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André Breton und der Surrealismus
Die Suche nach dem Gold der Zeit

Nach dem Ersten Weltkrieg gründet der Dichter André Breton in Paris einen Kreis von Künstlern, die sich den Surrealismus auf die Fahnen schreiben. In ihren Manifesten fordern sie, die Welt und das Leben zu verändern. Als Motor der Avantgarde vertritt Breton die subversive Kraft der Liebe. Ein besonderes Kapitel der Surrealisten bildet ihr Umgang mit der Sexualität.

Von Manfred Bauschulte | 20.02.2016
    Aufnahme des französischen Schriftstellers Andre Breton. Er wurde am 19. Februar 1896 in Tinchebray (Orne) geboren und verstarb am 28. September 1966 in Paris. Er gehörte mit Aragon, Eluard und Peret zu den Begründern des Surrealismus.
    Aufnahme des französischen Schriftstellers Andre Breton. Er wurde am 19. Februar 1896 in Tinchebray (Orne) geboren und verstarb am 28. September 1966 in Paris. Er gehörte mit Aragon, Eluard und Peret zu den Begründern des Surrealismus. (picture alliance / ZB)
    André Breton: "Nadja", Nachwort von Karl H. Bohrer, aus dem Französischen von Bernd Schwibs, Suhrkamp Verlag: "Weder dynamisch noch statisch sehe ich die Schönheit, sondern so, wie ich dich gesehen habe. So wie ich gesehen habe, was zur festgesetzten Stunde und für eine festgesetzte Zeit - und ich hoffe und glaube mit ganzer Seele, dass sie sich noch einmal werden festsetzen lassen - dich mit mir harmonieren ließ."
    Nadja ist die Geschichte einer zufälligen Begegnung, die zugleich die Aktualisierung einer lange bestehenden, äußerst intensiven Bekanntschaft zu sein scheint. Nadja wird geschildert als eine junge Frau, die auf geheimnisvolle Weise mit dem Erzähler vertraut ist und sich rein intuitiv seinem Leben und seinen Gedanken nähert.
    Diese Erzählung, 1928 erschienen und 1963 vom Autor revidiert, gehört längst zu den Standardwerken des Surrealismus und ist eine "Basisschrift der klassischen Moderne" (Karl Heinz Bohrer). André Breton (1896 bis 1966) beschließt sie programmatisch mit einer berühmt gewordenen Definition der Schönheit: "Die Schönheit wird konklusiv sein oder sie wird nicht sein."
    Die heroische Epoche des Surrealismus
    Die Jahre von 1921 bis 1923 gelten als die heroische Epoche des Surrealismus. In dieser Periode knüpfen die Surrealisten an die Entdeckung des Unbewussten durch die Psychoanalyse an und praktizieren das automatische Schreiben. Während seiner Zeit als neurologischer Assistent ist André Breton auf das Werk des Arztes Sigmund Freud aufmerksam geworden, den er verehrt und in Wien besucht.
    André Breton: "Weil ich mich damals ohnehin mit Freud befasste und mit seinen Untersuchungsverfahren, die ich während des Krieges gelegentlich bei Patienten anzuwenden hatte, vertraut war, nahm ich mir vor, nun aus mir selbst herauszuholen, was man sonst aus den Patienten zu entlocken sucht: Nämlich ein möglichst munter plätscherndes Monologisieren, das vom kritischen Verstand des Redenden gar nicht mehr kontrolliert wird, sich somit durch keinerlei Zurückhaltung hemmen lässt und also möglichst genau an das herankommt, was man den in Worten wiedergegebenen Gedankenstrom nennt. Es kam mir damals und kommt mir heute noch so vor, als ob das Tempo des Denkstroms nicht höher sei als das Tempo der Rede und das Denken also nicht unbedingt unser Sprechen oder Schreiben überfordere. Zur eingehenden Untersuchung dieser Phänomene machten Philippe Soupault und ich uns daran, einfach alles aufzuschreiben, was uns durch den Kopf ging, ohne uns auch nur im geringsten darum zu kümmern, ob dabei literarisch Relevantes herauskäme oder nicht."
    Im Gegensatz zu Dadaisten und Kubisten, die beanspruchten eine Kunstrichtung zu sein, erklären die Surrealisten, dass sie stellvertretend für die Interessen der gesamten Menschheit stehen. Im Namen der Kindheit und der Träume wollen sie der Poesie einen revolutionären Charakter verleihen. Mitten im Leben der Stadt, in Arbeit und Anstrengung entdecken sie den Zauber einer Welt ohne Angst und verschreiben sie sich der Vorstellung des Wunderbaren.
    Im "Zweiten Surrealistischen Manifest" (1929) spricht André Breton das Problem an, das zu ständigen Irritationen führt: das wunderbare Problem der Frau.
    André Breton: "Das Problem der Frau ist auf dieser Welt das wunderbarste und beunruhigendste. Und das insofern, als uns der Glaube dahin zurückführt, dessen ein unverdorbener Mensch fähig sein sollte. Ein Glaube nicht nur an die Revolution, sondern auch an die Liebe. Ich bestehe umso mehr auf diesem Punkt, als er mir die Ursache zu sein scheint für die meisten Antipathien, die man mir entgegen bringt. Ja, ich glaube immer schon, dass der Verzicht auf die Liebe eines der selten unsühnbaren Verbrechen darstellt. Da gibt sich einer als Revolutionär und möchte dennoch davon überzeugen, dass die Liebe im bürgerlichen Regime unmöglich ist: In Wahrheit wagt es fast niemand, offenen Auges sich dem großen Licht der Liebe zu stellen, worin sich zur sublimsten Belehrung des Menschen die bedrängenden Ideen von Heil und Verdammung des Geistes verschmelzen."
    So, wie die Surrealisten mit unbewussten Kräften von Schlaf und Traum experimentieren, so wird von Beginn an ihre Kunstpraxis von erotischen Energien bestimmt, die sie ins Spiel bringen.
    Der Surrealistenpapst André Breton
    Der Surrealistenpapst André Breton (AP Archiv)
    Die Kaufmannstochter Simone Kahn, die 1897 im Norden von Peru, am Rande des Amazonasurwaldes, geboren wurde, hat das Studium an der Sorbonne aufgenommen. Im Parc du Luxembourg begegnet sie den "drei Musketieren", denen der literarische Ruf voraus geeilt: Louis Aragon, André Breton und Philippe Soupault. Sie beschreibt die Szene in einem Brief an die Cousine Denise Lévy:
    Simone Kahn: "Im Parc du Luxembourg schien die Sonne, als ich die drei Freunde ansprach. Breton war ein etwas bleicher und magerer junger Mann, der trotz seiner schlechten finanziellen Situation eine gewisse Eleganz wahrte. "Sie müssen wissen, ich bin kein Dada", sagte ich ihm von vorneherein. "Ich auch nicht", gab er zurück, mit diesem Lächeln, das er sein Leben lang beibehalten sollte, wenn er sich von seinen eigenen doktrinären Vorgaben distanzierte. Er ist eine ganz eigenwillige Dichterpersönlichkeit, hingerissen vom Außergewöhnlichen und Unmöglichen. Ein rechtes Maß an Unausgeglichenheit, zusammengehalten durch einen scharfen, selbst im Unbewussten wirkenden Verstand, eindringlich, mit einer unbestreitbaren Originalität. Äußerste Schlichtheit und Aufrichtigkeit noch im Widerspruch."
    Mitte September 1921 heiraten Simone Kahn und André Breton. Anschließend unternehmen sie eine ausgedehnte Hochzeitsreise, die sie nach Südtirol und weiter nach Wien führt, wo sie den bewunderten Psychoanalytiker Sigmund Freud aufsuchen. Im Januar 1922 beziehen sie gemeinsam ein Studio am Montmartre, in der Rue Fontaine 42. Hier, wo die Bars und Bordelle der Place Blanche und Place Pigalle an die Quartiere der Arbeiter grenzen, finden sie ein Domizil. Es wird das legendenumwobene Zentrum des Surrealismus, seine Herzkammer.
    Simone Kahn: "Die Rue Fontaine 42 wurde der Ort fantastischer Sitzungen, denen es nicht an Dramatik fehlte. Es ist finster. Wir sitzen alle schweigend um den Tisch herum und halten uns an den Händen. Nach kaum drei Minuten stößt René Crevel bereits raue Seufzer und unartikulierte Rufe aus. Dann hebt er mit lauter deklamatorischer Stimme zu einer grauslichen Erzählung an. Eine Frau hat ihren Mann ertränkt, aber er selbst hat sie darum gebeten. "Ah! Die Frösche! Arme Irre! Irrrre!" Grausame und beschwerte Äußerungen. Ungebändigt bis ins kleinste Bild. Auch ein paar Obszönitäten. Nichts kann abscheulich genug sein."
    Das Vertrauen in die Kräfte des Unbewussten, das die Surrealisten leitet, scheint die freie Ausübung der Persönlichkeit zu verhindern. Die Menschen und die Sachen werden in einem Universum, das den Gesetzen der Fantasie unterworfen ist, austauschbare Spielfiguren und Spielmarken. Dies gilt auch für die erotische Praxis, die zwischen der gefühlten und erwiderten Liebe schwankt. Die freie Liebe führt zur Verdopplung oder Vervielfachung der Person. Unter Umständen nimmt sie gespenstische Züge an.
    Folgen wir dem Verlauf von André Bretons Roman "Nadja", erkennen wir, dass sich seine Frage, wer bin ich, unmerklich in die Frage verwandelt: Wer ist Nadja?
    - Die zweite Begegnung mit "Nadja" am 5. Oktober ist ein Rendezvous. Am Tag darauf aber trifft Breton sie erneut - zufällig auf der Straße.
    André Breton: "Ich habe die Absicht, mich zu Fuß zur Nouvelle France zu begeben, wo Nadja um halb sechs Uhr sein soll; um nicht zu lange umherzuschlendern, gehe ich gegen vier Uhr weg. Gerade die Zeit, um einen Umweg über die Boulevards zu machen: Nicht weit von der Oper muss ich in einem Laden meinen reparierten Füllfederhalter abholen. Gegen die Gewohnheit gehe ich auf dem rechten Trottoir der Rue de la Chaussée-d'Antin. Ich schicke mich an, den Passanten auszuweichen, unter den ersten ist Nadja, in ihrem Aussehen wie am ersten Tag. Es zeigt sich, dass sie ganz unfähig ist, ihre Anwesenheit in dieser Straße zu motivieren. Und um längere Frage abzuschneiden behauptet sie, holländische Bonbons zu suchen. Schon haben wir ohne Absicht kehrtgemacht und treten in das nächstbeste Café."
    Der Roman spielt mit der Doppelexistenz seiner Protagonisten: Real ist Breton ein flanierender Philister - surreal ist er ein Poet auf der Suche nach Identität. Real ist die Unbekannte eine Prostituierte auf der Suche nach Freiern - surreal wird sie als "Nadja" das Objekt des Begehrens. In der Realität trifft die Prostituierte ihren Freier - auf der Ebene der Surrealität findet eine erotische Begegnung statt. Die surreale Überschneidung bildet den Rahmen des Buchs.
    Elisabeth Lenk: "Nadja geht tragisch aus. Breton steht allein einer erstarrten Welt gegenüber. Dennoch versucht er, eine positive Lösung zu konstruieren. Nicht mehr die Surrealität ist Maßstab des poetischen Handelns, sondern die von der Realität ungeschiedenen Leidenschaft. Breton reflektiert über sein Buch. Im Licht der Leidenschaft existiert es nicht oder vielmehr. Es existiert nur, weil er den unverzeihlichen Fehler begangen hat, Nadja nicht zu lieben. An der neuen Frau möchte er gut machen, was er an ihr gefehlt hat. Die neue Frau ist die Inkarnation der Idee der Leidenschaft wie Nadja die Inkarnation der Idee von Surrealität war."
    Verfolgen wir das tragische Schicksal jener Frau, die sich hinter Nadja verbirgt und die Breton nicht wirklich geliebt hat. Der Schleier über ihre reale Biografie wurde durch den Fund einiger Dokumente gelüftet. Es handelt sich um Léona Delcourt, die als Tochter einer Textilarbeiterin und eines Typografen 1902 in Lille geboren wird. In den Wirren des Ersten Weltkriegs, als die Deutschen die Stadt (1917) besetzten und die Engländer sie (1918) wieder befreiten, verliebt sich das Mädchen in einen englischen Offizier und wird von ihm schwanger. Mit 18 Jahren überlässt sie ihr Kind der elterlichen Fürsorge und zieht nach Paris. Eine Weile wird Léona von einem Industriellen ausgehalten. Als die Unterstützung durch den Protegé endet, beginnt sie eine Existenz als Prostituierte.
    Ihre ersten Begegnungen mit André Breton, den sie vergöttert, fallen in den Oktober 1926. Im Dezember des Jahres sehen sie sich das letzte Mal, danach verkehren sie nur durch Briefe. Vermutlich ist es die endgültige Trennung, die den labilen Zustand der drogenabhängigen Frau so sehr verschlechtert, dass sie im März 1927 in die Klinik von Sainte-Anne eingewiesen wird. Von da an ist ihr Weg vorherbestimmt. Er führt durch weitere psychiatrische Anstalten. Léona Delcourt stirbt 1941 mit 38 Jahren, weil die Klinik, in der sie lebt, von der Versorgung durch die deutsche Armee, die Frankreich erneut besetzte, abgeschnitten ist.
    Recherchen im Reich der Sinne
    Als 'Recherchen im Reich der Sinne' konnten die berühmten Gespräche der Surrealisten über die Sexualität vollständig erst 60 Jahre später (Paris 1990) erschienen. Ihre mutigen und offenen Fragen widmen sich dem weiblichen und männlichen Orgasmus, Masturbation und Ejakulation, Exhibitionismus und Fetischismus, Bi- und Homosexualität. Die Surrealisten bekennen sich zu individuellen Perversionen, lange vor den Latex- und Lederfetischisten der SM-Szene. Sie erinnern sich an erste sexuelle Erlebnisse in der Kindheit und sprechen von ersten sexuellen Erfahrungen mit Frauen. Die Frauen allerdings bleiben lange ausgeschlossen, erst zu Beginn der 1930er-Jahre nehmen einige an den Gesprächen teil. Wie es scheint, sind Erotik und Sexualität die Domäne der Männer.
    Das zeigt auch ein Blick in zwei erotische Romane, die 1928 gleichzeitig mit André Bretons "Nadja" erscheinen. Louis Aragon veröffentlicht unter dem Pseudonym Albert de Routisie "Le con d'Irène – Die Möse von Irene" und Georges Bataille unter dem Decknamen Lord Auch "L'histoire de l'oeil – Die Geschichte des Auges". Die surrealistische Maxime gegen Ende der 1920er-Jahre lautet "Freiheit oder Liebe", wie der Titel eines Gedichtbandes (1928) von Robert Desnos heißt. Für ihre erotisch-sexuelle Einstellung gilt hingegen die Maxime von Andre Breton "Freiheit und Liebe". In dem Essayroman "Die kommunizierenden Röhren", worin er die Wahrnehmungsformen des Surrealismus untersucht, schreibt er:
    André Breton: "Die menschliche Liebe muss rekonstruiert werden. Ich will damit sagen, man kann, man muss sie auf ihrer wahren Grundlage wieder errichten. Das Leiden zählt nicht, das gilt auch hier. Liebende, die sich trennen, haben einander nichts vorzuwerfen, wenn sie sich geliebt haben. Bei eingehender Analyse der Ursachen, die zu ihrer Entzweiung geführt haben, wird sich herausstellen, wie wenig es für gewöhnlich in ihrer Macht stand, frei über sich zu verfügen!"
    Durch die Poesie will er sich für die Erfahrung der Liebe frei machen – dies ist das Bestreben von Breton. So werden selbst die Enttäuschung und Entzweiung zu Stationen der Befreiung. Doch ohne Beben und Zittern kommt die surrealistische Praxis nicht aus, wenn sie die Welt und gleichzeitig das Leben verändern will.
    Nach einer weiteren frustrierenden Liaison mit Valentine Hugo, einer Surrealistin der ersten Stunde, trifft Breton (1934) die andere Hälfte seines Lebens: Jaqueline Lamba. Er sieht sie zum ersten Mal in der Nähe seiner Wohnung am Montmartre: im Coliseum, in einer Musichall der Place Blanche. Sie schwimmt und taucht als Nackttänzerin in einem riesigen, mit Wasser gefüllten Aquarium mitten im Bühnenraum. Ein Foto der leibhaftigen Najade mischt er unter das Material, das er auch dieses Mal wieder seinem Roman anfügt.
    Seine neue Liebe, Jaqueline Lamba, 1910 geboren, ist eine Malerin, die sich mit der Nebentätigkeit unter Wasser das nötige Geld für den Zeichenunterricht verdient.
    Der Roman "L'Amour fou" zieht Konsequenzen aus der gescheiterten Suche nach Identität in "Nadja" und seinen enttäuschenden Liebesabenteuern. Er lässt alle Widersprüche gelten und bietet einen vollkommen unlogischen Wechsel von Motiven und Situationen. Im Wirbel der Kontraste unternimmt der Autor erneut einen Gang mit der geliebten Frau durch das nächtliche Paris.
    Die Suche nach Identität hat Breton zu aufregenden Bildern von Subjektivität geführt. "L'Amour fou" beschließt er mit einem Brief an seine Tochter. Für ihn ist Aube die Frucht der verrückten Liebe. Ein letztes Mal bietet er einen poetischen Kontrast auf. Er macht das acht Monate alte Baby zur zukünftigen Zeugin eines Diskurses über die freie Liebe, indem er zwischen Sentimentalität und Surrealität hin und her springt.
    André Breton: "Im schönen Frühling 1952 wirst Du gerade 16 Jahre alt geworden sein. Und vielleicht lockt es Dich, dieses Buch aufzuschlagen, dessen Titel wohllautend im Wind zu Dir kommt. Lass mich denken, dass Du dann bereit sein wirst, jene ewige Macht der Frau zu verkörpern, die einzige, vor der ich mich je gebeugt habe. Mein ganz kleines Kind, das erst acht Monate alt ist, das immer lächelt, das wie die Koralle ist und zugleich wie die Perle, dann wirst Du wissen, dass Dein Eintritt in diese Welt in nichts dem Zufall unterworfen war, dass er genau zu der Stunde erfolgte, in der er geschehen sollte und kein Schatten Dich erwartete über dem Weidenkorb Deiner Wiege. Du tratest aus dem Nicht-Sein ins Sein dank eines jener Akkorde, die einzig zu vernehmen mein Ohr bereit ist. Es gab Dich als gewiss, in dem nämlichen Augenblick, da in der höchsten Selbstsicherheit der Liebe ein Mann und eine Frau Dich wollten. Ich wünsche Dir, wahnsinnig geliebt zu werden."
    Prolegomena zu einem dritten Manifest des Surrealismus oder nicht
    Während André Breton versucht, im New Yorker Exil Fuß zu fassen, hat sich seine Frau Schritt für Schritt von ihm entfernt. Jaqueline, die als eigenständige Künstlerin an der Seite ihres dominanten Mannes nie zur Geltung kommen konnte, ist eine Liebesbeziehung zu dem amerikanischen Bildhauer David Hare eingegangen. Über ihre Trennung gerät Breton in Zustände des inneren Aufruhrs. Er ist emotionalen Schwankungen wie in der Pariser Zeit unterworfen. In dieser verwirrenden Situation schreibt er "Prolegomena zu einem dritten Manifest des Surrealismus oder nicht". Es ist einer der bemerkenswertesten Texte aus seiner Feder.
    André Breton: "Solange die Menschen sich nicht ihrer Stellung bewusst geworden sind - ich meine nicht nur ihre soziale Stellung, sondern ihre Stellung als Menschen überhaupt und die extreme Misslichkeit dieser ihrer Stellung - solange lohnt es nicht, zu reden, lohnt es noch weniger, sich einander zu widersetzen, lohnt es schon gar nicht, zu lieben, ohne aufzubegehren gegen alles, was nicht die Liebe ist, lohnt es auch nicht, zu sterben – vom Frühling abgesehen, ich denke immer an die Jugend, an blühende Bäume, ich denke an die herrlichen Zufälle der Straße, sogar in New York, dann lohnt es sich noch weniger, zu leben. Es gibt, ich denke an diese schönen optimistischen Worte der Dankbarkeit, die in den letzten Gedichten Apollinaires immer wiederkehren; es gibt die wunderbare junge Frau, die in diesem Augenblick ganz beschattet von ihren Wimpern zwischen den großen Kreidekästen von Ruinen in Südamerika umhergeht und deren Blick allein genügt, jedem Krieg den Sinn zu nehmen."
    Es gibt sie wirklich, jene wunderbare junge Frau aus Südamerika. Sie heißt mit bürgerlichem Namen Elisa Bindorff-Caro und wurde 1906 in Viña del Mar in Chile geworden. Aber die Begegnung mit ihr geschieht unter gänzlich anderen als idyllischen Umständen. Elisa hat eine leidvolle Zeit hinter sich. Nach der Trennung von ihrem Mann, einem chilenischen Politiker, ist ihre Tochter während eines Badeunfalls ertrunken. André Breton spricht die Chilenin in einem Café auf der 42. Straße an, als in New York ein heftiger Schneesturm tobt. Die Bildhauerin hat sich gerade von einem Selbstmordversuch erholt. Er richtet Worte des Verständnisses an die verletzliche Frau:
    André Breton: "Du weißt ja, dass ich Dich ohne das geringste Zögern wiedererkannt habe, als ich Dich zum ersten Mal sah. Als ich Dich sah, lag noch ein Nebel unsäglicher Art in Deinen Augen. Wie kann man sich wieder erheben und vor allem, als wer kann man sich wieder erheben vom Verlust eines Menschen, eines Kindes, zumal das für alles steht, was man liebt, um so mehr, wenn sein Tod durch einen Unfall verursacht wird und wenn sich in diesem Kind, das beinahe schon ein junges Mädchen war, alle Anmut, Geistesgaben, alles Verlangen nach Wissen und Erleben verkörperten? Ich wusste nichts von dieser Tragödie. Ich sah Dich nur in Deinen Schatten gehüllt."
    Breton stirbt am 28. September 1966 in Paris. Seine letzte Ruhestätte findet er im Norden der Stadt, auf dem Friedhof von Batignolles. Auf seinem Grabstein können wir eine Zeile lesen, die er in den 20er-Jahren schrieb:
    André Breton: "Je cherche l'or du temps – Ich suche das Gold der Zeit."
    Der Mann, der als Papst oder Vater des Surrealismus gilt, wird oft gescholten, weil er eine unnachgiebige Haltung gegenüber Andersgesinnten eingenommen habe, von sich selbst zu sehr überzeugt gewesen sei und kaum Rücksicht walten ließ. Wir haben in dieser Sendung versucht, ihn von seiner spannungsvollen und sympathischen Seite zu zeigen. Gegen Ende wollen wir sein Werk und seine Bedeutung Revue passieren lassen. Andre Breton betonte:
    André Breton: "Ich insistiere auf dem Faktum, dass der Surrealismus historisch nur in Abhängigkeit vom Krieg verstanden werden kann - ich meine von 1918 bis 1939 - zugleich im Zusammenhang mit dem Krieg, bei dem er einsetzte, und dem, zu dem er zurückkehrte."
    Viele surrealistische Künstler erlebten zwei Weltkriege. Nur in den beiden Jahrzehnten zwischen den Kriegen konnten sie ihre schöpferischen Energien frei zur Entfaltung bringen. Sie erfuhren den Krieg als Manifestation von Gewalt und als reine Männersache. Außer in den Träumen kamen Frauen nicht vor. Erst in Friedenszeiten konnten sie das weibliche Geschlecht als Ort des Lebens und der Liebe, des Begehrens und der Fortpflanzung, der Magie und Mystik wahrnehmen. Die surrealistische Kunst gewinnt ihre Bedeutung, wo sie die Rolle der Frauen, der Erotik und Sexualität so stark ins Zentrum rückt. Exemplarisch geschieht das im Werk von Breton, das von der freien Vereinigung und verrückten Liebe spricht. Der mexikanische Surrealist Octavio Paz beschreibt diese Konstellation so:
    Octavio Paz: "Der objektive Zufall hat in der Mythologie Bretons die gleiche Funktion wie der Zaubertrank in der Sage von Tristan und Isolde. Er schafft einen magnetisierten Raum. Die Liebenden, die wie Somnambule ein zweites Gesicht haben, wandern umher, begegnen sich, trennen sich und treffen sich erneut. Sie suchen sich nicht, sie finden sich. Die Anziehungskraft der Liebe rührt an das fundamentale Geheimnis: die Verbindung zwischen Schicksal und Freiheit. Damit sie zustande kommt, bedarf es der Beteiligung des Willens. Die Liebe, jede Liebe, impliziert ein Opfer; trotzdem wählen wir dieses Opfer ganz bewusst und ohne mit der Wimper zu zucken. Dies ist das Geheimnis der Freiheit. Kurz: Die Liebe ist die Freiheit in Person."
    Websitetipp:
    Werke von André Breton (in deutscher Übersetzung)
    • "Das Weite suchen", Reden und Essays, aus dem Französischen übersetzt von Lothar Baier, Frankfurt/M. 1981
    • "Ode an Charles Fourier", herausgegeben, übersetzt und kommentiert von Heribert Becker, Berlin 1982
    • "Arkanum 17 ergänzt durch Erhellungen", aus dem Französischen übersetzt von Heribert Becker, München 1993
    • "Die Manifeste des Surrealismus", Deutsch von Ruth Henry, Reinbek 1968.
    • "Die kommunizierenden Röhren", Deutsch von Elisabeth Lenk und Fritz Meyer, München 1973
    • "Anthologie des Schwarzen Humors", Deutsch von Rudolf Wittkopf, München 1972
    • "Gespräche. Dada, Surrealismus, Politik", aus dem Französischen von Unda Hörner und Wolfram Kiepe, Dresden 1996
    • "Nadja", Übersetzung und Nachwort von Max Hölzer, Pfullingen 1960
    • "Nadja", aus dem Französischen von Bernd Schwibs. Mit einem Nachwort von Karl Heinz Bohrer, Frankfurt/M. 2002
    • "L'Amour fou", Deutsch von Friedhelm Kemp, Frankfurt/M. 1975
    • "L'immaculée conception / Die unbefleckte Empfängnis", Deutsch von Johannes Hübner, München 1974
    • "Violette Nozières", aus dem Französischen von D. Ausprunk und W. Schmidt, Berlin 1986
    Werke über André Breton und den Surrealismus
    • Rita Bischof: "Nadja revisited", Berlin 2013
    • Marguerite Bonnet, André Breton: "Naissance de l'aventure surréaliste", Paris 1988
    • Xavière Gauthier: "Surrealismus und Sexualität", aus dem Französischen von Heiner Noger, Berlin 1980
    • Julien Gracq: "Lesend schreiben", aus dem Französischen von Dieter Hornig, Graz-Wien 1997
    • Unda Hörner: "Die realen Frauen der Surrealisten", Frankfurt/M. 1998
    • Elisabeth Lenk: "Der springende Narziss. André Bretons poetischer Materialismus", München 1971
    • Günter Metken (Hg.): "Als die Surrealisten noch recht hatten. Texte und Dokumente", 2. Auflage, Hofheim 1983
    • Adrienne Monnier: "Aufzeichnungen aus der Rue de l'Odéon", Frankfurt/M. 1995
    • Maurice Nadeau: "Geschichte des Surrealismus", München 1965
    • Octavio Paz: "Die doppelte Flamme", aus dem Spanischen von Rudolf Wittkopf, Frankfurt/M. 1995
    • José Pierre (Hg.): "Recherchen im Reich der Sinne. Die 12 Gespräche der Surrealisten über Sexualität 1928 - 1932", aus dem Französischen von Martina Dervis, München 1994
    • Mark Polizzotti: "Revolution des Geistes. Das Leben André Bretons", München 1996
    • Georges Sebbag: "André Breton - L'Amour-Folie. Suzanne, Nadja, Lise, Simone", Paris 2004