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Angeregt oder App-gelenkt?

Ob Wetter, Bahnfahrpläne oder Spiele: Für fast alles gibt es eine App - ein Mini-Programm für das Smartphone. Erhältlich sind auch gleich mehrere Apps, die Kindern das Lesen erleichtern sollen. Ob die Kleinen dadurch tatsächlich das geschriebene Wort dem Fernsehen und anderen multimedialen Angeboten vorziehen, ist ungewiss.

Von Marcela Drumm | 03.12.2012
    "Ich kann nicht sehen."

    "Doch, das kann jeder sehen. Jetzt fängt der an. Komm' mach..."

    Die Geschwister Lili und Jarla, drei und vier Jahre alt, sitzen am Küchentisch und sehen sich wie gebannt ein Pixi–Buch auf einem Tablet-Computer an. Eine sogenannte 'Kinder-Lese-App'. Mit den Fingerspitzen bestimmen sie, ob sie den Text, der zu den Bildern auf dem Bildschirm erscheint, lieber von der Stimme aus dem Computer vorgelesen haben möchten oder nicht. Einmal Antippen genügt. Auch die Bilder machen Geräusche:

    "Guck mal, da blubbern die..."

    Seen blubbern, Gegenstände lassen sich mit einer zarten Berührung wegzaubern oder in Bewegung bringen.

    Die Engländerin Louise Carleton-Gertsch berät deutsche Kinderbuch-Verlage zum Thema Lese-Apps. Was macht eine Lese-App im Gegensatz zum Buch aus?

    "Auf alle Fälle soll das App eine sinnvolle Ergänzung und Bereicherung des Buches sein. Es soll nicht nur das Buch eins zu eins wiedergeben. Die Kinder sollten auch die Möglichkeit haben, aktiv mitzumachen. Ob ich das ipad schüttele oder kippe, dass irgendwas passiert."

    Gerade darin sieht der Computerwissenschaftler und Kulturjournalist David Gelernter aber das Problem:

    Mit iSpielzeug spielen, wie er es nennt, sei so, als würde man ein Kinderlexikon durchblättern und sich nur die Bilder anschauen, ohne ein einziges Wort zu lesen. Das Buch hätte aber immerhin den Vorteil, dass es irgendwann langweilig wird.

    "Die Menschen sind immer nur begeistert, wenn neue Geräte herauskommen. Aber es wird selten gefragt, wie diese Technik den Charakter der Gesellschaft beeinflusst. Wenn Dante sein Fegefeuer heute neu schriebe, würden die Protagonisten mit iPhones herumlaufen, sie müssten mit Apps spielen und einander ständig anrufen, bis sie ihre Strafe verbüßt haben; sie würden nicht arbeiten, nicht ruhen, nichts schaffen, an das sie sich mit Freude oder Stolz erinnern."

    App-Expertin Louise Carleton-Gertsch gibt zu, dass Kinder-Lese-Apps noch in der Experimentierphase sind. Und dass weniger oft mehr sei. Viele Kinder-Lese-Apps erinnern bisher noch an ein Mittelding aus Computerspiel, Hörbuch, Spielfilm und Cartoon und sorgen in ihrer Fülle an Möglichkeiten ganz klar erst mal für große Kinderaugen.

    Ob mit digital aufgebrezelten Geschichten in einer App, vielleicht sogar die oft als computersüchtig verschrienen, vermeintlich, lesefaulen Jungs wieder ans Lesen gebracht werden, bleibt abzuwarten. Aus der Leseforschung ist jedenfalls bekannt: Ob Kinder Leser werden, entscheidet immer noch das Vorbild der Eltern. Wenn die nicht gerne lesen beziehungsweise vorlesen, nützt wohl auch die beste App nichts.