Dienstag, 23. April 2024

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András Schiff interpretiert Brahms
So und nicht anders!

Lassen sich Standardwerke des Konzertrepertoires heutzutage noch neu deuten? András Schiff und das Orchestra of the Age of Enlightenment geben mit ihrer neuen CD die Antwort: Es ist noch längst nicht alles gesagt, zumindest bei den Klavierkonzerten von Johannes Brahms.

Am Mikrofon: Christoph Vratz | 27.06.2021
    In einem Konzertsaal steht in der Bildmitte ein älterer Mann mit grauen Haaren, der sich mit der linken Hand an einem Flügel festhält. Um ihn stehen Orchestermusiker mit ihren Instrumenten.
    Der ungarische Pianist András Schiff agiert auf seiner Brahms-CD als Pianist und Dirigent. (Tristram Kenton / ECM Records)
    Musik: Johannes Brahms - Klavierkonzert Nr. 1 d-Moll, op. 15
    Die Klavierkonzerte von Johannes Brahms sind zwar nicht mit den virtuosen Schlachtrössern à la Liszt, Tschaikowsky oder Rachmaninow vergleichbar, dennoch rückt sie die Aufnahmegeschichte gern in diese Nähe. Entsprechend oft kann man die Brahms-Konzerte gewichtig interpretiert hören, um nicht zu sagen: schwer- oder gar übergewichtig. Das hängt vor allem mit zwei Faktoren zusammen: zum einen mit den in der Regel groß besetzten Orchestern, zum anderen mit dem Klang heutiger Konzertflügel und ihrem mächtigen Klangvolumen. Genau an dieser Stelle setzen András Schiff und das Londoner Orchestra of the Age of Enlightenment an: Sie möchten ein anderen Brahms-Bild vermitteln. Ein Bild, das wir bei seinen Sinfonien inzwischen schon kennengelernt haben, etwa durch die historisch informierten Einspielungen eines John Eliot Gardiner oder Thomas Zehetmair.
    Bei den Klavierkonzerten ist die diskographische Ausgangslage in diese Richtung noch eher mager. Der Pianist Hardy Rittner etwa hat das erste Brahms-Konzert vor zehn Jahren an einem französischen Erard-Flügel aufgenommen, mit dem Orchester L’arte del mondo unter Werner Ehrhardt. Auch die neuere Einspielung beider Konzerte unter Lars Vogt mit der Royal Northern Sinfonia geht behutsam in diese Richtung. Zwar spielt Vogt auf einem modernen Flügel, doch lässt er das kleiner besetzte Orchester auffallend kammermusikalisch agieren. Jetzt also András Schiff.
    Musik: Johannes Brahms - Klavierkonzert Nr. 1 d-Moll, op. 15

    Historischer Flügel mit schlankem Klang

    Wenn nach 91 Takten oder, in diesem Fall, rund dreieinhalb Minuten das Klavier einsetzt, wird schnell klar: Das ist kein moderner Flügel. Dieses Instrument klingt anders. Schlanker, feiner, transparenter.
    Es handelt sich um einen Flügel der Klaviermanufaktur Julius Blüthner. Gebaut wurde er um 1859. Eine genauere Datierung ist leider nicht mehr möglich, weil das firmeneigene Archiv während des Zweiten Weltkriegs nahezu vollständig verloren gegangen ist. Das für diese Aufnahme verwendete Instrument ist 2,55 m lang und damit nur rund 20 cm kürzer als die meisten heutigen Konzertflügel. Damals war dies das Maß aller Dinge. Doch interessanter als nackte Zahlen ist die Frage nach der klanglichen Substanz. Diese unterscheidet sich vom modernen Flügel allein deshalb, weil im Inneren des Blüthner-Instruments die Saiten nicht, wie seit dem 20. Jahrhundert üblich, über Kreuz verlegt sind, sondern – aus der Tradition des 18. Jahrhunderts kommend – parallel verlaufen. Das bedeutet zunächst: weniger Volumen. Man könnte aber auch sagen: Der Flügel klingt weniger dick und weniger mächtig. Hinzu kommt eine Mechanik, die sich die Firma Blüthner hat patentieren lassen. Diese erlaubt einen sehr leichten Anschlag, der vom Pianisten weniger Athletik und Kraft aus dem Arm verlangt, sondern ihm eine sowohl gut kontrollierbare als auch differenzierte Klanggestaltung ermöglicht.
    Musik: Johannes Brahms - Klavierkonzert Nr. 1 d-Moll, op. 15
    Das zweite Thema des Soloinstruments in diesem Maestoso-Satz des ersten Klavierkonzerts von Johannes Brahms besitzt den Charakter eines Chorals. Doch András Schiff spielt diese Passage nicht feierlich, sondern lyrisch, wie ein Lied ohne Worte. Dieser Ansatz ist umso berührender, als man immer noch den wuchtigen und mit vibrierenden Trillern, thrillerhaft aufgeladenen Beginn des ersten Orchester-Themas im Ohr hat. Dieses Thema kehrt kurz nach diesem poetisch-entrückten Abschnitt als verkleinertes Motiv wieder, jetzt in dialogischer Form mit dem Klavier. Gerade an dieser Stelle werden die Unterschiede zwischen einer großsinfonisch-opulenten Deutung und einer historisierenden Aufführung hörbar.
    Musik: Johannes Brahms - Klavierkonzert Nr. 1 d-Moll, op. 15
    Man hört kein wildes Losdreschen, keine Klang-Orgie, bei der Klavier und Orchester einander übertrumpfen wollen. Schiffs Oktaven und Triller scheinen auch nicht aus gehärtetem Stahl gebaut, vielmehr besitzen sie eine elastische Qualität. Die Musik schwingt - trotz ihres aufwühlenden Charakters. Allerdings kann man weder dem Orchester noch Schiff eine Form von Understatement vorwerfen, wie sich wenige Takte später zeigt: beinahe unversöhnlich stehen sich Klavier und Orchester einander gegenüber, sie scheinen sich geradezu anzuschreien, gellend, ekstatisch - sicherlich der dramatische Höhepunkt dieses Satzes.
    Musik: Johannes Brahms - Klavierkonzert Nr. 1 d-Moll, op. 15
    Dieser erste Satz des frühen d-Moll-Klavierkonzerts von Johannes Brahms ist fast genauso lang wie die beiden noch folgenden Sätze zusammen. Das Adagio wirkt erfüllt von innerer Ruhe und wie eine Gegenwelt zu den düster-gefahrvollen Momenten des ersten Satzes. Wenn dann das Klavier hinzutritt und sich ein erster Höhepunkt einstellt, schälen sich die harmonischen Reibungen mit ihrem melancholischen Charakter heraus. Doch Schiff verzögert diese Passage, im Gegensatz zu vielen seiner Kollegen, nicht, sondern bleibt im Tempo. Dadurch erfährt diese Musik eine gewisse Stringenz. Sie wird nicht durch künstliche Zusatzstoffe romantisiert, sondern wirkt allein durch sich selbst.
    Musik: Johannes Brahms - Klavierkonzert Nr. 1 d-Moll, op. 15

    Brahms unter der Lupe

    Die besondere Qualität dieser neuen Einspielung mit András Schiff und dem Orchestra of the Age of Enlightenment zeigt sich wenig später: Wenn Brahms Bläser, Streicher und das Soloklavier in einzelne Gruppen aufteilt und sich dennoch ein gemeinschaftliches Ganzes ergibt. Das klingt so ungemein durchsichtig und luftig, ja entschlackt, dass man geloben könnte, diese Passage noch nie so gehört zu haben – das Ergebnis einer genauen Balance.
    Musik: Johannes Brahms - Klavierkonzert Nr. 1 d-Moll, op. 15
    Die Musik von Johannes Brahms erscheint hier wie unter einem Vergrößerungsglas. All ihre feinen Verästelungen wirken äußerst plastisch – auch im Rondo-Finale.
    Musik: Johannes Brahms - Klavierkonzert Nr. 1 d-Moll, op. 15
    Zwar liegen zwischen dem ersten und dem zweiten Klavierkonzert von Johannes Brahms mehrere Jahrzehnte, dennoch wirken sie wie ungleiche Zwillinge. Ein dialektisches Doppel, das sich auch durch die jeweiligen biografischen Hintergründe erklären lässt. Während Brahms bei der Entstehung des ersten Konzerts noch am Anfang seiner Karriere stand und gerade auf dem Gebiet der sinfonischen Form noch mit sich gerungen hat, darf er sich zu Beginn der 1880er zu den bekanntesten Komponisten seiner Zeit zählen. Das Miteinander von Soloinstrument und Orchester ist in diesem zweiten Konzert ungleich differenzierter, kunstvoller, subtiler. Das zeigt schon der Beginn. Nicht das ganze Orchester beginnt mit einem stürmischen Thema, sondern solistisch hebt das Horn an – mit der seltsam widerhallenden Klavierstimme hinterdrein. Diese kurze Episode wiederholt sich, bevor sich, auch hier behutsam und nie drängend, weitere Gruppen aus dem Orchester in das Geschehen einschalten.
    Musik: Johannes Brahms - Klavierkonzert Nr. 2 B-Dur op. 83
    Dieser Beginn des zweiten Klavierkonzerts von Johannes Brahms spiegelt fast programmatisch den Ansatz der vorliegenden Neueinspielung mit dem Orchestra of the Age of Enlightenment und András Schiff. Das genaue Ineinandergreifen einzelner Teilchen erfolgt mit großer Selbstverständlichkeit, organisch und zugleich kammermusikalisch. Damit ist auch die ansonsten mit viel Skepsis bedachte Frage beantwortet, ob bei diesen beiden romantischen Solokonzerten die Verantwortung von solistischen Aufgaben und dirigentischer Koordination in einer Person vereinigt werden kann. Die Antwort lautet eindeutig: ja! Das mag sicher auch mit der Besetzung des Orchesters zusammenhängen. Es ist belegt, dass Brahms selbst bei Aufführungen seiner Sinfonien mit der Meininger Hofkapelle ein Orchester mit nur knapp 50 Musikern zur Verfügung gestanden hat. Ähnlich ist die Besetzung des Orchestra of the Age of Enlightenment. Das erlaubt per se eine genauere dynamische Differenzierung, einen transparenteren und letztlich gesanglicheren Klang. Das zeigt sich auch bei der Gestaltung von Kontrasten. Im zweiten Satz etwa, der einem Scherzo gleicht, treten Abschnitte völliger Entrücktheit einem lodernden Fortissimo gegenüber. Schiff spielt den Solopart hauchzart, mehr andeutend als aussprechend. Das Orchester tritt, nicht minder behutsam hinzu, bevor, durch eine winzige Pause getrennt, sich das energische Thema, mit dem der Satz eröffnet wird, wieder Bahn bricht. Achten Sie bitte einmal auf die wuchtigen Akzente, die das Orchester dem Klavier entgegensetzt. Ich möchte hier nicht von einem Beat im modernen Sinne sprechen, dennoch wirkt das, zumindest durch die historische Brille betrachtet, kühn, wenn nicht revolutionär:
    Musik: Johannes Brahms - Klavierkonzert Nr. 2 B-Dur op. 83
    Im Andante dieses zweiten Brahms-Konzerts scheint es zunächst, als habe das Klavier seine Solostellung aufgegeben. War es am Beginn dieses Werkes für kurze Momente das Horn, so ist es hier das Cello, das ausgedehnt die Rolle des Protagonisten übernimmt.
    Musik: Johannes Brahms - Klavierkonzert Nr. 2 B-Dur op. 83

    Musik als Abbild des Lebens

    Schiff und das Orchestra of the Age of Enlightenment deuten diese Musik als Abbild des Lebens – als einen ständigen Prozess. Oft entsteht binnen kurzem ein völlig neuer, unverhoffter Charakter. Hier etwa scheint die Idylle vom Beginn des Satzes wie ausgelöscht – wie in einer Fantasie, deren Verlauf genauso wenig vorhersehbar ist wie das Leben selbst.
    Musik: Johannes Brahms - Klavierkonzert Nr. 2 B-Dur op. 83
    Entspannte Gespanntheit, gespannte Entspanntheit - in diesem ständigen Wechselverhältnis bewegt sich die Neueinspielung. Schiff stülpt Brahms die Geheimnisse nicht von außen auf, sondern er entwickelt sie aus dem Inneren der Musik. Das macht seinen Vortrag gleichermaßen unmittelbar wie berührend, zumal sich immer wieder ein Schwebezustand einstellt, den man weder genau verorten noch ihn in Worten wiedergeben möchte.
    Musik: Johannes Brahms - Klavierkonzert Nr. 2 B-Dur op. 83
    Schließlich das Finale: Allegretto grazioso. Also nicht zu schnell und gleichzeitig mit Anmut. Brahms selbst hat anhand seiner Metronom-Vorgabe jedem stürmischen Ansatz einen Riegel vorgeschoben. Der befreiende Charakter dieses Satzes erschließt sich erst, wenn man ihn so gelöst deutet wie András Schiff.
    Musik: Johannes Brahms - Klavierkonzert Nr. 2 B-Dur op. 83
    Spielmannslustig tritt dann das rhapsodisch-zingharese-artige Thema hinzu.
    Musik: Johannes Brahms - Klavierkonzert Nr. 2 B-Dur op. 83

    Brahms als Erbe Schuberts

    Es ist eine vielleicht gewagte These, aber Brahms wirkt in dieser Aufnahme manchmal wie ein Erbe von Franz Schubert: Wo Licht ist, ruht gleichzeitig ein Schatten, und wo die Melancholie wohnt, ist Trost auch nicht weit. So entsteht auf jeden Fall eine Verschmelzung, die in ihrer Selbstverständlichkeit staunen macht: So und nicht anders! Das könnte zugleich ein Fazit dieser Neueinspielung sein.
    Johannes Brahms
    Klavierkonzert Nr. 1 d-Moll, op. 15
    Klavierkonzert Nr. 2 B-Dur, op. 83
    Orchestra of the Age of Enlightenment
    András Schiff (Klavier u. Ltg.)
    ECM 2 CDs 2690/91