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Andreas Hilger, Ute Schmidt, Günther Wagenlehner (Hg.) : Sowjetische Militärtribunale. Band 1: Die Verurteilung deutscher Kriegsgefangener 1941 - 1953. (Schriften des Hannah-Arendt-Instituts für Total

Von der Belletristik zur Statistik - und doch zu einem artverwandten Thema. In der Reihe für Totalitarismusforschung des Hannah-Arendt-Instituts ist vor kurzem der erste Band einer wissenschaftlichen Untersuchung zu sowjetischen Militärtribunalen erschienen, der sich dezidiert mit der Verurteilung deutscher Kriegsgefangener zwischen 1941 und 1953 beschäftigt. Auch dies ein lange im Dunkeln gebliebenes Kapitel der Kriegs- und Nachkriegsgeschichte, wenn auch aus anderen Gründen: an eine ernsthafte Recherche zu diesem Thema in sowjetischen Archiven war jahrzehntelang ganz einfach nicht zu denken. Ulrich Kurzer hat das Buch für Sie gelesen.

Ulrich Kurzer | 25.02.2002
    Von der Belletristik zur Statistik - und doch zu einem artverwandten Thema. In der Reihe für Totalitarismusforschung des Hannah-Arendt-Instituts ist vor kurzem der erste Band einer wissenschaftlichen Untersuchung zu sowjetischen Militärtribunalen erschienen, der sich dezidiert mit der Verurteilung deutscher Kriegsgefangener zwischen 1941 und 1953 beschäftigt. Auch dies ein lange im Dunkeln gebliebenes Kapitel der Kriegs- und Nachkriegsgeschichte, wenn auch aus anderen Gründen: an eine ernsthafte Recherche zu diesem Thema in sowjetischen Archiven war jahrzehntelang ganz einfach nicht zu denken. Ulrich Kurzer hat das Buch für Sie gelesen.

    Fast zweieinhalb Millionen deutsche Soldaten gerieten während des Zweiten Weltkrieges in sowjetische Kriegsgefangenschaft. Fast 34.000 von ihnen wurden zwischen 1941 und 1955 durch Militärtribunale in der UdSSR abgeurteilt. In den meisten Fällen lautete die Anklage auf Kriegs- und Gewaltverbrechen. Nach dem Zerfall der Sowjetunion öffneten sich auch die Archive der einstigen Supermacht für die Forschung. Und so konnten Historiker dem Schicksal der deutschen Kriegsgefangenen erstmals auch in sowjetischen Akten nachspüren.

    Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des Instituts für Archivauswertung in Bonn und des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung an der TU Dresden haben aus dem Aktenmaterial von genau 31.284 sowjetischen Urteilen gegen deutsche Kriegsgefangene eine Datenbank angelegt. In dem vorliegenden Sammelband präsentieren sie in acht Aufsätzen die Ergebnisse ihrer Arbeit.

    "Aufgrund der nahezu vollständigen Erfassung sind fundierte quantitative Aussagen über die Verurteilungen deutscher Kriegsgefangener in der UdSSR möglich."

    Wer das Buch zur Hand nimmt und nicht bereits über detaillierte Vorkenntnisse verfügt, sollte nach der Einleitung zuerst den Schlussbeitrag Leonid Kopalins lesen, seines Zeichens stellvertretender Leiter der Verwaltung für die Rehabilitierung der Opfer politischer Repression bei der russischen Hauptmilitärstaatsanwaltschaft. Das Verständnis der übrigen Beiträge wird so wesentlich erleichtert. In seinem Text über "Die Rechtsgrundlagen der Rehabilitierung widerrechtlich repressierter deutscher Staatsangehöriger" in der UdSSR weist Kopalin auch auf die juristischen Grundlagen und einige Umstände der damaligen Verurteilungen hin. Anschließend ist es ratsam, bis zum dritten Beitrag zurückzublättern. Dort stellt der Regensburger Lehrstuhlinhaber für Strafrecht, Friedrich-Christian Schroeder, die wichtigsten juristischen sowjetischen Strafvorschriften im Detail dar.

    Knapp zwei Drittel der überlieferten Urteile wurden auf der Grundlage eines Erlasses des Obersten Sowjet der UdSSR vom 19. April 1943 ausgesprochen, dem sogenannten "Ukaz 43". Diese damals nicht veröffentlichte Vorschrift zielte auf die Strafverfolgung bei der "Ermordung und Misshandlung" sowjetischer Zivilisten und gefangener Rotarmisten durch deutsche Soldaten und sowjetische Kollaborateure. Daneben kamen in den Prozessen verschiedene Artikel der Strafgesetzbücher der Unionsrepubliken zur Anwendung. In der russischen Sowjetrepublik waren dies vor allem Bestimmungen über Staatsverbrechen, Verbrechen gegen das Vermögen und militärische Verbrechen. Das Strafmaß war überwiegend hoch: Zehn, fünfzehn, ja bis fünfundzwanzig Jahre Haft in sowjetischen Lagern, von denen das System des GULag nur das bekannteste ist. Mehr als die Hälfte der verurteilten deutschen Kriegsgefangenen verbrachte zumindest einer Teil der Haft in diesen Straflagern, die der Verwaltung des sowjetischen Innenministeriums unterstanden. Die Todesstrafe wurde, auch wenn man eine Dunkelziffer in Betracht zieht, weitaus seltener ausgesprochen, als man vermuten könnte. In der erwähnten Datenbank sind 218 Todesurteile überliefert, das entspricht weniger als einem Prozent. Die Verfahren unterlagen, wie Schroeder abschließend hervorhebt, keinem eigens für die deutschen Kriegsgefangenen geschaffenen Sonderrecht. Was nicht impliziert, dass sie auch nur im entferntesten den Prinzipien entsprachen, die demokratisch-rechtsstaatliche Prozesse auszeichnen.

    In der noch jungen Bundesrepublik wurde das Schicksal der in der UdSSR Internierten durch deren Angehörige sehr emotional verfolgt. Bundestag und Bundesregierung nahmen sich des Problems schon bald an. Am 1. Dezember 1949 beauftragte das Parlament die Regierung mit der Wahrnehmung des Rechtsschutzes für die deutschen Kriegsgefangenen im Ausland. Die nun einsetzenden westdeutschen Bemühungen, mit der sowjetischen Seite ins Gespräch und zu einer Lösung zu kommen, zeichnet Manfred Zeidler im ersten Beitrag des Sammelbandes nach, während in den fünf übrigen Aufsätzen die Ergebnisse der Arbeit aus verschiedenen Perspektiven vorgestellt werden: So ergingen etwas mehr als 16.000, und damit mehr als die Hälfte aller dokumentierten Urteile, Ende der vierziger Jahre in nichtöffentlichen Schauprozessen - zumeist auf Grundlage des besagten "Ukaz 43". Interessanterweise, so belegen die Autoren, wurden dabei Mannschaftsdienstgrade prozentual weniger häufig verurteilt als Generäle und hohe Offiziere der Wehrmacht. Leider erlaubt das Material der Datenbank jedoch keine Differenzierung nach Wehrmachts- und SS-Diensträngen.

    Die Beiträge des Buches präsentieren eine Fülle an - ohne Frage wichtigen - Einzelheiten. Gelegentlich, so etwa in Cordula Wohlmuthers Schilderung von "Lageralltag und Strafjustiz", gewinnen die Verhältnisse und die Not in den Lagern auch einmal Konturen jenseits der bloßen Zahlen, der Strafgesetzbuchartikel und des referierten Wirrwarrs juristisch-politischer Zuständigkeiten in den sowjetischen Behörden. Doch insgesamt fesseln die Texte nicht wirklich. Um es mit einem Wort Martin Broszats auszudrücken: Ihnen fehlt "die Lust am geschichtlichen Erzählen".

    Natürlich ist solches Erzählen schwer, wenn man an die Entbehrungen der Kriegsgefangenen in der Lagerhaft denkt, an ihre verzweifelte Hoffnung auf Rückkehr in die Heimat. Und natürlich ist dieses Erzählen eine schwierige Gratwanderung zwischen dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion und deutschen Kriegsverbrechen, individueller Verstrickung der Soldaten und dem sowjetischen Bedürfnis nach Vergeltung. Leider unterziehen sich die Autorinnen und Autoren dieser Mühe nur im Ansatz. Um nicht falsch verstanden zu werden: Man darf es sich natürlich nicht so einfach machen und die sowjetischen Verurteilungen deutscher Kriegsgefangener lediglich mit dem Hinweis auf die vorangegangenen Gräueltaten der deutschen Wehrmacht legitimieren - doch ganz ohne das analytische Mitdenken der nachweisbaren historischen Tatsachen sind Art und Strafmaß der Verurteilungen deutscher Kriegsgefangener durch die sowjetischen Tribunale nicht wirklich zu ergründen. In den Texten kommt diese Problematik gelegentlich ans Licht - doch insgesamt zu selten. So etwa in dem Beitrag von Andreas Hilger über die Straflager oder in Ute Schmidts Untersuchung der von den Sowjets zur Jahreswende 1955/56 in die beiden deutschen Staaten zwecks weiterer Strafverbüßung überstellten nichtamnestierten Kriegsgefangenen. Schmidt präsentiert ihr Zahlenmaterial durchaus lesbar. Doch warum das Ganze, wenn ungeklärt bleibt, nach welchen Kriterien die sowjetische Seite diese Personen auswählte? Außerdem bleibt offen, warum sie überhaupt aus der Haft in der Sowjetunion entlassen wurden, obwohl sich eindeutig überführte Kriegsverbrecher darunter befanden!

    Noch etwas erschwert die Lektüre des Buches: Auf bisherige Forschungsergebnisse wird überwiegend in dem umfangreichen Anmerkungsapparat hingewiesen. Wenn der Forschungsstand doch einmal im Text diskutiert wird, dann in einer recht deskriptiven Form. Eine gründliche und nachvollziehbare Gegenüberstellung unterschiedlicher Positionen und Kontroversen unterbleibt oder gerät zu knapp. Ein einleitender Problemaufriss zum bisherigen Forschungsstand und die damit verbundene Beantwortung der Frage, worin sich die Qualität des neu verfügbaren Quellenmaterials für die weitere Forschung auszeichnet, hätte dem Band ebenso gut getan wie die "Lust am geschichtlichen Erzählen".

    Ulrich Kurzer über: Sowjetische Militärtribunale. Band 1: Die Verurteilung deutscher Kriegsgefangener 1941 - 1953. (Schriften des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung, Bd. 17) Herausgegeben von Andreas Hilger, Ute Schmidt, Günther Wagenlehner und anderen im Böhlau Verlag Köln, 437 Seiten für EUR 41.