Dieses Buch ist beispiellos in der Dramatik und potentiellen Sprengkraft seines Inhalts und in der Fülle authentischer Dokumente aus dem innersten Zirkel der chinesischen Führung. Es enthält maßgebliche Auszüge aus nahezu eintausend streng geheimen Berichten und Protokollen über die dramatischen Ereignisse vom Mai/Juni 1989 am Platz des Himmlischen Friedens im Herzen Pekings. Das sensationelle Material wurde von einem hochrangigen Funktionär in den Westen geschmuggelt. Seine weltweite Publikation im Januar 2001 wird unabsehbare Auswirkungen auf die chinesische Innen- und Außenpolitik haben.
Was so reißerisch daher kommt, stimmt den Leser skeptisch und lässt ihn an der Seriosität der Dokumentation "Die Tianamen-Akte, Die Geheimdokumente der chinesischen Führung zum Massaker am Platz des Himmlischen Friedens" zweifeln. Andererseits gelten die amerikanischen Herausgeber, der Politologe Andrew J. Nathan sowie der Sinologe Perry Link, als hervorragende Vertreter ihrer Fächer. Unser Rezensent Sebastian Heilmann ist Direktor des Zentrums für Ostasien- und Pazifikstudien an der Universität Trier, und er fragt in seiner Besprechung auch nach der Authentizität der Dokumente bzw. danach, wem ihre Veröffentlichung nützen.
Die Fernsehbilder der chinesischen Demokratiebewegung von 1989 und ihrer militärischen Unterdrückung stehen noch heute vielen Menschen im Westen vor Augen. Damals protestierten chinesische Studenten zwei Monate lang friedlich gegen Korruption und politische Willkür im Herrschaftsapparat der Kommunistischen Partei. Große Teile der Pekinger Stadtbevölkerung schlossen sich den Protesten an. Die chinesische Regierung verhängte den Ausnahmezustand über Peking und ließ die Protestbewegung am 4. Juni schließlich mit Hilfe des Militärs blutig niederschlagen. Allein in Peking starben bei dem Armeeeinsatz mehrere hundert Menschen. Einige tausend wurden verwundet. Zehntausende wurden zum Ziel politischer Repressalien.
Von der chinesischen Führung werden die Ereignisse immer noch als "Rebellion" verurteilt, die auf den Sturz der Kommunistischen Partei zielte. Familienangehörige der Opfer des 4. Juni richten alljährlich Appelle an die Regierung, die Ereignisse neu zu bewerten: Die Regierung solle eingestehen, dass die Unterdrückung ein Fehler gewesen sei; sie müsse die damaligen Entscheidungsträger zur Verantwortung ziehen. Inoffiziell haben zwar einzelne Parteiführer angedeutet, dass der Militäreinsatz ein Fehler gewesen sein könnte. Aber offiziell wird die Niederschlagung der Proteste bis heute mit dem Argument gerechtfertigt:
"Hätte die Parteizentrale damals nicht jene entschiedenen Maßnahmen ergriffen, dann gäbe es heute keine Stabilität in China."
Viele der Missstände, die in der Bewegung von 1989 eine zentrale Rolle spielten, sind bis heute in China aktuell: die grassierende Korruption im Machtapparat, die Willkür vieler Funktionäre, der Mangel an politischen Beteiligungs- und Kontrollmöglichkeiten und die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich. Und immer wieder greift die chinesische Regierung zu gewaltsamen Maßnahmen, wenn sie sich durch unkontrollierte Proteste und Organisationen bedroht sieht.
Zwei angesehene amerikanische Chinaforscher, Andrew Nathan und Perry Link, haben nun eine Aufsehen erregende Sammlung von geheimen Dokumenten herausgegeben, mit denen die Entscheidungsvorgänge in der chinesischen Führung von 1989 offengelegt werden sollen. Bei den Dokumenten handelt es sich größtenteils um Gesprächsprotokolle aus dem Kreis der Parteispitze, teils auch um Geheimdienstberichte aus allen Teilen des Landes. Solche Dokumente sind bislang nur in seltenen Fällen an die westliche Öffentlichkeit gelangt. Wie kamen die Dokumente in die USA? Die Herausgeber schreiben, dass ein hochrangiger chinesischer Funktionär den Inhalt der Dokumente auf Disketten speicherte und in die Vereinigten Staaten schmuggelte. Nach intensiven Recherchen und Gesprächen mit diesem Funktionär kamen die Chinaforscher zu dem Schluss, dass die Dokumente mit großer Sicherheit authentisch sind.
Welche neuen Informationen enthält diese Sammlung von Geheimdokumenten? Insgesamt erfahren wir aus den Dokumenten überraschend wenig Neues. Der Verlauf der Protestbewegung und der politischen Entscheidungsvorgänge ist seit 1989 bereits in einer Vielzahl von Dokumentationen und Analysen nachgezeichnet worden. Die neu zugänglichen Geheimdokumente der "Tiananmen-Akte" bestätigen die bereits vorliegenden Deutungen in den grundsätzlichen Elementen: etwa dass die Parteiführung zeitweise tatsächlich gespalten war und dass die Entscheidung letztendlich durch Parteiveteranen getroffen wurde, die gar nicht mehr in den offiziellen Führungsgremien der Kommunistischen Partei vertreten waren. Insgesamt bekräftigt die "Tiananmen-Akte" das Urteil, dass Parteiführung und Studentenführer sich durch wechselseitige Kommunikationsblockaden und Fehleinschätzungen in eine Lage manövrierten, in der kein politischer Kompromiss mehr möglich war. Zu Recht spricht Andrew Nathan in seinem Vorwort von einem "Abgleiten in die Katastrophe".
Eine Gruppe von acht Revolutionsveteranen um Deng Xiaoping bildete 1989 gleichsam den "Ältestenrat" der Kommunistischen Partei Chinas und traf letztlich die Entscheidung über den Militäreinsatz gegen die Studenten. In westlichen Presseberichten wurden die Partei-Ältesten meist als verknöcherte, lebensferne Greise dargestellt. Die neuen Dokumente machen aber klar, dass die Parteiveteranen 1989 noch über eine bemerkenswerte politische Agilität verfügten und die Studentenproteste durchaus differenziert zu deuten versuchten. Die meisten Partei-Ältesten schreckten davor zurück, gewaltsam gegen die Demonstranten vorzugehen, und setzten sogar noch nach der Verhängung des Ausnahmezustandes darauf, dass man die Studenten zu einem friedlichen Rückzug bewegen könne. Nur vereinzelt gab es emotionale Ausbrüche, wie sie ein alter Armeegeneral gegen die Studenten vorbrachte:
"Diese verdammten Hunde! ... Jeder, der die Kommunistische Partei zu stürzen versucht, verdient den Tod und kein Begräbnis!"
Die Geheimdokumente bestätigen die persönliche Verantwortung, die Deng Xiaoping für die Entscheidung zur Niederschlagung der Bewegung trug. Bemerkenswert ist aber, wie widerwillig sich Deng Xiaoping in das politische Tagesgeschäft und in die heiklen Entscheidungen hineinziehen ließ. Er beklagte sich wiederholt, dass ihm die ganze Last der politischen Verantwortung aufgebürdet werde, weil sich die jüngere Führungsgeneration in der Kommunistischen Partei als handlungsunfähig erwiesen habe.
Der Ausnahmezustand wurde 1989 vom damaligen Ministerpräsidenten Li Peng ausgerufen. Li Peng wird seitdem in der chinesischen Bevölkerung und in den westlichen Medien als erbarmungsloser "Schlächter von Peking" geschmäht. Aus der "Tiananmen-Akte" geht hervor, dass Li Peng tatsächlich der einzige Parteiführer war, der die Studentenbewegung von Beginn an als tödliche Herausforderung für die Herrschaft der Kommunistischen Partei ansah und für eine rasche Unterdrückung eintrat. Li Pengs persönliche Rolle in dem Massaker aber stellt sich im Lichte der neuen Dokumente differenzierter dar. Andrew Nathan urteilt nüchtern:
"Den Dokumenten zufolge war Li Peng nicht direkt für irgendeinen blutigen Akt verantwortlich. Zu den Opfern kam es, trotz gegenteiliger Befehle, als unzureichend ausgebildete Soldaten außer Kontrolle gerieten."
Nach den Ereignissen wurde die chinesische Parteiführung umgebildet. Die "Tiananmen-Akte" enthält auch hierzu interessante neue Facetten. Die Partei-Ältesten waren sich nämlich trotz der schweren politischen Krise darin einig, "Hardlinern" wie Li Peng versöhnlichere und populärere Kandidaten als Gegengewicht an die Seite zu stellen. Das war die Chance für Jiang Zemin, der 1989 aus Shanghai kommend zum Generalsekretär der Kommunistischen Partei berufen wurde und es bis heute blieb. Deng Xiaoping machte auf mehreren hochrangigen Parteisitzungen klar:
"Die Politik von Reform und Öffnung darf sich nicht ändern."
In der Tat wurde Chinas Öffnung nach außen im Rückblick durch die Ereignisse von 1989 lediglich kurzzeitig unterbrochen.
Wie steht es nun aber um die Echtheit der in der "Tiananmen-Akte" präsentierten Geheimdokumente? Der Parteifunktionär, der die Dokumente aus China in die Vereinigten Staaten schmuggelte, hat ein Vorwort zur "Tiananmen-Akte" unter einem Pseudonym beigesteuert. In diesem Vorwort stellt er sich als Beauftragter des Reformflügels der Kommunistischen Partei dar. Er sei mit den Dokumenten ins Ausland gegangen, um die innerchinesische Debatte über politische Reformen von außen wieder anzustoßen. Ziel müsse es sein, ein "wahrhaft demokratisches System" in China zu errichten. Diese Erneuerung müsse aber aus der Kommunistischen Partei selbst kommen. Denn ein Kollaps der Partei wie in der ehemaligen Sowjetunion könne ganz China ins Chaos stürzen.
In solchen programmatischen Worten wird deutlich, dass die Veröffentlichung der Geheimdokumente eng mit politischen Interessen verbunden ist. Einerseits sollen offenbar mit Blick auf den nächsten Parteitag der Kommunistischen Partei Chinas im Jahr 2002 die "Hardliner" um Li Peng diskreditiert und aus Machtpositionen verdrängt werden. Andererseits werden durch die Dokumentensammlung in der westlichen Öffentlichkeit Hoffnungen genährt, dass eine Demokratisierung Chinas aus der Kommunistischen Partei heraus betrieben werden könne.
Die "Tiananmen-Akte" enthält keine konkreten Hinweise auf die Identität des chinesischen Funktionärs, der die Dokumente in die USA schmuggelte. Der Charakter der zusammengestellten Dokumente aber lässt den Schluss zu, dass es sich mindestens um den Sekretär eines an den Entscheidungsvorgängen von 1989 persönlich beteiligten Parteiveteranen handeln muss. Nur so ließe sich auch erklären, wie ein Zugriff auf Protokolle privater Gespräche zwischen Parteiführern überhaupt möglich war.
Aber wäre es etwa denkbar, dass es sich bei der "Tiananmen-Akte" um die virtuose Fälschung eines "Insiders" der chinesischen Politik handelt, der die chinesische und die amerikanische Öffentlichkeit manipulieren will? Zweifel an der Echtheit der "Tiananmen-Akte" sind schon dadurch begründet, dass kein einziges Originaldokument ins Ausland gelangte. Vielmehr brachte der chinesische Funktionär lediglich mehrere auf Diskette gespeicherte umfassende Textdateien in die USA mit. Fragwürdig erscheint, wie die unter strengstem Verschluss gehaltenen Politbüro-Protokolle ins Ausland gelangen konnten: Solche Dokumente können nämlich selbst von Spitzenfunktionären nur nach einem kollektiven Beschluss des Politbüros eingesehen werden.
Die Mehrzahl der westlichen Chinaforscher geht davon aus, dass der überwiegende Teil der Dokumente authentisch ist. Die politische Führung in Peking hingegen hat die "Tiananmen-Akte" erwartungsgemäß als Fälschung zurückgewiesen. Das inoffizielle Urteil chinesischer Parteihistoriker fiel differenzierter aus: Die Dokumente seien eine geschickt fabrizierte Mischung aus echten Parteidokumenten, im Ausland verbreiteten Gerüchten sowie selbst erfundenen Geschichten.
Nüchtern betrachtet, erscheint es wahrscheinlich, dass der anonyme chinesische Funktionär, der die "Tiananmen-Akte" in den Westen geschmuggelt hat, die Dokumente ausgewählt, gekürzt und vielleicht sogar bereinigt hat, um sie bestimmten Interessen in der aktuellen chinesischen Politik dienstbar zu machen. In keinem Falle handelt es sich bei der "Tiananmen-Akte" um eine politisch neutrale Sammlung historischer Dokumente. Diese neu zugänglichen Quellen müssen kritisch gelesen werden. Denn die historische Wahrheit über den 4. Juni 1989 wird sich nicht in einer Akte finden lassen, die von einem chinesischen Parteifunktionär mit eindeutig politischer Zielsetzung zusammengestellt worden ist.
Die von Andrew J. Nathan und Perry Link herausgegebene Dokumentation "Die Tiananmen-Akte, Die Geheimdokumente der chinesischen Führung zum Massaker am Platz des Himmlischen Friedens" ist im Berliner Propylären Verlag erschienen, umfasst 765 Seiten und kostet DM 69,90.
Was so reißerisch daher kommt, stimmt den Leser skeptisch und lässt ihn an der Seriosität der Dokumentation "Die Tianamen-Akte, Die Geheimdokumente der chinesischen Führung zum Massaker am Platz des Himmlischen Friedens" zweifeln. Andererseits gelten die amerikanischen Herausgeber, der Politologe Andrew J. Nathan sowie der Sinologe Perry Link, als hervorragende Vertreter ihrer Fächer. Unser Rezensent Sebastian Heilmann ist Direktor des Zentrums für Ostasien- und Pazifikstudien an der Universität Trier, und er fragt in seiner Besprechung auch nach der Authentizität der Dokumente bzw. danach, wem ihre Veröffentlichung nützen.
Die Fernsehbilder der chinesischen Demokratiebewegung von 1989 und ihrer militärischen Unterdrückung stehen noch heute vielen Menschen im Westen vor Augen. Damals protestierten chinesische Studenten zwei Monate lang friedlich gegen Korruption und politische Willkür im Herrschaftsapparat der Kommunistischen Partei. Große Teile der Pekinger Stadtbevölkerung schlossen sich den Protesten an. Die chinesische Regierung verhängte den Ausnahmezustand über Peking und ließ die Protestbewegung am 4. Juni schließlich mit Hilfe des Militärs blutig niederschlagen. Allein in Peking starben bei dem Armeeeinsatz mehrere hundert Menschen. Einige tausend wurden verwundet. Zehntausende wurden zum Ziel politischer Repressalien.
Von der chinesischen Führung werden die Ereignisse immer noch als "Rebellion" verurteilt, die auf den Sturz der Kommunistischen Partei zielte. Familienangehörige der Opfer des 4. Juni richten alljährlich Appelle an die Regierung, die Ereignisse neu zu bewerten: Die Regierung solle eingestehen, dass die Unterdrückung ein Fehler gewesen sei; sie müsse die damaligen Entscheidungsträger zur Verantwortung ziehen. Inoffiziell haben zwar einzelne Parteiführer angedeutet, dass der Militäreinsatz ein Fehler gewesen sein könnte. Aber offiziell wird die Niederschlagung der Proteste bis heute mit dem Argument gerechtfertigt:
"Hätte die Parteizentrale damals nicht jene entschiedenen Maßnahmen ergriffen, dann gäbe es heute keine Stabilität in China."
Viele der Missstände, die in der Bewegung von 1989 eine zentrale Rolle spielten, sind bis heute in China aktuell: die grassierende Korruption im Machtapparat, die Willkür vieler Funktionäre, der Mangel an politischen Beteiligungs- und Kontrollmöglichkeiten und die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich. Und immer wieder greift die chinesische Regierung zu gewaltsamen Maßnahmen, wenn sie sich durch unkontrollierte Proteste und Organisationen bedroht sieht.
Zwei angesehene amerikanische Chinaforscher, Andrew Nathan und Perry Link, haben nun eine Aufsehen erregende Sammlung von geheimen Dokumenten herausgegeben, mit denen die Entscheidungsvorgänge in der chinesischen Führung von 1989 offengelegt werden sollen. Bei den Dokumenten handelt es sich größtenteils um Gesprächsprotokolle aus dem Kreis der Parteispitze, teils auch um Geheimdienstberichte aus allen Teilen des Landes. Solche Dokumente sind bislang nur in seltenen Fällen an die westliche Öffentlichkeit gelangt. Wie kamen die Dokumente in die USA? Die Herausgeber schreiben, dass ein hochrangiger chinesischer Funktionär den Inhalt der Dokumente auf Disketten speicherte und in die Vereinigten Staaten schmuggelte. Nach intensiven Recherchen und Gesprächen mit diesem Funktionär kamen die Chinaforscher zu dem Schluss, dass die Dokumente mit großer Sicherheit authentisch sind.
Welche neuen Informationen enthält diese Sammlung von Geheimdokumenten? Insgesamt erfahren wir aus den Dokumenten überraschend wenig Neues. Der Verlauf der Protestbewegung und der politischen Entscheidungsvorgänge ist seit 1989 bereits in einer Vielzahl von Dokumentationen und Analysen nachgezeichnet worden. Die neu zugänglichen Geheimdokumente der "Tiananmen-Akte" bestätigen die bereits vorliegenden Deutungen in den grundsätzlichen Elementen: etwa dass die Parteiführung zeitweise tatsächlich gespalten war und dass die Entscheidung letztendlich durch Parteiveteranen getroffen wurde, die gar nicht mehr in den offiziellen Führungsgremien der Kommunistischen Partei vertreten waren. Insgesamt bekräftigt die "Tiananmen-Akte" das Urteil, dass Parteiführung und Studentenführer sich durch wechselseitige Kommunikationsblockaden und Fehleinschätzungen in eine Lage manövrierten, in der kein politischer Kompromiss mehr möglich war. Zu Recht spricht Andrew Nathan in seinem Vorwort von einem "Abgleiten in die Katastrophe".
Eine Gruppe von acht Revolutionsveteranen um Deng Xiaoping bildete 1989 gleichsam den "Ältestenrat" der Kommunistischen Partei Chinas und traf letztlich die Entscheidung über den Militäreinsatz gegen die Studenten. In westlichen Presseberichten wurden die Partei-Ältesten meist als verknöcherte, lebensferne Greise dargestellt. Die neuen Dokumente machen aber klar, dass die Parteiveteranen 1989 noch über eine bemerkenswerte politische Agilität verfügten und die Studentenproteste durchaus differenziert zu deuten versuchten. Die meisten Partei-Ältesten schreckten davor zurück, gewaltsam gegen die Demonstranten vorzugehen, und setzten sogar noch nach der Verhängung des Ausnahmezustandes darauf, dass man die Studenten zu einem friedlichen Rückzug bewegen könne. Nur vereinzelt gab es emotionale Ausbrüche, wie sie ein alter Armeegeneral gegen die Studenten vorbrachte:
"Diese verdammten Hunde! ... Jeder, der die Kommunistische Partei zu stürzen versucht, verdient den Tod und kein Begräbnis!"
Die Geheimdokumente bestätigen die persönliche Verantwortung, die Deng Xiaoping für die Entscheidung zur Niederschlagung der Bewegung trug. Bemerkenswert ist aber, wie widerwillig sich Deng Xiaoping in das politische Tagesgeschäft und in die heiklen Entscheidungen hineinziehen ließ. Er beklagte sich wiederholt, dass ihm die ganze Last der politischen Verantwortung aufgebürdet werde, weil sich die jüngere Führungsgeneration in der Kommunistischen Partei als handlungsunfähig erwiesen habe.
Der Ausnahmezustand wurde 1989 vom damaligen Ministerpräsidenten Li Peng ausgerufen. Li Peng wird seitdem in der chinesischen Bevölkerung und in den westlichen Medien als erbarmungsloser "Schlächter von Peking" geschmäht. Aus der "Tiananmen-Akte" geht hervor, dass Li Peng tatsächlich der einzige Parteiführer war, der die Studentenbewegung von Beginn an als tödliche Herausforderung für die Herrschaft der Kommunistischen Partei ansah und für eine rasche Unterdrückung eintrat. Li Pengs persönliche Rolle in dem Massaker aber stellt sich im Lichte der neuen Dokumente differenzierter dar. Andrew Nathan urteilt nüchtern:
"Den Dokumenten zufolge war Li Peng nicht direkt für irgendeinen blutigen Akt verantwortlich. Zu den Opfern kam es, trotz gegenteiliger Befehle, als unzureichend ausgebildete Soldaten außer Kontrolle gerieten."
Nach den Ereignissen wurde die chinesische Parteiführung umgebildet. Die "Tiananmen-Akte" enthält auch hierzu interessante neue Facetten. Die Partei-Ältesten waren sich nämlich trotz der schweren politischen Krise darin einig, "Hardlinern" wie Li Peng versöhnlichere und populärere Kandidaten als Gegengewicht an die Seite zu stellen. Das war die Chance für Jiang Zemin, der 1989 aus Shanghai kommend zum Generalsekretär der Kommunistischen Partei berufen wurde und es bis heute blieb. Deng Xiaoping machte auf mehreren hochrangigen Parteisitzungen klar:
"Die Politik von Reform und Öffnung darf sich nicht ändern."
In der Tat wurde Chinas Öffnung nach außen im Rückblick durch die Ereignisse von 1989 lediglich kurzzeitig unterbrochen.
Wie steht es nun aber um die Echtheit der in der "Tiananmen-Akte" präsentierten Geheimdokumente? Der Parteifunktionär, der die Dokumente aus China in die Vereinigten Staaten schmuggelte, hat ein Vorwort zur "Tiananmen-Akte" unter einem Pseudonym beigesteuert. In diesem Vorwort stellt er sich als Beauftragter des Reformflügels der Kommunistischen Partei dar. Er sei mit den Dokumenten ins Ausland gegangen, um die innerchinesische Debatte über politische Reformen von außen wieder anzustoßen. Ziel müsse es sein, ein "wahrhaft demokratisches System" in China zu errichten. Diese Erneuerung müsse aber aus der Kommunistischen Partei selbst kommen. Denn ein Kollaps der Partei wie in der ehemaligen Sowjetunion könne ganz China ins Chaos stürzen.
In solchen programmatischen Worten wird deutlich, dass die Veröffentlichung der Geheimdokumente eng mit politischen Interessen verbunden ist. Einerseits sollen offenbar mit Blick auf den nächsten Parteitag der Kommunistischen Partei Chinas im Jahr 2002 die "Hardliner" um Li Peng diskreditiert und aus Machtpositionen verdrängt werden. Andererseits werden durch die Dokumentensammlung in der westlichen Öffentlichkeit Hoffnungen genährt, dass eine Demokratisierung Chinas aus der Kommunistischen Partei heraus betrieben werden könne.
Die "Tiananmen-Akte" enthält keine konkreten Hinweise auf die Identität des chinesischen Funktionärs, der die Dokumente in die USA schmuggelte. Der Charakter der zusammengestellten Dokumente aber lässt den Schluss zu, dass es sich mindestens um den Sekretär eines an den Entscheidungsvorgängen von 1989 persönlich beteiligten Parteiveteranen handeln muss. Nur so ließe sich auch erklären, wie ein Zugriff auf Protokolle privater Gespräche zwischen Parteiführern überhaupt möglich war.
Aber wäre es etwa denkbar, dass es sich bei der "Tiananmen-Akte" um die virtuose Fälschung eines "Insiders" der chinesischen Politik handelt, der die chinesische und die amerikanische Öffentlichkeit manipulieren will? Zweifel an der Echtheit der "Tiananmen-Akte" sind schon dadurch begründet, dass kein einziges Originaldokument ins Ausland gelangte. Vielmehr brachte der chinesische Funktionär lediglich mehrere auf Diskette gespeicherte umfassende Textdateien in die USA mit. Fragwürdig erscheint, wie die unter strengstem Verschluss gehaltenen Politbüro-Protokolle ins Ausland gelangen konnten: Solche Dokumente können nämlich selbst von Spitzenfunktionären nur nach einem kollektiven Beschluss des Politbüros eingesehen werden.
Die Mehrzahl der westlichen Chinaforscher geht davon aus, dass der überwiegende Teil der Dokumente authentisch ist. Die politische Führung in Peking hingegen hat die "Tiananmen-Akte" erwartungsgemäß als Fälschung zurückgewiesen. Das inoffizielle Urteil chinesischer Parteihistoriker fiel differenzierter aus: Die Dokumente seien eine geschickt fabrizierte Mischung aus echten Parteidokumenten, im Ausland verbreiteten Gerüchten sowie selbst erfundenen Geschichten.
Nüchtern betrachtet, erscheint es wahrscheinlich, dass der anonyme chinesische Funktionär, der die "Tiananmen-Akte" in den Westen geschmuggelt hat, die Dokumente ausgewählt, gekürzt und vielleicht sogar bereinigt hat, um sie bestimmten Interessen in der aktuellen chinesischen Politik dienstbar zu machen. In keinem Falle handelt es sich bei der "Tiananmen-Akte" um eine politisch neutrale Sammlung historischer Dokumente. Diese neu zugänglichen Quellen müssen kritisch gelesen werden. Denn die historische Wahrheit über den 4. Juni 1989 wird sich nicht in einer Akte finden lassen, die von einem chinesischen Parteifunktionär mit eindeutig politischer Zielsetzung zusammengestellt worden ist.
Die von Andrew J. Nathan und Perry Link herausgegebene Dokumentation "Die Tiananmen-Akte, Die Geheimdokumente der chinesischen Führung zum Massaker am Platz des Himmlischen Friedens" ist im Berliner Propylären Verlag erschienen, umfasst 765 Seiten und kostet DM 69,90.