immer aufwärts geht, nicht immer nach vorn. Und schon gar nicht auf ebenen Wegstrecken.
    Auszug aus dem Manuskript:
    Vielleicht ist die Welt gar nicht so neu, sondern sie sieht nur anders aus. An manchen Tagen größer, weil jeder Winkel der Erde erreichbar ist. Und genau deshalb erscheint sie an manchen Tagen kleiner.
    Manche sagen, die Welt ist kleiner geworden, anderen erscheint sie größer. Eine Generation versucht in einer Welt zu leben, die ganz anders aussieht, als vor 30 oder 40 Jahren. Eine Generation sucht sich neue Träume, weil die alten erfüllt sind oder nichts mehr taugen. Eine Generation nimmt sich die Welt aus den Händen der vorangegangen Generation – zögernd, leise und mit vielen Fragezeichen in den Augen. Aber die Generation derer zwischen 30 und 40 greift nach der Welt – was soll sie auch sonst tun? Es wird schon alles anders bleiben.

    "Ich kann mir schon vorstellen, wieder zurück nach Griechenland zu gehen und einfach das Leben so ein bisschen zu vereinfachen, bisschen zu verlangsamen, weil ich lebe ja momentan ein sehr schnelles, sehr intensives Leben, das sehr, sehr voll ist. Und ich erlebe manchmal Dinge in einem Monat, die ein anderer in einem Jahr erlebt oder in zwei. Und ich möchte es vielleicht später nicht ganz so in dieser Intensität, in dieser Schnelligkeit und manchmal auch Rastlosigkeit erleben."

    "Also persönlich wünsche ich mir, dass ich gesund bleibe. (Das habe ich mir heute früh überlegt und da hatte ich auch eine Antwort darauf, habe ich aber wieder vergessen.)
    Dass ich gesund bleibe, dass die Familie zusammenhält. Damit die Familie allgemein gesund bleibt und zusammen. Und wenn jemand weg zieht wie die Tochter, dass man in einem guten Verhältnis bleibt."

    "Bisher haben wir das mit Fleiß immer gut hingekriegt und wir übertreiben ja auch nicht. Wir sind eigentlich nicht so Fischertypen, die nonstop und immer, wir können es, aber wir haben es bis hier nie gebraucht. Ich kann bestimmt noch ein Drittel, ein Viertel mehr Umsatz fahren, wenn ich das im Jahr möchte. Das habe ich mir immer frei gehalten. Deswegen habe ich mir auch immer gesagt, nie mehr finanzieren, lieber bei dem bleiben damit haben wir gut gelebt. Damit können wir gut wirtschaften und wir können auch mal sagen, Mensch heute Abend, morgen habe ich keine Lust Das ist die Freiheit die man so hat."

    "Ehrlich gesagt habe ich mir über das Alter noch nie Gedanken gemacht. So wie andere, die mit jetzt 30 die Panik kriegen. Mit 40 die Panik kriegen, das war bei mir nie. Ich habe mich auf die 30 gefreut, ich freue mich auf die 40 und auf die 50 und möchte so lange leben, dass ich meine Enkelkinder erleben kann."
    "In zwanzig Jahren. Ich hoffe, dass ich gesund bin, dass ich vielleicht aufgehört habe mit meinen Lastern. Den Kaffee gewöhne ich mir schon ab. Bis dahin habe ich auf jeden Fall aufgehört zu rauchen. Ich komme jetzt so langsam an den Punkt, wo ich es nicht mehr so toll finde. Und wird ja auch Zeit, man sollte ja vor 40 aufhören. Dass ich gesund bin, hoffe ich. Die Kinder sind groß. Das heißt, man hat neue Freiheiten. Auf jeden Fall reisen. Aber das versuchen wir auch jetzt soviel wie möglich. Kann man dann sicherer noch mehr, weil vier Personen sind teurer als nur zwei. Es wird was anderes werden."
    "Ich habe natürlich im Laufe der Jahre auch gelernt, mit mir selber umzugehen und den Chancen und Möglichkeiten zu leben, die mir das Leben bietet und immer auch durch das Positive, das ich da immer gesehen habe, hat mich das auch immer weiter gebracht. Letztens vor einem Jahr haben wir uns unterhalten, ob das Leben ein Wunschkonzert wäre. Ich glaube, das Leben ist ein Wunschkonzert."