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Anekdotischer Überblick
Von Zäunen und Grenzen in der Kunst

Rund 60 Millionen Menschen sind weltweit auf der Flucht, so viele wie noch nie seit dem Zweiten Weltkrieg, gut 1,1 Millionen sind dieses Jahr schätzungsweise nach Deutschland gekommen. Für Künstler ist das Thema nicht neu, aber – zumindest in Europa - plötzlich wieder aktuell. Ein anekdotischer Blick auf das Gestern und Heute von Zäunen und Grenzen in Kunst und Popkultur.

Von Julian Ignatowitsch |
    Syrische Flüchtlinge gehen hintereinander auf einen Stacheldrahtzaun zu. Ein Mann schiebt eine Frau im Rollstuhl.
    Zäune sind in diesen Tagen der Fluchtströme auch in Europa wieder präsent. (Schaban Barjami)
    "It's not art, it's stupid"
    Ein scheinbar endloser Zaun, der heftige Kontroversen auslöste, in den USA vor gut 40 Jahren. Ist das Kunst - oder totaler Schwachsinn?
    Christos "Running Fence" war das: vierzig Kilometer lang, mitten durch Kalifornien, fünfeinhalb Meter hoch, und aus zweitausendfünfzig Stück Nylontuch zusammengeflickt. Ein Mammutprojekt des Mannes, der später den Berliner Reichstag verhüllen sollte.
    Christos: "The fence is not the work of art, the work of art is all-togetherness."
    Der Zaun sei nicht das Kunstwerk, erklärte der Künstler selbst, sondern das Gesamtbild, alles zusammen sei Kunst. Gemeint: Der Umweg von 17 öffentlichen Hearings und drei Gerichtsverhandlungen bis zur Bauerlaubnis; die private Finanzierung – zwei Millionen Dollar – durch einen Trust; dann der aufwendige Aufbau im kalifornischen Hinterland, tausende Studenten und Arbeitslose halfen mit; und nicht zuletzt Christos eigene Biografie als bulgarischer Emigrant im Exil, der erst kurze Zeit zuvor nach 17-jähriger Staatenlosigkeit die amerikanische Staatsbürgerschaft erhalten hatte.
    Und heute? Zäune sind in diesen Tagen der Fluchtströme auch in Europa wieder präsent. Im Osten Ungarns wird aktuell einer gebaut. Nein, kein Kunstprojekt!
    Grenzen – was ist damit?, fragt die Sängerin M.I.A. scheinbar naiv in ihrem neuen Musikvideo – und will provozieren. Während sie cool mit Latzhose und verspiegelter Sonnenbrille vor einem (hoch)haushohen Zaun posiert, versuchen tausende anonymer Figuren darüber zu klettern.
    Deine Freiheit, deine Werte, deine Macht – was ist damit?
    Direkte Ansprache, harte Kritik in Richtung des ach so aufgeklärten, westlichen Wohlstandsbürgers – wir kennen diese Bilder bereit. Da ist das Foto aus dem letzten Jahr, jetzt eine Ikone: Ein Zaun, der die spanische Exklave Melilla von Marokko trennt. Hier stehen zwei Golfer auf dem perfekt präparierten Green und dort stürzen sich Afrikaner verzweifelt ins Glück (?) nach Europa.
    José Palazón: "Han mort moltes persones travessant la tanca per trets de pilotes de goma."
    "Viele Menschensterben bei derÜberquerung dieses Zauns", sagt Fotograf José Palazón, der das Bild aufgenommen hat.
    Und noch so ein eindrucksvolles Beispiel: Kendell Geers Installationen aus Stacheldraht, Widerhaken und Glasscherben. Er stellte sogar einen ganzen Klingendrahtzaun aus, der Südafrikaner verarbeitete so die Apartheid.
    Der Zaun, in seiner physischen Erscheinung, in seiner ganzen exklusiven Brutalität ist freilich die direkteste, die plakativste Form einer Grenze – aber genau deshalb ist er in der Bildenden Kunst doch eher die Ausnahme.
    Das Plakative wie bei M.I.A., Palazón oder Geers hat stets etwas Anrüchiges. Plakativ ist auch der Pöbel, ist auch Pegida. Und deswegen sind viele Grenzdarstellungen aus dem Jahr 2015 subtiler.
    Kuratorin Verena Hein: "Dass es mehrere Bilder gibt, dass es immer mehrere Ebenen gibt, mehrere Meinungen. Und dass man auch viel erfahren kann, wenn man die Nebenwege betrachtet...."
    Museumsleiter Michael Buhrs: "Je nachdem von wo aus ich eine Grenze sehe, sehe ich sie als Barriere, als Hindernis, vielleicht auch als Herausforderung."
    Künstler und Kuratoren thematisieren Grenzen im übertragenen Sinn. In diesem Jahr zum Beispiel auf der Ausstellung Common Grounds oder dem Spielart-Festival in München: mit zu Sternenbildern idealisierten Fluchtrouten, mit gebrochenen Holzrahmen oder einem in der Mitte abgezäunten Handelscontainer.
    Künstlerin Katrin Ströbel: "Nicht diese Bilder zu liefern, die so leicht zu liefern wären: Der Ex-Drogendealer, der frisch abgeschobene marokkanische Migrant, und so weiter."
    In Friedrichshafen am Bodensee fließen die Grenzen bei den Filmarbeiten des Künstler-Duos Katrin Ströbel und Mohammed Laouli sogar: das Wasser, das Meer als der grausamste aller Zäune, auch das ein beliebtes Bild.
    Dass Zäune in unserer unmittelbaren Umgebung wieder sichtbarer werden, dürfte auch in Kunst, Pop und Kultur zu neuen Bildern führen.
    "Running Fence" von Christo sollte übrigens ursprünglich "Divide" heißen, ehe sich der Künstler dagegen entschied - zu negativ. Denn auch das ist die Kunst – und sollte es in Zukunft bei diesem Thema noch viel mehr sein: ein Mutmacher.