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Andreas Oldag und Hans Martin Tillack: Raumschiff Brüssel - Wie die Demokratie in Europa scheitert.

Nicht mehr lange, dann besteht die EU, die Europäische Union aus 25 Mitgliedsländern. - Für die einen Grund zur Freude, für andere Anlass tiefer Skepsis, ja Furcht vor einem vermeintlichen "Moloch Brüssel", einem angeblichen "Bürokraten-Monster" mit unersättlicher Reglementierungswut. - "Raumschiff Brüssel - Wie die Demokratie scheitert", heißt eine Neuerscheinung, die sich solcher Sorgen offenbar annehmen möchte.

Jochen Spengler |
    Die Geschichte der europäischen Einigung ist eine Erfolgsgeschichte, keiner kann das bezweifeln.

    Dies stellen Andreas Oldag und Hans-Martin Tillack von vornherein klar.

    Von Lappland bis Andalusien herrschen Friede und Wohlstand. Erstmals sind die Deutschen mit allen ihren Nachbarn verbündet und nicht verfeindet. Fast 380 Millionen Europäer können zwischen Mecklenburg und Mallorca frei wählen, wo sie leben und arbeiten wollen. Grenzkontrollen und Zölle gehören der Vergangenheit an. ... Das ist die eine Seite.

    Gewissermaßen die positive Seite. Aber um die geht es im Buch nicht. Tatsächlich findet sich auf 415 Seiten eine ebenso schonungslose wie einseitige Generalkritik an der EU. Jede wichtige EU-Institution wird kapitelweise in verständlicher Sprache vorgestellt und kritisch beleuchtet: vom überforderten Kommissionspräsidenten Prodi bis hin zum mächtigen Ministerrat. Keines der zentralen politischen Themen der EU fehlt: von der Landwirtschaft bis hin zur Erweiterung. Der größte Vorzug des Buches ist der Insiderblick, den Oldag und Tillack auf das Innenleben der EU richten, insbesondere auf sonst wenig beachtete und dennoch einflussreiche Gremien wie den Ausschuss der Ständigen Vertreter oder die maßgeblichen Generaldirektoren der Kommission. Köstlich auch die Beschreibung des Kompetenzgerangels in der EU-Außenpolitik zwischen dem Beauftragten Solana, dem Außenkommissar Patten und Louis Michel, dem Außenminister des Ende 2001 präsidierenden EU-Staates Belgien, die gemeinsam auf Nah-Ost-Mission gingen:

    Drei Dutzend Journalisten, die die Mission in dem belgischen Airbus begleiten, verfolgen gebannt die Profilierungsversuche der drei Chefdiplomaten. Solana lässt durchsickern, dass er es ist, der beinahe täglich mit US-Außenminister Colin Powell telefoniert. Der gewiefte Patten spielt seine intellektuelle Überlegenheit aus. Derweil wird Ex-Schullehrer Michel, Coladose in der Hand, Pfeife im Mund, rasch grundsätzlich, wenn er sich zu den Journalisten im hinteren Teil des Flugzeugs gesellt. - ‚Die Amerikaner sind sehr amerikanisch’, lautet so ein Michel-Motto.

    Leider entwerten die Autoren viele ihrer kritischen Analysen durch Überzeichnungen und Unvereinbarkeiten. Oft bleibt die Logik ihrer Argumentation auf der Strecke; einerseits kritisieren sie:

    Europa wird aus dem Hinterzimmer regiert - und in dem lässt es sich leicht mauscheln.

    Andererseits jammern sie:

    Es gibt keinen kurzen Draht. Zwischen Berlin und Brüssel herrscht Sprachlosigkeit.

    Einerseits heißt es über die Erweiterung warnend, dass sie dramatische Folgen für das Budget haben werde, andererseits kritisieren sie, dass die EU die armen Ost-Verwandten möglichst billig abfertigen wolle. Der Eindruck entsteht, als wollten die Autoren nur eines belegen: was immer Europa auch macht, macht es falsch. Verwirrend ist darüber hinaus, dass keinerlei Gewichtung vorgenommen wird. Alle Probleme der EU werden als gleichermaßen schwer wiegend dargestellt. Und so kommen die großen Zukunftsfragen der Union, etwa der Mangel an Demokratie, Transparenz und Effizienz oder die außen- und sicherheitspolitische Kakophonie als nicht wichtiger daher als manche kritikwürdige finanzielle Unregelmäßigkeit. Betrug und Korruption sind überhaupt die Lieblingsthemen von Oldag und Tillack. Sie schildern das letzte Jahrzehnt der EU als eine einzige Skandalgeschichte. Keine noch so kleine Affäre wird ausgelassen. Fast alle führenden Politiker und Beamten der Union sind nach Ansicht der Autoren offenbar entweder unfähig oder führen Böses im Schilde. Am Ende entsteht das Zerrbild einer EU, die als Hort von Misswirtschaft und Korruption erscheint. Hans Martin Tillack arbeitet für den "Stern" in Brüssel, Andreas Oldag war dort einige Jahre für die "Süddeutsche Zeitung" tätig. Das Autorenpaar ist Opfer seines eigenen journalistischen Ansatzes geworden, der aus dem Dreiklang "Dramatisierung, Personalisierung und Skandalisierung" besteht. An einer Stelle heißt es im Buch bedauernd:

    Mangels öffentlichen Streits spielt auf der Brüsseler Bühne kein Drama, das das Medieninteresse wecken würde. Darum ist ja die Europaberichterstattung in Zeitungen und dem Fernsehen allzu oft reichlich trocken...nur über Personen lassen sich Bürger für Politik wirklich interessieren.

    Für die "trockene" Arbeit ihrer Journalisten-Kollegen erübrigen die in Brüssel oft abgesondert agierenden Autoren nur ein mitleidiges Lächeln. Sie seien keine...

    ... Reporter im Dienst ihrer Leser, sondern (...) Herolde der europäischen Idee.

    Als "Berufseuropäer" zählten sie, so schreiben die Autoren an anderer Stelle, zu einem - Zitat - "fest etablierten Brüsseler Kartell", das die Probleme der EU gerne zum Tabu erkläre. Sich selbst verstehen die Autoren dagegen als Enthüllungsjournalisten. Dafür mögen sie edle Motive haben, gestattet sei freilich der Hinweis, dass eine Illustrierte wie der "Stern" kaum noch Geschichten über die positive Seite der EU drucken würde. Wer mit einer Story ins Blatt will, muss Skandalgeschichten liefern, Dramen, tatsächliche oder auch nur scheinbare. Und so gelangt dieses Buch trotz manch richtiger Beobachtung unter dem Strich zu einem falschen Fazit und eignet sich eher als Argumentationshilfe für den deutschen Stammtisch denn als Basis einer seriösen Debatte um die Schwächen der EU. Denn die Union ist eben nicht der von den Autoren suggerierte Ort durchgängigen Politikversagens, wo, wie ja schon der Kanzler raunte, unser "Geld verbraten wird." Folgt man der Linie Oldags und Tillacks, so müsste die EU eigentlich abgeschafft werden Soweit gehen die Autoren denn aber doch nicht, auch wenn zwischen den Zeilen gelegentlich eine heimliche Sehnsucht nach der verlorenen, nationalen Souveränität hindurchschimmert. Statt der Abschaffung der Union fordern sie als Allheilmittel ihre Demokratisierung.

    Solange aber die Kommissionsführung nicht wie eine Regierung im Wettstreit eines Wahlkampfes ausgewählt wird, kann die politische Union nicht funktionieren. Keine Wahlen – das heißt ja auch: es fehlt der institutionalisierte Streit um die beste Lösung, das vernünftigste Konzept.

    Tatsächlich ist die Demokratisierung der EU überfällig. Die Autoren verlangen die Parteipolitisierung der EU-Kommission, die zu einer Regierung werden solle, ihre Wahl durch das EU-Parlament, das einem Fraktionszwang unterliegen müsse, den Abschied von der Konsensdiplomatie. Eine solche Vulgär-Demokratisierung ist nicht nur umstritten, sie wäre erst recht kein Allheilmittel. Bei Oldag und Tillack erscheint dies aber so, weil sie auch hier ein Komplott vermuten. Die Demokratisierung der EU werde verhindert, so die Verschwörungstheorie der Autoren, durch die Profiteure des EU-Selbstbedienungsladens. Das ominöse Kartell verhindere alle Veränderungen, um die eigenen Privilegien zu retten - ein - Zitat - "Netzwerk der Korruption". Das Naheliegende dagegen erscheint in dieser Weltsicht zu banal: Dass die EU nämlich ein historisch gewachsenes Konglomerat unterschiedlichster Traditionen und Politikvorstellungen ist, kein am Reißbrett entworfenes Demokratiemodell. Dass die Verwaltung eines solchen Gebildes immer schwierig sein wird und auch zu Unregelmäßigkeiten führen muss. Und dass die EU eben noch lange nicht die Vereinigten Staaten von Europa oder gar die Vereinigten Bürger Europas sind. Die Autoren kritisieren, dass die Gemeinschaft...

    ...heute schon unter dem Geburtsfehler leidet, in erster Linie eine Union der Staaten und Regierungsbürokratien zu sein – anstatt eine Union der Bürger.

    Man mag diese Tatsache als Geburtsfehler beklagen. Aber man sollte sie zur Kenntnis nehmen. Auch künftig wird die Union eine Staatenunion bleiben. Einfach, weil die Franzosen zunächst Franzosen, und die Deutschen zunächst Deutsche und erst danach Europäer sein wollen. Die Nationalstaaten bleiben wichtig in einer EU. Sie können und werden sich nicht einfach durch eine europäische Regierung ersetzen lassen. Doch daran muss die Demokratie in Europa nicht scheitern.