Sonntag, 05. Mai 2024

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Angela Merkels Freiheitsbegriff

"Mehr Freiheit Wagen": Das Diktum der Bundeskanzlerin bezieht sich nach Auffassung des Philosophen Wolfgang Kersting auf unterschiedliche Freiheitsbegriffe. Dabei spiele das Brandt'sche Motto "Mehr Demokratie wagen" ebenso eine Rolle wie Merkels Vergangenheit in der DDR und die erlebte Überwindung dieses von ihr als unfrei empfundenen Staates 1989.

Moderation: Karin Fischer | 01.12.2005
    Karin Fischer: Eine Regierungserklärung, da sind sich alle Kommentatoren einig, lässt nicht wirklich Spielräume offen für philosophische Erörterungen. Gleichzeitig werden jedes Mal dieselben Fragen gestellt: War das eine große Rede? Eine trockene? Eine unerwartete? Bundeskanzlerin Angela Merkel hat dazu ein Rezept gefunden, das ihr noch lange gute Dienste erweisen wird: Indem sie Erwartungshaltungen nämlich systematisch unterläuft, gibt es gerade dadurch ab und an den berühmten Aha-Effekt, der dann tatsächlich auch Wirkung zeigt. Gestern war es der Begriff "Freiheit", der so einen Aha-Effekt auslöste. Einerseits wegen des Rückgriffs auf Willy Brandts berühmtes Diktum "Mehr Demokratie wagen" und andererseits weil sie damit auf ihre Herkunft aus dem Osten und den sozusagen selbstgewählten Weg in die Freiheit der Bürgerinnen und Bürger der DDR anspielte. Frage an den Philosophen Wolfgang Kersting von der Universität Kiel: Was für ein Begriff von Freiheit war das, den Angela Merkel uns da in der Regierungserklärung vor Augen gestellt hat?

    Wolfgang Kersting: Ja im Grunde sind es ja drei zu unterscheidende Freiheitsbegriffe. Erst einmal der Freiheitsbegriff, der mit dem Brandt'schen Motto "Mehr Demokratie" verbunden ist. Zweitens der Freiheitsbegriff, auf den sie sich bezogen hat, als sie ihre eigene Kindheit und ihre Vergangenheit in der DDR ansprach. Und dann drittens dieser Freiheitsbegriff, der natürlich dann zu platzieren ist im Rahmen der gegenwärtigen Politik, des gegenwärtigen entwickelten Sozialstaats und eines immer weiter und enger zusammenrückenden Europas. Sicherlich wird Frau Merkel nicht gemeint haben, dass es insofern notwendig ist, mehr Freiheit zu wagen, als wir noch immer - sagen wir mal - stalinistische, diktatorische Restbestände hätten, die nun entsprechend durch die Politik zu beseitigen seien. Da ist mit 1989 all das Nötige getan worden. Und sicherlich wird sie auch nicht meinen, dass dieses "Mehr-Freiheit-Wagen" als Ergänzung des "Mehr-Demokratie-Wagen" eben diese Demokratisierungsfreiheit noch weiter fortsetzen sollte. Folglich muss man sich in die gegenwärtige Situation versetzen, sich umschauen und aus der - in der Tat - sehr trockenen, sehr nüchternen Rede die Hinweise herausgreifen, die sich vielleicht als - sagen wir mal - Interpretation anbieten, um diesen Freiheitsbegriff zu konturieren.

    Fischer: Sie sind ja nun als Vertreter der praktischen Philosophie auch Hermeneutiker und helfen uns bei derlei Interpretationen.

    Kersting: Fangen wir mal mit dem umfassenderen Kontext an: Beispielsweise erinnere ich mich, dass sie darauf hingewiesen hat, dass es nicht unbedingt notwendig ist, im Sinne einer vorauseilenden Regelungswut über die europäischen Normierungsauflagen noch hinauszureichen, noch hinauszugehen, sondern sie sprach - wenn ich mich recht erinnere - von einer Eins-zu-Eins-Umsetzung. Das heißt mit anderen Worten, der ohnehin schon durch die europäische Zusammenarbeit wachsende Bürokratiebedarf und damit die verbundene Freiheitseinschränkung muss nicht unnötig erhöht werden, sondern man muss mit Augenmaß und durchaus immer mit Blick auf die zu schützende Freiheit diese europäischen Auflagen dann in unsere eigene Gesetzgebung umsetzen.

    Fischer: Welche Rolle kann denn der Begriff der Freiheit Ihrer Ansicht nach heute in der Politik überhaupt spielen? Also kann man damit tatsächlich Eingriffe in den Sozialstaat legitimieren? Ist er tauglich als dieser Appell an mehr Selbstverantwortung oder ist er nur eine mehr historisch gefüllte Hülse?

    Kersting: Die einzige Möglichkeit, dieser Freiheit eine, diesem Freiheitsbegriff neue Bedeutung zuzuschustern, ist, meines Erachtens, ihn in den Kontext der staatlichen Aufgaben, der wuchernden staatlichen Aufgaben zu setzen. Und es ist jetzt nicht mehr die Freiheit durch den Staat, sondern es ist durchaus auch die Freiheit von dem Staat. Es ist allerdings auch die Freiheit, die ermöglicht wird durch den Sozialstaat. Und es ist wiederum die Freiheitsgefährdung, die bewirkt wird durch den Sozialstaat.

    Fischer: Und Sie sagen, Herr Kersting, dass Angela Merkel diesen Begriff der Freiheit in diesem gerade von Ihnen skizzierten Sinne gebraucht hat und ihn nicht etwa als positiv-assoziiert genommen hat, um ihn sozusagen flugs neoliberal umzustreichen?

    Kersting: Ich glaube schon, dass sie den Freiheitsbegriff im Sinne einer graduellen Minderung des staatlichen Einflusses auf das individuelle Leben verstanden hat. Aber gleichzeitig auch im Sinne einer Ermöglichung individueller Lebensführung durch entsprechende staatliche politische Maßnahmen. Was zum Beispiel könnte eben unfreier sein als arbeitslos zu sein, als nicht sich in die Lage versetzen zu können, mithilfe der eigenen Fähigkeiten den Ressourcen zu versorgen, die dann notwendig sind, um sich die Dinge zu kaufen, die man braucht?

    Fischer: Glauben Sie, dass von dieser Rede eine Art Signalwirkung auf die Stimmungslage in Deutschland ausgeht?

    Kersting: Dazu ist diese Rede rhetorisch zu glanzlos, zu nüchtern. Und von ihr weiter darüber hinausreichende Effekte zu erwarten, die letzten Endes zu einem Umdenken, gleichsam zu einem, zu mehr Optimismus, zu einem Abwerfen dieser nun immer wieder von uns ja selbst sowohl geliebten als auch kritisierten, etwas missmutigen Haltung führen würde, Derartiges von dieser Rede zu erwarten, das halte ich nun für geradezu - phantastisch.