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Angepasst an den Großstadt-Dschungel

Immer mehr Wildtiere zieht es in die Stadt. Sie haben sich mit der ständigen Anwesenheit des Menschen arrangiert, doch immer wieder kommt es zu Missverständnissen zwischen Mensch und Tier. Bernhard Kegel klärt auf.

Von Gisa Funck | 09.08.2013
    Sie sind längst unter uns. Und werden manchmal sogar schon zur Plage. Etwa die Wildschweine, Füchse und Krähen in Berlin. Oder die Flughunde mitten in Sydney. Oder auch die Bindenwarane in Bangkok, große Echsen im zentralen Lumphini-Park, die sich in Hotelpools und Ausflugsseen tummeln. Alles eigentlich scheue Wildtiere, die aber dauerhaft in Millionenstädten leben. Warum? Der Berliner Stadtökologe Bernhard Kegel erklärt das mit einem seit der Industrialisierung voranschreitenden Wandel der Metropolen:

    "Die Städte in der heutigen Form bestehen ja nicht nur aus dem Häuserdschungel. Städte von heute enthalten eben auch große Parks, Wälder, die mehr an der Peripherie der Stadt liegen, sogar Seen. Moore, eigentlich alle Formen von Lebensräumen, die eben durch die Expansion der Städte in die Gebiete der Städte hineingeraten sind. Es gibt weitläufige Gartenstädte mit sehr vielseitig bepflanzten Gärten und Vorgärten. Es gibt Friedhöfe, es gibt auch immer noch Brachflächen. All das zusammen bietet Schutz, bietet Nistplätze, bietet vor allen Dingen auch sehr viel Nahrung. Und dazu kommt dann noch das, was dem Menschen sozusagen vom Tellerrand fällt, die Brotkrummen, die wir da überreichlich zur Verfügung stellen, die eben gerade auch für Tiere wie Füchse oder Waschbären, von denen häufig die Rede ist, sehr interessant ist."

    Anders als manche Tierschützer aber glaubt Kegel nicht daran, dass die Wildtiere aus Not in unsere Städte kommen, weil ihr Lebensraum immer knapper wird.

    "Diese oft gehörte Darstellung, dass wir sie sozusagen durch die Monotonisierung unserer Agrarlandschaft, durch den Gebrauch von Pestiziden und so weiter also regelrecht in die Städte treiben, die ist sicherlich viel zu kurz gegriffen. Und trifft auch für die Arten, für das immer wieder erwähnt wird, nämlich auf Wildschweine und Füchse mit Sicherheit nicht zu. Füchse und Wildschweine sind heute auch in der Umgebung der Städte so häufig wie selten zuvor, und sie treten sich sozusagen gegenseitig auf die Füße. Und sie weichen auch eher in einen neuen Lebensraum 'Stadt' aus, als dass sie dorthin aus Not auswandern würden."

    Nach Kegels Ansicht sind es in der Regel gerade nicht die notleidenden Tierarten, die in die Städte auswandern, sondern jene, die auch schon auf dem Land besonders anpassungsfähig waren. Und das, glaubt er, sind letztlich immer noch sehr wenige:

    "Die überwiegende Mehrzahl, die erdrückende Mehrzahl der Tierarten der Welt hat keinen Platz in Städten bisher gefunden und wird vermutlich auch keinen finden. In der Stadt kommen die klar, die relativ 'bescheidene' Ansprüche in Anführungsstrichen stellen, die also Nisträume, Ruheräume für die Aufzucht ihrer Jungen brauchen - und deren Nahrungsanforderung in der Stadt überreichlich vorhanden ist. Denn das ist nicht so, dass die ihre Diät völlig umstellen. Beim Fuchs etwa, der war auch schon außerhalb der Städte ein Vegetarier, also der isst nicht nur Mäuse und Fleisch. Und Arten, die solche relativ flexiblen Ansprüche stellen, die kommen in der Stadt sehr gut zurecht."

    Tatsächlich ist der Anpassungsdruck an Tiere in der Stadt - trotz aller Parks und Grünflächen - enorm. Lärm, Verkehr, Abgase, spiegelndes Glas und nicht zuletzt natürlich die permanente Anwesenheit des Menschen: All das sind Stressfaktoren, die nur wahre Überlebenskünstler unter ihnen bewältigen. Und die zu erstaunlichen Verhaltensänderungen führen.

    Wildschweinmütter in Berlin etwa haben gelernt, ihre Jungen direkt an der Schnellstraße aufzuziehen. Füchse, eigentlich Einzelgänger, werden in der Stadt plötzlich zu Rudeltieren. Und vor allem Vögel trillern hier wegen des Autoverkehrs oft ganz anders als ihre ländlichen Artgenossen:

    "Eine sehr einfache, aber sehr hohen Energieaufwand erfordernde Strategie besteht darin, den Lärm eben einfach zu übertönen. Das ist hier in Berlin untersucht worden an Nachtigallen. Und der Rekordhalter schmetterte also seinen Gesang mit einundneunzig Dezibel. Das entspräche in etwa dem Geräuschpegel einer Haupt-Verkehrsstraße in zehn Meter Abstand. Das ist eine Methode, die Vögel verwenden, um dem Lärm aus dem Wege zu gehen. Eine andere wäre, etwa in den Zeiten zu singen in denen die Stadt ruhiger ist. Also sprich: nachts. Das wäre dann die Erklärung dafür, warum manche Vogelarten, die man eigentlich als tagesaktiv kennt, plötzlich nachts zu hören sind. Und die dritte, sehr verbreitete Methode ist, den Frequenzbereich des eigenen Gesangs etwa zu verschieben, in Richtung höherer Frequenzen und damit den tieferen Frequenzen der Stadt aus dem Wege zu gehen."

    "Tiere in der Stadt" ist vor allem deshalb eine höchst spannende Lektüre, weil der hauptberufliche Stadtökologe Bernhard Kegel sich darin keineswegs auf die Beschreibung einiger Tierarten und spektakulärer Fälle beschränkt. Stattdessen zeigt er die städtische Fauna als höchst vielschichtiges, komplexes Ökosystem, in dem Klima, Pflanzen, die vom Menschen erschaffene Umwelt und nicht zuletzt Schädlinge eine entscheidende Rolle fürs Überleben der Tiere spielen. Allein drei der zehn Kapitel hat der ehemalige Insektenforscher darum jenen Klein- und Kleinsttieren der Stadt gewidmet, die man ansonsten nur allzu gern ausblendet: nämlich Fliegen, Spinnen, Flöhen, Ameisen, Wanzen und Milben. Kurzum: all jenen Plagegeistern und Parasiten, die tatsächlich die größte Tiergruppe bilden –-und dazu noch die mit Abstand erfolgreichste bei der Eroberung der Städte. Die Lektüre ist von daher stellenweise nichts für schwache Nerven. Etwa dort, wo es unter der Überschrift "Ökosystem Bett" über Milben heißt:

    Machen sie sich keine Illusionen, dass es bei ihnen im Bett anders aussehen könnte. Von 36 in Hamburg untersuchten Matratzen waren ganze vier milbenfrei, was möglicherweise nur heißt, dass die Tiere dem Staubsauger der Forscher entkommen konnten. Auf Teppichen erreichte der Befall, bei geringeren Individuen-Zahlen, hundert Prozent. Überall auf der Welt ist die Staubfauna von ähnlicher Dimension und Zusammensetzung. Mehr als achtzig Prozent gehören zur Gattung der Hautfresser. Und theoretisch reicht bereits ein Gramm Schuppen aus, um 100.000 Milben durch den Tag zu bringen. Ja, die Milben tanzen uns buchstäblich auf der Nase herum. Manche von ihnen sind so winzig, dass sie unerkannt in den Poren unserer Gesichtshaut existieren können. Beliebte Aufenthaltsorte sind die Nasenwurzel, Augenlider und Gehörgänge, wo sie von den Sekreten der Talgdrüsen naschen.

    "Die Körper, beziehungsweise: die Kolonien von Tieren sind der drittgrößte Lebensraum auf dieser Erde, und die Evolution wäre ein sehr ineffektiver Prozess, wenn sie sich das nicht für viele ihrer Protagonisten zunutze machen würde."

    Jede Koloniebildung - also auch das Zusammenleben in Städten - bietet zwar Schutz vor äußeren Feinden. Sie hat aber stets den Preis des Parasiten- und Schädlingsbefalls. Das gilt nicht nur für Säugetiere und Vögel, sondern auch für den Menschen. Ganz egal, wie viel Tonnen Insektengift er auch versprühen mag. So lautet nur eine interessante Erkenntnis in diesem Buch. Damit beweist der Biologe und Chemiker Bernhard Kegel einmal mehr, wie gut er es als Autor versteht, aus Naturwissenschaft spannende Sachbuchliteratur zu machen, auch wenn er gelegentlich etwas abschweift. Doch das verzeiht man Kegel gern, weil sein Buch einem eine neue, ungewöhnliche Sicht auf die heutige Großstadt als Tier-Lebensraum eröffnet. Die wilde Natur, begreift man hier, liegt tatsächlich nur ein paar Schritte entfernt. Man muss nur aufmerksam genug hinschauen. Und sollte neuen Mitbewohnern wie den Füchsen, die sich zunehmend heimischer in unseren Großstädten fühlen, mit dem gebührenden Respekt begegnen:

    "Viele Menschen machen ja leider auch den Fehler, sie zu füttern. Das ist der beste Weg, um Konflikte mit diesen Tieren hervorzurufen. Denn sie verlieren ihre Scheu, ihre natürlich angeborene Angst. Sie fangen sogar in einzelnen Städten an zu betteln. Beißunfälle häufen sich, weil es zu Missverständnissen sozusagen zwischen Mensch und Fuchs kommt. Wir haben ja, wir Großstädter haben verlernt, mit Wildtieren zusammen zu leben. Und sie kommen dann gleich zu so einem Status wie eines halben Haustiers. Wenn man ihn eben regelmäßig antrifft, so einen Fuchs, dann wird der quasi zu so einer Persönlichkeit, die man begrüßt wie einen alten Bekannten. Und dem man dann gern mal ein Leckerli da präsentiert, aber man lockt sie damit immer näher zu den Menschen - und das führt über kurz oder lang unweigerlich zu Konflikten. Und sollte es noch einmal zu einer Tollwut-Epidemie kommen, dann sind Füchse viel näher an uns herangerückt als vorher und dann haben wir großen Anteil dran."

    Bernhard Kegel: Tiere in der Stadt. Eine Naturgeschichte.
    Dumont Verlag, Köln 2013, 477 Seiten, 22 Euro,