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Andreas Reisinger, Else Rieger: Schwarzbuch Straße

Ein bezeichnendes Beispiel für die Manövrierunfähigkeit der Politik in unserem Land ist sicherlich seine Verkehrspolitik - und das mehr oder minder parteiübergreifend. So verkaufen es unsere Volksvertreter, eingeklemmt zwischen den Ansprüchen mächtiger Lobbys, den Bürgern etwa als unabwendbares Schicksal, dass sich der Güterverkehr auf unseren Straßen bis zum Jahr 2010 verdoppeln werde. Dabei wäre der LKW-Wahnwitz, der Straßen, Nerven und Natur auf Kosten des Steuerzahlers ruiniert, durchaus eindämmbar. Dass es auch anders ginge - und dass wir als Konsumenten dazu ein gutes Stück beitragen könnten - belegt das "Schwarzbuch Straße" aus dem Wiener Deuticke Verlag.

Von Sandra Pfister |
    Für ein in Stuttgart abgepacktes 150-Gramm Erdbeerjoghurt wurden polnische Erdbeeren im rund 800 Kilometer entfernten Aachen verarbeitet. Dann wurden sie auf den 446 Kilometer weiten Weg nach Stuttgart geschickt. Der Aluminiumdeckel brachte es im Laufe seiner Herstellung auf 864 Kilometer, die Joghurtkulturen sogar auf 917. Dann wurden noch Quarzsand aus Frechen in Nordrhein-Westfalen in Bayern zu Glas. Letztlich traten zwei weitere Akteure auf den Plan: Milch (36 Kilometer Anfahrtsweg) und Zucker (107 Kilometer Anfahrtsweg). Die stolze Bilanz eines deutschen Erdbeerjoghurts: insgesamt 9.115 Kilometer.

    Wie viele Kilometer essen Sie zum Frühstück? - Diese simple Frage überschreibt einen der prägnantesten Absätze in diesem Buch. Waren sind längst zu Globetrottern geworden. Der Verkehr, der durch Transport von Nahrungsmitteln verursacht wird, hat sich in den letzten 20 Jahren nahezu verdoppelt - und das, obwohl wir nicht mehr essen. Die Autorin Else Rieger:

    Ob ich jetzt morgens mit auf den Frühstückstisch Cornflakes stelle oder ein Vollkornbrot esse, so blöd das klingen mag, das macht einen Riesenunterschied, der in Kilometern zu bemessen ist. Also Cornflakes haben z.B. 7.000 Kilometer hinter sich, bevor sie auf meinem Frühstückstisch landen. Beim Brot sind es, wenn man alles zusammen rechnet, vielleicht ein paar Hundert, aber wenige Hundert.

    Wer sich dazu noch eine natürliche Vitaminspritze in Form neuseeländischer Kiwis gönnt, legt gleich noch einmal 20.000 Kilometer drauf. Der Import eines einzigen Kilos Kiwis aus Neuseeland per Flugzeug verbraucht so viel Strom wie ein Fernseher, der 38 Tage nonstop läuft.

    Die Kombination von niedrigen Lohn- und Produktionskosten im Erzeugerland und billigem Transport macht es möglich, brasilianische Orangen zu Schleuderpreisen und Spargel aus Südafrika billiger als heimischen anzubieten.

    Der Verbraucher zahlt trotzdem einen hohen Preis, wenn auch nicht an der Ladentheke. Wo immer mehr LKW verkehren, wird Boden versiegelt, Autobahnen zerschneiden Ökosysteme; nicht immer sind die gesundheitlichen Risiken so evident wie Belastungen durch Staus, Lärm, Smog und Dieselruß:

    Tomaten werden gentechnisch verändert, um die langen Transportwege überstehen zu können. Erdbeeren können lange Transporte nur mit kräftiger Unterstützung aus dem Chemiebaukasten überdauern.

    Der stetig steigende LKW-Verkehr zieht dem Verbraucher aber auch ganz direkt das Geld aus der Tasche. Von Spurrillen bis zu zerrütteten Fundamenten - alle Schäden, die LKW anrichten, werden aus dem allgemeinen Steuertopf repariert. Denn die schweren Brummis zerrütten nicht nur die Asphaltdecken. Die wummernden Achsen ramponieren auch die Kanalsysteme und ganze Altbaufundamente. Else Rieger:

    Das, was wir mit unserem Untertitel 'Die subventionierte Transportlawine’ ansprechen wollen, ist die Tatsache, dass der Transport, gerade eben der Transport auf der Straße, eigentlich zu billig ist, dass nämlich die so genannten externen Kosten, also Kosten für Folgeschäden an der Infrastruktur durch die starke Belastung, die Schwertransporter den Straßen angedeihen lassen, dass derartige externe Kosten nicht von denen bezahlt werden müssen, die sie verursachen, eben nicht von der Transportbranche.

    Die Steuerzahler blechen für die Infrastruktur. Damit subventionieren wir die Industrie. Das ist eine der wichtigsten Themen des Wirtschaftswissenschaftlers Andreas Reisinger und der Kulturwissenschaftlerin Else Rieger. Die Industrie liefert heute nämlich "just in time" aus zentralen Großlagern und hat damit einfach einen Teil ihrer Lagerhaltung auf die Straße verlegt. So mancher Transportunternehmer wirtschaftet aber nicht nur auf Kosten des Staates, sondern auch seiner eigenen Fahrer. Beim Anheuern der preiswerten Ost-Fahrer greifen die Spediteure oft in die arbeitsrechtliche Trickkiste - oder verstoßen gleich gegen das Gesetz. Mancher Spediteur, das illustrieren die Autoren an mehreren Beispielen, beschäftigt kurz entschlossen Osteuropäer ohne jegliche Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis, und zwar zu den Lohnkonditionen ihrer Heimatländer. Andere wiederum erklären ihre Fahrer kurzerhand für selbstständig, weil diese damit in einigen EU-Staaten den Vorschriften der Ausländergesetzgebung entgehen. In diesen schwer zu recherchierenden Bereichen profitiert das Buch davon, dass der Autor Andreas Reisinger früher selbst als Fernfahrer gearbeitet hat.

    So mancher Trucker muss sogar für den von ihm verursachten Bremsverschleiß zahlen: Wer häufiger bremst, bekommt weniger Lohn. Welche Folgen das für die Bremsfreudigkeit der Fahrer und damit für die Sicherheit im Straßenverkehr hat, kann man sich leicht ausmalen.

    Die LKW-Fahrer sind selbst Opfer, das ist der Tenor in den entsprechenden Passagen des Buches. Um den zeitlichen Vorgaben der Disponenten auch nur annähernd entsprechen zu können, müssten sie ihre Fahrtenbücher manipulieren. Übermüdete Fahrer, die die Lenkzeiten längst überschritten haben, seien an der Tagesordnung.

    Ihren Lohn müssen sich die LKW-Fahrer unter dem doppelten Druck von Seiten der Unternehmer und Disponenten auf der einen und der Kontrollbeamten auf der anderen Seite verdienen.

    Und die Politik? Mit einzelstaatlichen Regelungen sei den international agierenden Spediteuren nicht beizukommen, weisen die Autoren nach. Jahrzehntelang hätten nationale Egoismen den Nährboden für kriminelle Machenschaften in der Transportbranche bereitet. An die Adresse der Politik gehen daher auch die meisten Lösungsvorschläge. Die wichtigsten: Ein europaweites, satellitengesteuertes Mautsystem, damit Spediteure endlich für die Straßenschäden bezahlen, die sie verursachen. Ein internationales Kontrollorgan für den Güterverkehr. Saftige Strafen für Unternehmer, die illegal osteuropäische Billigfahrer einsetzen. Und die Bahn? Wer ein Loblied auf die Schiene erwartet, wird desillusioniert. Sie sei erst langfristig eine Alternative, urteilt Else Rieger:

    Wenn man dann genauer hinschaut, zeigt sich sehr, dass die Bahn-Infrastruktur extrem vernachlässigt wurde über Jahrzehnte hinweg. Bahnen waren eben Staatsunternehmen mit der dazugehörigen Schwerfälligkeit - vom Aktenlauf bis zum Ausbauen der Infrastruktur. Und deswegen sind die Grundbedingungen, von denen wir heute ausgehen können, ganz materiell gefasst, das Schienennetz etc., diese Grundbedingungen sind eher düster.

    Letztlich glauben die Autoren vor allem an den mündigen Verbraucher. Wenn der Transportaufwand bei jedem Produkt verpflichtend gekennzeichnet würde, dann könne der Konsument sich bewusst für regionale Ware entscheiden.

    Es ist an uns Konsumenten, Zeichen zu setzen. Es ist an uns zu fragen, auf welchen Wegen und zu welchen Bedingungen Produkte transportiert wurden. Das bedeutet, dass jede Kaufentscheidung eine Entscheidung für etwas mehr oder etwas weniger Verkehr sein kann.

    Dahinter zeigt sich ein kämpferischer Impetus. Mit ihrer Analyse beziehen die Autoren Position. An manchen Stellen gerät ihr Urteil dabei plakativ. Die berechtigte Kritik an der LKW-Flut auf unseren Straßen gerät dann zum Rundumschlag gegen den Kapitalismus.

    Ihr Vorgehen: Im wahrsten Sinne des Wortes grenzenloses Kombinieren von Know how, Arbeitskräften, Produktionsmitteln, Technologie und in der Branche so wichtigen Transportgenehmigungen. Ihr Ziel: maximaler Profit. Ihre Gemeinsamkeit: Aufspüren und Ausnutzen von Gesetzeslücken und Grauzonen. Das Resultat: Internationaler Kapitalismus pur.

    Die mehr als 300 Seiten lange Anprangerung der Missstände in der Transportbranche und der verkehrten Verkehrspolitik ist keine leichte Lektüre. Besonders in der Beschreibung der Machenschaften verschiedener Speditionsimperien verlieren sich die Autoren in Details; etwas mehr Stringenz hätte dem verdienstvollen Buch gut getan. Um so mehr wünscht man sich ein Register. Weil das fehlt, gehen viele wichtige Details im großen Fakten-Kompendium unter. Besser wäre es gewesen, die Autoren hätten ihre Analysen auf den Punkt gebracht. Ihre Schlussfolgerungen werden am Ende auf "12 Punkte gegen die Verkehrslawine" eingedampft. Gleichwohl eignet sich das mit viel Engagement geschriebene "Schwarzbuch Straße" als Einstieg in die Materie, über die kaum allgemeinverständlich Gebündeltes vorliegt.

    "Schwarzbuch Strasse. Die subventionierte Transportlawine". Herausgegeben wurde der 292 Seiten starke Band von Andreas Reisinger und Else Rieger im Deuticke Verlag Wien. Er kostet 19 Euro und 90 Cent.