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Angst unter falschem Namen

Nürnberg im Nazi-Deutschland: Ort der Rassengesetzgebung, Schauplatz der Judenvernichtung - von englischen Bomben besonders heftig zerstört. Hier, wo Schuld und Sühne zusammen kommen, spielt das Schicksal der Isolde G., deren Alltag ein Doppelleben ist, ständig begleitet von den Gefahren in einer Gesellschaft wechselseitiger Bespitzelung und Angst.

Von Martina Wehlte-Höschele | 28.05.2005
    Zum wievielten Mal sieht sich nun Isolde im Kino die Wochenschau an? Die Ausschnitte von den Nürnberger Prozessen, die Leichenberge in den Konzentrationslagern? Sich die grauenvolle Wahrheit des Holocaust geradezu zwanghaft immer und immer wieder zu vergegenwärtigen, ist für die junge Jüdin die einzige Möglichkeit, die Ermordung ihres Vaters und ihr eigenes Schicksal im Nazi-Deutschland zu erfassen und irgendwann einmal zu verarbeiten.

    Sieben Jahre lang hat sie unter falschem Namen in ihrer Heimatstadt Nürnberg gelebt, fern der Mutter, die 1938 nach Amerika emigriert war, aber auch getrennt vom Vater, dem ehemaligen Kulturredakteur des Nürnberger Tagblatts, der in seinem mit modernen Bildern ausgestatteten Haus in der Altstadt an einem Buch schrieb.

    Die Lage war für die Juden zunehmend gefährlich geworden, so dass Dr. Grünzweig die zwölfjährige Tochter seiner lebensklugen Cousine Sarah Goldstein anvertraute, die als Veronika Lenz beim Einwohnermeldeamt arbeitete. Wie dünn aber das Eis war, auf dem sich während des Nationalsozialismus der Alltag mit einer doppelten Identität abspielte, zeigt Günther Bentele eindrucksvoll in seinem neuen Jugendroman "Die zwei Leben der Isolde G".

    Nicht von ungefähr hat der Autor Nürnberg als Schauplatz des Geschehens gewählt. Isoldes Vater und später auch ihr Freund Walter beschwören mit den Namen von Albrecht Dürer, Peter Vischer, Willibald Pirckheimer, Hans Sachs und zahlreichen anderen, die hier ihre Wirkungsstätte hatten, ein schöpferisches Potential und eine geistige Tradition, die im besten Sinne als das Altdeutsche gelten kann, das die NS-Ideologie dann völkisch verengt und für ihre Rassenlehre missbraucht hat. Der Autor:

    " Nürnberg war ja im Mittelalter ein europäisches Kulturzentrum, aber es war natürlich dann im Dritten Reich missbraucht - die Reichsparteitage, die Nürnberger Rassengesetze, später dann die Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse: da fokussiert sich für mich fast die ganze deutsche Geschichte in dieser einen Stadt in besonderer Weise; und das war natürlich schon auch ausschlaggebend, dass ich gerade Nürnberg rausgesucht habe für diesen Roman. "

    Und noch ein wichtiger Aspekt hat den Ausschlag für Nürnberg gegeben. Die Verklammerung von Schuld und Sühne, die hier offenbar wird:

    " Einerseits ist Nürnberg durch die dort erlassene Rassengesetzgebung natürlich ganz besonders verbunden mit der Vernichtung der Juden im Dritten Reich, und andererseits ist Nürnberg in besonderem Ausmaß zerstört worden durch Bomben und beides hängt natürlich unmittelbar zusammen. "

    514 Lancaster-Bomben waren von Großbritannien aus am 2. Januar 1945 in Richtung Nürnberg mit dem Einsatzbefehl gestartet, "clearly the most inflammable part has to be selected as the aiming point", wie der Autor zitiert, also mit dem erklärten Ziel die Holzhäuser der Altstadt in Brand zu setzen. 1800 Menschen fanden in nur dreiundfünfzig Minuten den Tod.

    Diese historischen Fakten werden zu erschütternden Bildern, wenn Isolde auf der Suche nach ihrem Freund Walter gegen Ende des Buches wie versteinert durch die Trümmerfelder geht. Welche ungeheure Steigerung ist Günther Bentele gelungen von der Schilderung eines Bombenangriffs, den Isolde im Juni 1943 in einem Bunker erlebt, über den Feuersturm, den die Engländer zwei Monate später als Rache für Coventry in Hamburg entfachten, bis zum Inferno von Nürnberg.

    Dass Isolde – zart und scheu, aber ebenso willensstark und diszipliniert – alle Gefahren in einer Gesellschaft wechselseitiger Bespitzelung und Angst übersteht, verdankt sie hauptsächlich ihrer Tante:

    " Veronika Lenz ist eine eher heitere Frau, wie es ja ihr Name auch assoziieren soll. Veronika verkörpert für mich den Lebenswillen, sie ist die praktische Frau, die weiß, was notwendig ist zum Überleben, das würde Isolde allein nicht schaffen. "

    Einen ebenso sprechenden Namen hat der Gestapo-Mann Wolf, ein selbstsüchtiger Mensch, der seinen Interessen alles opfert, der mit den Wölfen heult und selbst zum Wolf wird.

    " Im Dritten Reich ist 'Wolf' eine besondere Bezeichnung: Wolfsschanze – und der Name Wolf taucht immer wieder im Zusammenhang mit Hitler auf. Das war mir schon recht, dass der Bezug Wolf hier so den Dunstkreis des Dritten Reichs verkörpert. "

    Er ist der Typus eines Niemand, der instinktsicher seinen persönlichen Vorteil wittert und ohne moralische Bedenken die Chance nutzt. Bentele hat ihm mit sicherer Hand den Kontur jener Sorte von Menschen gegeben, auf die sich das Regime stützen konnte.

    Der richtige Riecher gepaart mit vollkommener Skrupellosigkeit macht aus dem großen Nazi dann den Kriegsgewinnler. Sein Gegenentwurf ist der Jude Dr. Sebastian Goldzweig. Oder hätte man genau genommen nicht sagen müssen der evangelische Nicht-Arier? Womit ein Schlaglicht auf die ganze Abstrusität der damaligen Rassenideologie fiele. Wie dem auch sei, die Figur ist mit Bedacht gewählt. Günther Bentele:

    " Typisch zu sein schien mir für das Judentum der ersten Hälfte des 20 Jahrhunderts noch vor dem Dritten Reich oder auch in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts eine sehr starke deutschnationale Bewegung. Der Anteil zum Beispiel an Kriegsfreiwilligen im Ersten Weltkrieg, an kriegsfreiwilligen Juden und auch an Kriegsauszeichnungen für Juden mit dem Eisernen Kreuz war weit überdurchschnittlich groß, was man heute meistens auch nicht weiß. Also diese Leute fühlten sich ganz als Deutsche, hatten sich eingesetzt für Deutschland, und so einen Juden wollte ich zeigen, der sich hier identifiziert, der die deutsche Kultur kennt, sie erforscht, der sie liebt; seine ganze Liebe hängt an diesem alten Nürnberg, an dem alten Haus, das er sich restauriert hat, und es ist für ihn nicht denkbar, dass er weggeht, es ist aber für ihn auch nicht denkbar, dass er weg muss. "

    Die Verknüpfung von Opfer- und Täterschicksal wird beispielhaft deutlich an den – eigentlich – zwei Heldinnen des Romans Isolde Grünzweig, beziehungsweise Bauer, und Hildegard Wolf, Tochter des stellvertretenden Gestapo-Chefs und ehemalige Klassenkameradin. Hildegard, das blonde Mädel mit den Kulleraugen, das dem Führer einst einen Blumenstrauß überreichen durfte, wird zur BDM-Gruppenleiterin und um dem Vater zu imponieren zur Denunziantin. Aber ein Wandel tritt ein:

    " Hildegard entwickelt sich in diesem Roman. Ich meine, das Schicksal ihres Bruders hat daran großen Anteil, dass ihr Weltbild ins Wanken gerät, als ihr Bruder vermisst ist. Sie merkt, der Endsieg wird ausbleiben, dieser Krieg geht verloren. Und da wird sie jetzt empfänglich, alles was ich über die Isolde Grünzweig denke und jemals gedacht habe, das kann einfach nicht sein ".

    Ihr Schlüsselerlebnis hat sie, als sie Isolde eines Abends heimlich verfolgt und beobachtet, wie diese einen Stein an ihrem Elternhaus küsst, in den der Vater eine jüdische Segenskapsel eingelassen hatte.

    " Ab diesem Moment geht sie ganz langsam hinüber auf eine andere Seite und sieht die Dinge anders, beginnt sehen zu lernen. Mir ist es eben auch wichtig in einem Jugendbuch, dass die Jugendlichen Beispiele haben fürs Sehen lernen und das wäre so ein Beispiel. "

    Für Isolde setzt der Erkenntnisprozess ihrer Widersacherin freilich zu spät ein. Selbst Hildegards belastende Aussage im Prozess gegen den Vater 1945 kann keinen gerechten Schuldspruch mehr herbeiführen und ist lediglich Ausdruck der eigenen Läuterung.

    Sehr viel Mühe hat sich der Autor mit der Frau des Nazi-Emporkömmlings Wolf gegeben. Sie begleitet die Karriere ihres Mannes vom arbeitslosen Schlosser zum SA-Mann, der gerade noch rechtzeitig – durch Verrat – zur SS wechselt und schließlich stellvertretender Gestapo-Chef wird. Der Autor:

    " Sie profitiert von der Partei, sie profitiert vom Erfolg ihres Mannes und sie profitiert vom Krieg. "

    Geradezu mit Häme sagt sie kurz vor ihrem Selbstmord, Nürnberg werde untergehen, und es freue sie sogar. Diese Frau, die ihrem Mann nie widerspricht sondern höchstens nervös ihre Dauerwelle betatscht, ist auf keiner Seite des Buches sympathisch oder gar emanzipiert. Es sieht zwar auf den ersten Blick so aus, als würde sie durch den Verlust ihres Sohnes den Irrwitz des Krieges und des ganzen Regimes erkennen, als würde sie sich jetzt emanzipieren, doch in Wirklichkeit zerstört sie sich.

    " Ich wollte zeigen, wie Menschen, die sich auf so etwas einlassen wie das Dritte Reich sich von innen heraus zerstören, wie die von innen heraus zerfallen. "

    Günther Bentele hat sich inspirieren lassen von der Erinnerung seiner Generation an die Ruinenlandschaften, die jahrelang in Stuttgart, Pforzheim, Heilbronn oder wohin man fuhr, das Bild der Städte prägten. Er hat akribisch recherchiert, hat Zeitzeugen zur Alltagspraxis und ihrem damals beklemmenden Lebensgefühl befragt. Er hat sich in die Zeit des Nationalsozialismus hineingespürt und sie äußerst spannend lebendig werden lassen. Die Einzelschicksale, die er entworfen hat, lassen ein kaum zu entwirrendes Geflecht von Abhängigkeiten und Nöten erkennen, das den Nachgeborenen ein allzu leichtfertiges Urteil verbietet.


    Günther Bentele: Die zwei Leben der Isolde G. Stuttgart / Wien (Thienemann) 2004. 352 S., Preis: 18,- €.