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Angespannte Lage

2002 wurde Osttimor ein unabhängiges Land, nach Jahrhunderten der Vernachlässigung durch die früheren portugiesischen Kolonial-Herren und anschließender blutiger Besatzung durch Indonesien. Doch zur Ruhe kam Osttimor, in dem rund 15 Völker völlig unterschiedlicher Herkunft zusammenleben, bis heute nicht. Selbst wenn alle Politiker ständig davon reden, die "nationale Aussöhnung" hat in Osttimor noch nicht stattgefunden, noch immer begegnen sich die Menschen mit Misstrauen, ja Hass. Da kann es auch mit dem 'Nationbuilding' trotz UN-Präsenz und Hilfe nicht richtig vorangehen. Osttimor fehlen noch immer die wichtigsten Infrastrukturen und ein funktionierender Staatsapparat. Obwohl das Land über Erdöl in der Timor-See verfügt, lebt der Großteil der Bevölkerung in bitterer Armut, denn es gibt keine Industrie, die Wirtschaft will nicht anspringen.

Von Jochen Faget |
    Vitor Alves sitzt auf einem klapprigen Stuhl unter dem Wellblechdach und blickt nachdenklich in den Regen. Im Hof steht ein alter Traktor, den will der 56-Jährige reparieren, wenn der tropische Wolkenbruch nachlässt. Auch während der Regenzeit kommt in Osttimor immer wieder die Sonne für ein paar Stunden durch. Vitor Alves hat die Hände in den Schoss gelegt, traurig blicken seine Augen aus dem faltenzerfurchten Gesicht. Irgendwann und irgendwie hat er die Hoffnung verloren. Der für einen Timorer eher stattliche Mann ist in sich zusammengesunken.

    "Die Leute sagen nicht, ob sie zufrieden sind, oder nicht. Es herrscht Grabesruhe. Das beunruhigt und besorgt mich. Man weiß nicht, was geschehen wird. Die Lage ist gespannt. Diese falsche Ruhe, so sagt mir meine Erfahrung, kann schon morgen in Ereignisse umschlagen, die noch schlimmer sind, als das, was bisher geschehen ist."

    Nach den missglückten Attentaten auf Staatschef und Friedensnobelpreisträger José Ramos Horta und den Ministerpräsidenten Xanana Gusmão im vergangenen Februar geht in Dili, der osttimoresischen Hauptstadt, alles seinen gewohnten Gang: Australische Militärhubschrauber überfliegen die Stadt, Jeeps der internationalen Polizeitruppe holpern über die zahllosen Schlaglöcher, Schützenpanzer der portugiesischen Nationalgarde, Teil des internationalen UN-Kontingents, bewachen ein Hotel.

    Die politische Dauerkrise wirkt sich auch auf das Wirtschaftsleben aus: Vor der Universität versuchen gleich sieben junge Männer den Passanten die 'Dili Weekly'-Zeitung aus der vergangenen Woche zu verkaufen. Nebenan sitzen apathisch Straßenhändler zwischen Obst, Gemüse und Plastikflaschen mit Benzin. Gleich hinter dem weißen Regierungspalast stehen - wie überall in der Stadt - Häuserruinen. Teils wurden die Gebäude 1999 von den abziehenden Indonesiern zerstört, teils bei den großen Unruhen vor zwei Jahren. Und niemand kann oder will sie wieder aufbauen.

    "Seit 2000 ist es immer schlechter geworden", sagt Vitor Alves in seinem Hinterhof. "Nach der Volksabstimmung für die Unabhängigkeit 1999 kam dann 2002 die erste Regierung, die schon große Fehler machte. Und so ging es weiter bis zu den Unruhen von 2006."

    Damals stand das junge Land am Rand des Bürgerkriegs. Ausgelöst wurde die Krise von ein paar hundert Soldaten, die sich diskriminiert fühlten. Weil sie aus 'loro mono', dem Westteil Osttimors stammten. Und weil ihre Chefs aus 'loro sae', dem Ostteil, sie nicht befördert und schikaniert hätten. Angeführt wurden sie von Alfredo Reinado, dem Adoptivsohn von Vitor Alves.

    Der alte Konflikt zwischen den Menschen im Osten und im Westen jedoch schwelt weiter. Die aus dem Westen hätten mit den indonesischen Besatzern kollaboriert, sagen die einen. Die aus dem Osten wollten die aus dem Westen unterdrücken, sagen die anderen. Osttimor ist weit davon entfernt, eine geeinte Nation zu sein.

    "Es ist tragisch, all das haben wir doch nicht gewollt. Zuerst die schwere Zeit der indonesischen Besatzung, und jetzt, da wir unabhängig sind, bringen wir uns immer noch um und verfolgen uns gegenseitig. Warum nur, wenn wir doch alle das Beste für unser Volk wollen? Das alles ist nicht richtig so und das macht mich traurig."

    Vitor Alves weiß, wovon er spricht: Er hat, wie viele seiner Generation, für die Unabhängigkeit Osttimors gekämpft. Vitor Alves wurde gefangen genommen und zum Tode verurteilt. Er konnte sich seine Begnadigung von einem korrupten Richter erkaufen - mit zwei gebrauchten Fotoapparaten. Danach wurde er sieben lange Jahre auf die Insel Atauro verbannt. Nach seiner Rückkehr half er - wie die meisten Timorer - den Widerstandskämpfern in den Bergen, wann immer er konnte:

    "Wir haben für die Logistik gesorgt, mit Unterstützung der Kirche. Wir haben alles mögliche zu unseren Freunden an der Front geschmuggelt: Reis, Streichhölzer, Batterien und auch Munition, wenn wir an welche herankamen. Irgendetwas konnten wir immer abzweigen. Und es war uns eine Freude, schließlich ging es um unsere Unabhängigkeit."

    Die hatten die Timorer formal am 20. Mai 2002 erlangt. Für einen sehr hohen Preis: Während der indonesischen Besatzung wurden mehr als 200.000 Menschen ermordet. Jede Familie in Osttimor hat Opfer aus dieser Zeit zu beklagen hat. Vitor Alves erinnert sich:

    "Auch ich war sehr froh, als wir unser altes Ziel, die Unabhängigkeit erreicht hatten. Aber viele meiner Freunde haben diesen Tag nicht erlebt. Ich hatte das Glück, ihn zu erleben und war darauf sehr stolz."

    Um so größer ist jetzt die Enttäuschung: Trotz Milliardenhilfe aus dem Ausland, trotz der Einnahmen vom Erdöl- und Erdgasverkauf aus der Timor-See, trotz tausender ausländischer Berater und trotz der UNO-Friedensmission, die vor kurzem um ein weiteres Jahr verlängert wurde: Es will einfach nicht vorangehen in Osttimor. Zehntausende Jugendliche haben keine Arbeit und sind schlecht ausgebildet. Im Landesinneren fehlt es an Strassen und höheren Schulen; nicht einmal Banken gibt es in den Distrikthauptstädten. 'Nichts ändert sich', meint Vitor Alves resigniert, während der Regen auf das Wellblechdach prasselt.

    "Wenn man die Entwicklungshilfe und die Erdöleinnahmen zusammenrechnet, kommt unglaublich viel Geld ins Land. Wir sind doch nur eine Million Osttimorer. Da versteh ich einfach nicht, warum das Volk immer noch im tiefsten Elend lebt. Ich versteh nicht, warum es so schwer sein soll, uns zu regieren. Wir sind ein einfaches, friedfertiges Volk, wollen einfach nur leben. Aber die Regierungen reden viel und tun wenig."

    Fast 80 Prozent der Hilfsgelder landen wieder auf ausländischen Konten, erklärt ein Mitarbeiter der Nichtregierungsorganisation La'o Hamutuk. Als Honorare für Fachleute oder Berater aus Europa, Amerika und Australien. Auch die Korruption nehme zu. Die Politiker sind überfordert.

    Zutiefst zerstritten sind sie auch noch: Der Regierungschef Xanana Gusmão etwa hasst den Oppositionsführer Mari Alkatiri. Dabei waren beide herausragende Persönlichkeiten des Widerstandes.

    Der Regen hat aufgehört, die finstere Wolkendecke ist aufgerissen. Am Strand weiter vorne spielen Kinder. Die Sonne scheint auf die Insel Atauro, deren Berge sich deutlich am Horizont abzeichnen. Die Insel, auf der der Widerstandskämpfer Vitor Alves sieben Jahre in der Verbannung lebte. Es gebe nur noch eine Hoffnung für Osttimor, versichert er:

    "Ich setzte jetzt all mein Vertrauen in den Präsidenten Ramos Horta. Ich kenne ihn gut, wir waren Schulkameraden. Wenn jemand etwas ändern kann, dann nur er. Ich habe mir schon überlegt, Osttimor zu verlassen. Aber ich werde bleiben und mit Ramos Horta für das Wohl unseres Landes arbeiten. Er kann sich ganz auf mich verlassen."