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Angst vor der Einberufung

Wer irgendwie kann, kauft sich frei, um dem Wehrdienst in der russischen Armee zu entgehen. Der Wehrdienst ist der Albtraum eines jeden jungen Mannes in Russland. Immer wieder gibt es Berichte über Folter und Gewalt innerhalb der Kasernenmauern. Nun ist die Dauer des Wehrdienstes auf ein Jahr halbiert worden. Doch Menschenrechtsorganisationen warnen, auch zwölf Monate Dienst in Russlands Armee reichten völlig aus, um bleibende Schäden zu hinterlassen. Erik Albrecht berichtet.

    "Komitee der Soldatenmütter, guten Tag."

    Im Büro des Moskauer "Komitees der Soldatenmütter" steht das Telefon nur selten still. Unzählige Male am Tag rufen besorgte Mütter oder Ehefrauen an. Sie suchen Hilfe gegen eine Armee, in der die Rekruten selbst in Friedenszeiten Leben und Gesundheit riskieren. Allein 2006 starben nach Angaben der russischen Justiz knapp 800 Soldaten im Dienst. Das Komitee der Soldatenmütter schätzt die Zahl der Toten dagegen höher. Ihren Berechnungen nach kommen 2000 Soldaten ums Leben, 50.000 werden Jahr für Jahr verletzt - mal durch Unfälle an oft veraltetem Gerät, meist aber durch Drangsalierung und Folter unter den Rekruten selbst.

    Hunderttausende würden Opfer der Willkür ihrer älteren Kameraden, berichtet die Nichtregierungsorganisation Human Rights Watch. Der Wehrdienst zerstöre Jahr für Jahr die Zukunftschancen zehntausender junger Männer in Russland, meint Ludmila Jarilina, Vize-Präsidentin des Komitees:

    "Die meisten kommen heute krank aus der Armee zurück. Nicht weil sie irgendwelche Infektionen haben, sondern psychische Probleme. Sie fangen an zu trinken, die Gesellschaft braucht sie nicht mehr, sie sind nervös. Sie haben in der Armee eben zu viel gesehen."

    Berüchtigt ist vor allem die Folter unter Rekruten. Dedowschtschina, Großvätertum, heißt das in Russland. Dabei quälen ältere Wehrpflichtige oder Berufssoldaten die Neuankömmlinge. Immer wieder berichten russische Medien über Fälle, in denen Rekruten danach im Koma liegen oder ganze Gliedmaße verlieren. Die Militärstaatsanwaltschaft registrierte allein 2006 knapp 140.000 Straftaten innerhalb der Armee.

    Deshalb drückt sich in Russland vor dem Wehrdienst, wer kann. Studenten schreiben sich pro forma zum Doktorstudium ein, um nicht eingezogen zu werden. Viele andere besorgen sich ein ärztliches Attest oder kaufen sich frei. Für die Militärs wird die Angst vor der Armee so zum guten Geschäft. Etwa 3800 Euro kostet es derzeit in Moskau, die Wehrbescheinigung bei der zuständigen Kommission einfach unter der Hand zu kaufen. Trotzdem lohne sich die Investition, sagt Ludmila Jarilina:

    "Wenn du das Geld hast, kauf lieber die Bescheinigung, statt in eine solche Armee zu gehen. Doch wir vom Komitee der Soldatenmütter sind nicht gegen die Streitkräfte. Wir wollen, dass die Armee gesund ist. Dass der Soldat da gerne hingeht und mit erhobenem Haupt wieder zurückkommt."

    Bis heute hänge der Zustand der jeweiligen Kaserne vom Vorgesetzten ab. Dabei geht die Armeeführung mittlerweile selbst verstärkt gegen die berüchtigte Dedowschtschina, die Folter unter Rekruten, vor. So soll jede Kaserne per Video überwacht werden. Das Verteidigungsministerium hat zudem allen Rekruten den Besitz von Mobiltelefonen erlaubt, damit im Notfall Hilfe gerufen werden kann.

    Die Halbierung des Wehrdienstes auf ein Jahr sei ein Schritt in die richtige Richtung, so Jarilina. Doch damit seien nicht alle Probleme gelöst:

    "Schon früher, als man noch zwei oder anderthalb Jahre dienen musste, haben alle in Wirklichkeit auf den Datschen ihrer Offiziere gearbeitet. Und nicht nur auf den Datschen, sondern auch in Fabriken."

    Lakaiendienst statt Dienst am Vaterland. Den Lohn für die Arbeit der Rekruten in den Fabriken erhalten in der Regel die Offiziere. Auch deshalb ist der Armeedienst in Russland berüchtigt, die Zahl der Freiwilligen nahe Null.

    In diesem Sommer allerdings keimte kurzfristig das Gerücht auf, der Wehrdienst werde wieder auf zwei Jahre und acht Monate angehoben - und so stieg die Zahl der Freiwilligen plötzlich an, erzählt Sergej Samojlow: Auch der 19-jährige war versucht, sich jetzt schon zu melden, entschied sich dann aber doch dafür, seine Ausbildung zum Automechaniker abzuschließen. Ein paar seiner Klassenkameraden dagegen sind im Sommer zur Armee gegangen, vor dem Krieg in Georgien. Doch Sergej schrecken die Kampfeinsätze nicht:

    "In Konfliktgebiete können sie dich nicht schicken. Wenn es noch mal einen Konflikt wie mit Georgien und Abchasien gibt, gehen dort nur Berufssoldaten hin und keine Wehrpflichtigen."

    Doch der russische Generalstab musste nach dem Georgienkrieg eingestehen, dass trotz Verbotes auch Wehrpflichtige eingesetzt worden seien. Und auch das Komitee der Soldatenmütter prangert immer wieder Verstöße des Militärs gegen seine eigenen Statuten an. Selbst viele Offiziere machten sich über den Zustand der russischen Armee keine Illusionen, meint Ludmilia Jarilina:

    "Ich frage: Haben Sie keine Kinder? Klar, habe ich Kinder, sagt er. Und manchmal frage ich den Offizier: Geben Sie ihre Kinder in die Armee? Niemals, sagt er. Das sagt doch alles."