Laut wie selten waren zu Beginn der laufenden Theatersaison die Rufe nach den "Stücken zur Stunde" gewesen; immerhin war quasi Weltwirtschaftskrise, immer noch Krieg gegen den Terror, und obendrein hatten in Nordafrika gerade bewegte Massen ihre lokalen Machthaber von den Thronen geputscht. Groß war darum die Sehnsucht nach Gegenwart auf der Theaterbühne, und wer als Autorin und Autor ein Stück von ihr zu packen bekam, konnte mit Wohlwollen rechnen; auch Jan Neumann, dessen jüngstes Stück einen Konfliktherd erster Güte in die nähere Nachbarschaft zerrt, mit einem Titel wie ein Straßenschild: "Bagdad 3260 Kilometer".
Doch klugerweise hat sich Neumann nicht dazu verstiegen, arabisch-islamischen Alltag herbei zu fantasieren – vielmehr erlebt das hannoversche Publikum in knapp zwei Stunden den Angriff der wilden Fremde auf die heimische Gemütlichkeit. Ganz weit weg waren Bagdad und die Wirren der Nachkriegszeit dort bis zum Moment, da der Anruf mit der Schreckensbotschaft kam: dass eben dort in Bagdad der Vater von Samira entführt worden ist. Die ist Mitte 30, sie wuchs in Deutschland auf und kennt die Heimat des Vaters nur noch aus der Diashow. Nun organisiert sie das Lösegeld, und tatsächlich kommt Papa nach zwei Wochen frei.
Das ist der Plot, aber nicht die Story. Die handelt von all jenen, denen Samira auf der Suche nach Rettung für Papa begegnet: von den Müttern bei der nachgeburtlichen Gymnastik, in deren Kreis Samira der Anlauf ereilt; von den demonstrativ dummerhaften Polizisten, die sie als Erstes mit dem Fall befasst; vom quasi-irakischen Gemüsehändler an der Ecke, der zwar aus Berlin-Spandau stammt, aber Leute kennt, die Leute kennen mit Beziehung zum Irak, und von all den ziemlich durchgeknallten Typen, die der Gemüsemann als Helfer herbeischafft; die Geschichte handelt von Teppichhändlern und deren verschwiegenen Geschäftsmethoden; von toten Taxifahrern im Irak und sehr viel Einsamkeit in Deutschland.
Neumann kommt in diesem Panorama stets vom Hölzken aufs Stöcksken, er fabuliert ohne Rand und Band, lässt auch den dementen Vater des Polizisten nicht aus und nicht die Befindlichkeiten des Bänkers, der Samira gegen alle Regeln Kredit gewährt, aus Mitleid - und dafür womöglich gefeuert wird. Auch der Job von Samiras Gatte Sven ist einen Schlenker wert. Der ist Archäologe am Pergamonmuseum und restauriert gerade die berühmte Sammlung Oppenheim. Außerdem im Angebot: die atemlose Loverjagd des ukrainischen Au-pair-Mädchens bei Samira und Jens und die Beziehungsblockade des Teppichhändlers Herbert Conzen, der der Gutmensch ist im Stück und Samiras Lösegeld auf den Weg bringt – nach Hamburg, zu den anderen Teppichhändlern, aber nur um danach weiter nach München zu fahren, einmal quer durchs Land, und um dort ein Pornokino gleich beim Hauptbahnhof aufzusuchen: was für ein Ziel.
Wie aus Tausend und einer Nacht sind Neumanns Geschichten; und mit dem nur fünf Köpfe starken (sehr starken!) Ensemble in Hannover erzählt er sie mit Emphase und Sympathie.
Und als Regisseur gelingt Neumann das rare Kunststück, sich selber und den eigenen Text nur bedingt beim Wort zu nehmen – denn zwar mutet das Stück höchst dokumentarisch an, nicht nur weil es auf einem tatsächlichen Fall basiert, sondern dessen Fakten auch noch mit Datum und Uhrzeit versieht, so oft es irgend geht; gleichzeitig aber zeigt die Inszenierung quasi ausschließlich abstrakte, nicht wirkliche Bilder. Wie um das kleine, etwas angestrengte Schopenhauer-Zitat vom Beginn zu beglaubigen, das über den unfassbaren Willen und die frei vagabundierende Vorstellung: Niemand tut hier wirklich, was er sagt; die Stühle in Dorothee Curios Bühne hängen an Zügen unter der Decke, und im Zentrum steht schräg ein weißer Schrank, der alles ist, alles sein kann: Wohnung, Garderobe, Requisite; Leben und Raum.
In diesem Schrank lebt das Land, von dem Neumann erzählt. Von der Welt drum herum weiß das Land im Schrank nicht viel.
Doch klugerweise hat sich Neumann nicht dazu verstiegen, arabisch-islamischen Alltag herbei zu fantasieren – vielmehr erlebt das hannoversche Publikum in knapp zwei Stunden den Angriff der wilden Fremde auf die heimische Gemütlichkeit. Ganz weit weg waren Bagdad und die Wirren der Nachkriegszeit dort bis zum Moment, da der Anruf mit der Schreckensbotschaft kam: dass eben dort in Bagdad der Vater von Samira entführt worden ist. Die ist Mitte 30, sie wuchs in Deutschland auf und kennt die Heimat des Vaters nur noch aus der Diashow. Nun organisiert sie das Lösegeld, und tatsächlich kommt Papa nach zwei Wochen frei.
Das ist der Plot, aber nicht die Story. Die handelt von all jenen, denen Samira auf der Suche nach Rettung für Papa begegnet: von den Müttern bei der nachgeburtlichen Gymnastik, in deren Kreis Samira der Anlauf ereilt; von den demonstrativ dummerhaften Polizisten, die sie als Erstes mit dem Fall befasst; vom quasi-irakischen Gemüsehändler an der Ecke, der zwar aus Berlin-Spandau stammt, aber Leute kennt, die Leute kennen mit Beziehung zum Irak, und von all den ziemlich durchgeknallten Typen, die der Gemüsemann als Helfer herbeischafft; die Geschichte handelt von Teppichhändlern und deren verschwiegenen Geschäftsmethoden; von toten Taxifahrern im Irak und sehr viel Einsamkeit in Deutschland.
Neumann kommt in diesem Panorama stets vom Hölzken aufs Stöcksken, er fabuliert ohne Rand und Band, lässt auch den dementen Vater des Polizisten nicht aus und nicht die Befindlichkeiten des Bänkers, der Samira gegen alle Regeln Kredit gewährt, aus Mitleid - und dafür womöglich gefeuert wird. Auch der Job von Samiras Gatte Sven ist einen Schlenker wert. Der ist Archäologe am Pergamonmuseum und restauriert gerade die berühmte Sammlung Oppenheim. Außerdem im Angebot: die atemlose Loverjagd des ukrainischen Au-pair-Mädchens bei Samira und Jens und die Beziehungsblockade des Teppichhändlers Herbert Conzen, der der Gutmensch ist im Stück und Samiras Lösegeld auf den Weg bringt – nach Hamburg, zu den anderen Teppichhändlern, aber nur um danach weiter nach München zu fahren, einmal quer durchs Land, und um dort ein Pornokino gleich beim Hauptbahnhof aufzusuchen: was für ein Ziel.
Wie aus Tausend und einer Nacht sind Neumanns Geschichten; und mit dem nur fünf Köpfe starken (sehr starken!) Ensemble in Hannover erzählt er sie mit Emphase und Sympathie.
Und als Regisseur gelingt Neumann das rare Kunststück, sich selber und den eigenen Text nur bedingt beim Wort zu nehmen – denn zwar mutet das Stück höchst dokumentarisch an, nicht nur weil es auf einem tatsächlichen Fall basiert, sondern dessen Fakten auch noch mit Datum und Uhrzeit versieht, so oft es irgend geht; gleichzeitig aber zeigt die Inszenierung quasi ausschließlich abstrakte, nicht wirkliche Bilder. Wie um das kleine, etwas angestrengte Schopenhauer-Zitat vom Beginn zu beglaubigen, das über den unfassbaren Willen und die frei vagabundierende Vorstellung: Niemand tut hier wirklich, was er sagt; die Stühle in Dorothee Curios Bühne hängen an Zügen unter der Decke, und im Zentrum steht schräg ein weißer Schrank, der alles ist, alles sein kann: Wohnung, Garderobe, Requisite; Leben und Raum.
In diesem Schrank lebt das Land, von dem Neumann erzählt. Von der Welt drum herum weiß das Land im Schrank nicht viel.