15 Grad minus zeigt das Thermometer an diesem Morgen. Doch Hanne Voll und ihrer Freundin Eilif Furu sind die arktischen Temperaturen gerade recht. Die Frauen wollen baden. Entschlossen stapfen sie durch den tiefen Schnee der westlich von Tromsö gelegenen Telegrafenbucht.
"Du bekommst einen Energiekick! Wegen des Golfstroms hat das Wasser gut drei Grad. Wir tauchen einmal kurz unter. Dann laufen wir an Land und wickeln uns in warme Wollkleidung ein. So machen das viele Leute im Winter."
Von den Bergen weht es eisig herunter. Im Wasser quietschen die Frauen vor Vergnügen. Das allwöchentliche Bad im eiskalten Meer ist das beste Mittel gegen den Winterblues, versichert Eilif Furu, nachdem sie den Fluten entstiegen ist.
"In den dunklen Monaten zieht es uns Norweger hinaus in die Natur. Doch jetzt im März ist das Schlimmste bereits überstanden: Die Sonne kehrt zurück. Und mir gefallen diese starken Kontraste. Hier oben im Norden hat jede Jahreszeit ihren ganz eigenen Charme."
Tromsö ist eine pulsierende Metropole am Rande der bewohnbaren Welt. 400 Kilometer nördlich des Polarkreises liegt die Stadt wie eine Insel im Eismeer, umgeben von schneebedeckten Granitfelsen. Auf den spiegelglatten Straßen bewegt man sich am Besten im Gänsemarsch. So lassen sich blaue Flecken vermeiden. Im Eisregen wirken die Gedanken an die globale Erwärmung weit hergeholt. Doch die Zeichen des drohenden Unheils sind gerade in der Arktis überdeutlich, sagt Gunn Sissel Jaklin. Die Norwegerin, Anfang 40, ist Sprecherin des Polarinstituts in Tromsö:
"Wir können heute mit absoluter Sicherheit sagen, dass wir es mit einem raschen Abschmelzen des Polareises zu tun haben. Das Material, das der UN-Klimapanel vorgebracht hat, zeigt mit großer Deutlichkeit, dass die Erwärmung so verläuft, wie es die Forscher beschrieben haben. Und wir sehen auch, dass sich die Arktis doppelt so schnell erwärmt wie im globalen Mittel. Natürlich gab es zu allen Zeiten Temperaturschwankungen und natürliche Variationen. Doch die vom Menschen verursachte Erderwärmung kommt noch hinzu und bewirkt, dass wir mit einer deutlichen Zunahme von extremen Wetterphänomenen rechnen müssen."
Für die Wissenschaftler des Polarinstituts ist der Klimawandel längst keine Theorie mehr: Sie beobachten, wie jedes Frühjahr die Eisschmelze früher einsetzt und die offene See in jedem Herbst später zufriert. Sie sehen Eisbären, die auf Futtersuche in die Fenster ihrer Polarstationen auf Spitzbergen spähen, und Rentiere, die auf blankem Eis nach Flechten kratzen. Sie wissen, dass die Fischer immer öfter Makrelen aus ihren Netzen pulen. Der Raubfisch ist aus dem Süden eingewandert. In den nächsten Wochen wird eine Flotte von Satelliten, Schiffen und Tauchbooten zum Einsatz kommen, um die gewaltigste Veränderung auf unserem Planeten seit dem Aussterben der Dinosaurier zu dokumentieren. Ihre Forschungsprojekte unter anderem zum Polarklima, zur Vernetzung der Ozeanströme und zur Verbreitung von Umweltgiften werden die Wissenschaftler auch auf das norwegische Archipel um Spitzbergen sowie in die eisigen Gestade der Antarktis führen.
"Viele Forschungsprojekte greifen ineinander: So werden wir tief tauchende Robben mit Sensoren ausstatten. Davon erwarten wir uns nicht nur Aufschlüsse über ihre Lebensweise sondern auch ozeanographische Informationen. Über den Salzgehalt der Meere zum Beispiel. Das sind Messdaten, die für Klimaforscher sehr wichtig sind. Wir können also die verschiedenen Fachbereiche kombinieren und somit mehr aus dem Datenmaterial herausholen."
Das Polarumweltzentrum des Instituts ist eine Stahl- und Glaskonstruktion am Hafen. Durch die breiten Panoramafenster schweift der Blick über den Fjord. Drinnen führen luftige Korridore durch das Gebäude. In den verglasten Büros laufen moderne Computer mit Flachbildschirmen. An den Wänden: Tabellen mit Messreihen, Karten, Satellitenbilder. In staubreinen Labors beugen sich Forscher über ihre bei den Feldeinsätzen gesammelten Proben. Der Geophysiker Sebastian Gerland untersucht Meereis, das sich an der Oberfläche bildet und mit der transpolaren Drift über den arktischen Ozean treibt.
"Was man im Moment deutlich sehen kann, das ist ein Rückgang der Meereisausbreitung in der Arktis über die ganze Arktis gesehen seit dem Ende der 70er Jahre. Für uns ist eines der wichtigen Ziele, herauszufinden, wie das Meereis im Klimasystem funktioniert, wie viel Sonnenlicht das Meereis reflektiert und wie sich dieses Reflektionsvermögen über die Zeit verändert und welche Parameter des Eises wichtig sind für dieses Reflektionsvermögen. Eine Sache ist, wie dick der Schnee ist, der auf dem Meereis liegt. Wichtig ist auch, wie groß die Schneekörner und Schneekristalle sind. Dann messen wir auch, wie dick das Eis ist, wie es wächst und wie es schmilzt."
Die eisigen Sedimente der Arktis lesen sich wie ein Archiv des jüngsten Klimawandels. Auch das kurzlebige Meereis liefert wichtige Daten für computersimulierte Verlaufsmodelle. Sebastian Gerland ist raue Witterung gewöhnt. Mit dem Motorschlitten ist er unterwegs, auf Skiern und im Schlauchboot.
"Es gibt sehr viel, was am Eis faszinierend ist. Ein Aspekt ist vielleicht die ständige Veränderung, die das Eis erfährt. Das Eis ist im Prinzip jeden Tag etwas anders. Und es bewegt sich. Es sieht sehr schön aus, aber es ist eben die Dynamik des Eises, die Relevanz für das Klima und auch die Bedeutung des Eises für Menschen und als Lebensraum für Tiere."
Seine Vorliebe für treibende Eisschollen teilt der Forscher mit fünf munteren Bartrobben, die im Polaria-Museum von Tromsö gerade eine Meute von Kleinkindern in ihren Bann ziehen. Espen Refter kümmert sich liebevoll um seine molligen Schützlinge, die von der Insel Spitzbergen stammen.
"Bartrobben sind sehr verschmust und viel ruhiger als andere Robbenarten, nicht so ausgeprägte Jäger. Aber es sind auch sehr starke Persönlichkeiten. Für uns sind diese Tiere die besten Botschafter der Arktis. Und die Kinder können sie hier ganz aus der Nähe erleben."
Der Kindergarten aus dem Nachbarort zieht weiter durchs Aquarium. Muscheln, Mollusken, Krebse und anderes Seegetier gibt es zu bestaunen. Ein Lachs wird gesichtet und die mächtige Königskrabbe - ein Monster aus der Barentssee.
Auf den Nachwuchs kommt es an: Mit zahlreichen Projekten an Schulen und Universitäten wollen die Veranstalter des internationalen Polarjahres weltweit das Interesse an Umwelt und Klima wecken. Polarforschung ist teuer und logistisch aufwändig. Die Erwartungen der Wissenschafter zielen auf die in Aussicht gestellten Mittel sowie neue Formen der Zusammenarbeit. Am Polarjahr werden sich 60 Nationen mit neuester Technik und vielen klugen Köpfen beteiligen.
Tromsö lässt den Winter leuchten: 10.000 Studenten bevölkern die nördlichste Universitätsstadt der Welt und machen die Nacht zum Tage. Die Literaturstudentin Katinka sitzt im angesagten Club Driv auf einer Sofaecke unter mächtigen Holzbalken, den Laptop auf den Knien, das Bierglas vor der Nase.
"Mich hat es aus Kristiansand in Südnorwegen hierher in die Arktis verschlagen. Ich hatte keine Ahnung, worauf ich mich da einlasse. Tromsö, das war weit weg im Norden: Nordlicht und Finsternis. Das hat mich fasziniert. Und es gefällt mir, denn für junge Leute ist hier oben erstaunlich viel los: Es gibt Ausstellungen und Konzerte und Kneipen wie diese, wo ich lesen und an meiner Seminararbeit schreiben kann."
Während Katinka in die Tasten greift, schlagen nebenan im Versammlungslokal die Emotionen hoch: In Tromsö wird leidenschaftlich diskutiert, ob sich die Stadt als Austragungsort für die Olympischen Winterspiele im Jahr 2018 bewerben soll. Die Befürworter erhoffen sich zusätzliche Gelder aus dem fernen Oslo für Straßen, öffentliche Gebäude und Infrastruktur. Die Gegner fürchten Umweltschäden und den finanziellen Ruin der Eismeermetropole. Geir Seljeseth ist Redakteur der Zeitung "Nordlys", dem einflussreichsten Blatt im hohen Norden:
"Wenn hier jemand was behauptet, dann gibt es immer einen, der das Gegenteil vertritt. Hitzige Debatten haben bei uns in Tromsö eine lange Tradition. Dabei haben wir gute Chancen, denn wir können mit einer Kombination aus Meer, Himmel und Bergen wuchern. Das gibt es so nirgendwo anders auf der Welt. Unsere Träume und Ambitionen sind viel größer als sie uns eigentlich zustehen würden. Und das liegt an den pfiffigen Bewohnern hier.""
Als "Pforte zum Eismeer" begründete Tromsö früh seinen guten Ruf als blühendes Handelszentrum. Die Stadtrechte reichen bis ins späte 18. Jahrhundert zurück. Im Hafen stapelten sich Robbenfelle, Fässer mit Tran und die Harpunen der Walfänger. Tromsö machte Schlagzeilen mit legendären Polarexpeditionen ins ewige Eis. Fritjof Nansen, Roald Amundsen, Thor Heyerdahl: Die Ahnengalerie norwegischer Abenteurer und Entdecker kann sich sehen lassen, weiß der Historiker Torbjörn Trulssen:
"Norwegen ist erst seit 100 Jahren selbstständig. 1905 lösten wir uns von Schweden und setzten auf unseren eigenen König. Für die junge Nation war es von größter Bedeutung, sich mit der Eroberung der Polargebiete einen Namen zu machen. Das war die treibende Kraft, als unser Nationalheld Fritjof Nansen um die Jahrhundertwende zu seinen Expeditionen zum Nordpol aufbrach. Allerdings setzten die Leute damals noch ihr Leben aufs Spiel. Die wussten nie, ob sie zurückkommen würden, brachen in gewisser Weise alle Brücken hinter sich ab. Waren die Vorbereitungen unzureichend, dann war oft auch das ganze Unternehmen vom Unglück verfolgt."
Die alte Zollstation am Hafen birgt heute das üppig dekorierte Polarmuseum. Alte Petroleumlampen und Navigationsinstrumente, verblichene Fotos und ausgestopfte Eisbären künden von ausgedehnten Jagdzügen auf die Pelztiere der Arktis.
"Dies hier ist die einzige erhaltene Jagdhütte von der Insel Spitzbergen. Hier sehen wir, wie spartanisch die Einrichtung war: zwei Schlafkojen, ein paar Schemel. Die Hütte wurde aus Treibholz gezimmert, in der Mitte ein großer Ofen. Ohne den konnten sie bei 30 oder 40 Grad minus im Winter nicht überleben. Auch die Eisbären waren eine ständige Gefahr."
Viele Exponate erinnern an den tragischen Helden der Stadt: Roald Amundsen war der erste Mensch, der den Südpol erreichte. Im Juni 1928 brach er in Tromsö zu einer Rettungsaktion für den Italiener Umberto Nobile in die Arktis auf. Der Erzrivale kam am Ende mit dem Leben davon, doch Amundsen blieb verschollen. Vor fünf Jahren tauchten Überreste seines Flugboots in der Barentssee auf.
Draußen im Hafen schiebt sich die Fähre "Finnmark" an die Kaimauer. Ihre Passagiere reisen bequemer als die Pioniere von einst. Die Hurtigrute ist bis heute die Nabelschnur der abgelegenen Küstenstädte. Auf ihrer Fahrt zum Nordkap wagen frierende Besucher den Landgang, rutschen über die Storgatan und steuern zielgerichtet auf eines der empfohlenen Fischlokale zu. Im Sommer lockt Tromsö mit seinen Festivals und nächtlichen Konzerten in der berühmten Eismeerkathedrale, die mit ihren spitzen Giebeln an Felsen und Gletscherspalten erinnert.
Doch im Winter erfüllt die weit gereisten Besucher eine andere Sehnsucht: Nigel Jordan und Mark Wesley zittern seit einer ganzen Weile in der kalten Polarnacht, um den Schleiertanz eines Nordlichts zu bestaunen:
"Ich glaube, das war ein Nordlicht! Erst war es gar nicht da, dann tauchte es leuchtend grün auf und nun ist es verschwunden. Offenkundig sind wir am richtigen Ort. Denn wegen der Nordlichter sind wir den ganzen Weg von London hier heraufgekommen. Und morgen werden wir mit dem Hundegespann in die Tundra fahren, mit den Saami Kaffee trinken und uns die Rentiere anschauen."
Es sind Stippvisiten in einer sich dramatisch wandelnden Welt. Doch nicht alle blicken der eisfreien Zukunft nur mit Sorge entgegen. Eine kleine Ewigkeit lang lag der Kosmos der Polarmeere unter einer undurchdringlichen Eisdecke. Mit Tauchbooten können die Forscher nun in die Tiefe reisen und auch die Schätze am Meeresgrund ins Visier nehmen. Die Ozeanographin Jolynn Carrol ist Forschungsleiterin der Consultingfirma Akvaplan niva, die Konzepte zur umweltgerechten Nutzung von Aquakulturen und Meeren entwickelt. Die Nord-Ost-Passage könnte in einigen Jahren im Sommer eisfrei sein, prophezeit Carrol. Die Schiffspassage von Hamburg nach China wäre plötzlich nur noch halb so weit.
"Niemand kann in seine Kristallkugel blicken und die Zukunft vorhersagen. Der Bedarf an künftigen Energiequellen wird weiter zunehmen. Es gibt große Unsicherheiten, wo diese Energie herkommen soll. Dazu kommt der Klimawandel, der uns den Zugang zu ganz neuen Bereichen ermöglicht, an die wir früher nicht gedacht haben. Es wird sehr viel Geld in die Entwicklung neuer Fördertechnologien gesteckt, aber auch in die Erforschung der denkbaren Auswirkungen der Gasförderung auf die empfindlichen Ökosysteme der Arktis."
Die Norweger sind stolz auf ihre guten Erfahrungen mit komplizierten Offshore-Projekten in der Barentssee. Doch im großen Energiepoker mischen auch die Russen mit. An der russischen Eismeerküste wachsen Fördertürme, Rohrlianen und Pipelines empor. Das Nomadenvolk der Nemets fürchtet um das Weideland seiner Rentiere. Der Geologe Winfried Dallmann will die Auswirkungen des Petrobooms auf die Lebensgrundlagen der Urvölker untersuchen.
"Diese Völker sehen ihre Existenz bedroht, und zugleich werden ihnen alle Informationen vorenthalten, die sie bräuchten, um sich zu verteidigen. Es werden Trassen für den Lastverkehr geschlagen und Rohrleitungen für Öl und Gas gezogen. Die können die Rentiere auf ihren Wanderungen nicht mehr kreuzen. Wer aber sein ganzes Leben als Nomade verbracht hat, der kann nicht einfach aufs Stadtleben umschalten, ohne seiner Kultur ganz und gar fremd zu werden."
Norweger und Russen mögen über Fangquoten und Bodenschätze streiten, doch die Zusammenarbeit der ungleichen Nachbarn in der Arktis hat eine lange Tradition. In den Gewässern um Svalbard lieferten sich die Walfänger noch im 18. Jahrhundert blutige Schlachten. Inzwischen steht die Inselgruppe um Spitzbergen unter norwegischer Verwaltung. Einträglich beuten die Partner die reichen Kohleflöze aus und betreiben in der Bucht von Ny-Alesund eine Forschungsstation.
Das Archipel nah am Nordpol ist ein Wundergarten der Geologie: Auf engstem Raum sind alle Gesteinsarten der Erdgeschichte konzentriert. Im Norden treibt vor der Hauptinsel das ganze Jahr über Packeis, ein Großteil der Landfläche ist von Eis bedeckt.
Spitzbergen ist der Beweis, dass der Planet Erde auch unter extremen Bedingungen Leben hervorbringt, sagt Olaf Storö. Der Maler und Musiker aus dem Süden Norwegens hat sich das Ende der Welt für seine künstlerischen Streifzüge ausgesucht. Einen Großteil des Jahres verbringt er in seinem Atelier in Longerbyen, der winzigen Hauptstadt der Inseln. Zur Feier des Polarjahres zeigt der weltflüchtige Künstler in Tromsö seine jüngsten Gemälde und Lithographien.
"In der Arktis ist der Mensch ganz klein. Du musst die Demut lernen. Wenn Du nicht die richtigen Schuhe hast oder eine Mütze, die den Wind abhält, dann kann das böse ausgehen. Wir haben vier Monate Mitternachtssonne, aber auch vier Monate Finsternis. Im Dunkeln ziehst Du Dich in Deine eigene Seele zurück. Da ist ein Gedanke, der immer klarer wird. Das ist vielleicht schwer zu verstehen, aber für mich ist es absolut logisch."
Olaf Storö hat die Statur eines Bären, trägt Jeans und einen schneeweißen Norweger-Pulli. Ein buntes Stirnband bändigt die blonde Mähne. Auf seinen Bildern leuchtet das blaue Licht der Arktis. Winzige Gestalten stolpern durch die eisige Ödnis. Die Konturen lösen sich auf.
"Diese Lithographie zeigt einen Eisbären: ein mildes Wesen, aber man sollte ihm nicht zu nahe kommen. Weil das Eis verschwindet, kommt der Bär an Land, und es gibt mehr Begegnungen mit ihm als früher. Ein satter Eisbär ist harmlos, aber ein hungriger Eisbär ist gefährlich. Wie wird es für ihn weitergehen? Wenn Sie mich fragen, ich glaube nicht so recht an all diese Weltuntergangsvisionen. Wir alle werden uns anpassen müssen, aber das Leben wird weitergehen."
"Du bekommst einen Energiekick! Wegen des Golfstroms hat das Wasser gut drei Grad. Wir tauchen einmal kurz unter. Dann laufen wir an Land und wickeln uns in warme Wollkleidung ein. So machen das viele Leute im Winter."
Von den Bergen weht es eisig herunter. Im Wasser quietschen die Frauen vor Vergnügen. Das allwöchentliche Bad im eiskalten Meer ist das beste Mittel gegen den Winterblues, versichert Eilif Furu, nachdem sie den Fluten entstiegen ist.
"In den dunklen Monaten zieht es uns Norweger hinaus in die Natur. Doch jetzt im März ist das Schlimmste bereits überstanden: Die Sonne kehrt zurück. Und mir gefallen diese starken Kontraste. Hier oben im Norden hat jede Jahreszeit ihren ganz eigenen Charme."
Tromsö ist eine pulsierende Metropole am Rande der bewohnbaren Welt. 400 Kilometer nördlich des Polarkreises liegt die Stadt wie eine Insel im Eismeer, umgeben von schneebedeckten Granitfelsen. Auf den spiegelglatten Straßen bewegt man sich am Besten im Gänsemarsch. So lassen sich blaue Flecken vermeiden. Im Eisregen wirken die Gedanken an die globale Erwärmung weit hergeholt. Doch die Zeichen des drohenden Unheils sind gerade in der Arktis überdeutlich, sagt Gunn Sissel Jaklin. Die Norwegerin, Anfang 40, ist Sprecherin des Polarinstituts in Tromsö:
"Wir können heute mit absoluter Sicherheit sagen, dass wir es mit einem raschen Abschmelzen des Polareises zu tun haben. Das Material, das der UN-Klimapanel vorgebracht hat, zeigt mit großer Deutlichkeit, dass die Erwärmung so verläuft, wie es die Forscher beschrieben haben. Und wir sehen auch, dass sich die Arktis doppelt so schnell erwärmt wie im globalen Mittel. Natürlich gab es zu allen Zeiten Temperaturschwankungen und natürliche Variationen. Doch die vom Menschen verursachte Erderwärmung kommt noch hinzu und bewirkt, dass wir mit einer deutlichen Zunahme von extremen Wetterphänomenen rechnen müssen."
Für die Wissenschaftler des Polarinstituts ist der Klimawandel längst keine Theorie mehr: Sie beobachten, wie jedes Frühjahr die Eisschmelze früher einsetzt und die offene See in jedem Herbst später zufriert. Sie sehen Eisbären, die auf Futtersuche in die Fenster ihrer Polarstationen auf Spitzbergen spähen, und Rentiere, die auf blankem Eis nach Flechten kratzen. Sie wissen, dass die Fischer immer öfter Makrelen aus ihren Netzen pulen. Der Raubfisch ist aus dem Süden eingewandert. In den nächsten Wochen wird eine Flotte von Satelliten, Schiffen und Tauchbooten zum Einsatz kommen, um die gewaltigste Veränderung auf unserem Planeten seit dem Aussterben der Dinosaurier zu dokumentieren. Ihre Forschungsprojekte unter anderem zum Polarklima, zur Vernetzung der Ozeanströme und zur Verbreitung von Umweltgiften werden die Wissenschaftler auch auf das norwegische Archipel um Spitzbergen sowie in die eisigen Gestade der Antarktis führen.
"Viele Forschungsprojekte greifen ineinander: So werden wir tief tauchende Robben mit Sensoren ausstatten. Davon erwarten wir uns nicht nur Aufschlüsse über ihre Lebensweise sondern auch ozeanographische Informationen. Über den Salzgehalt der Meere zum Beispiel. Das sind Messdaten, die für Klimaforscher sehr wichtig sind. Wir können also die verschiedenen Fachbereiche kombinieren und somit mehr aus dem Datenmaterial herausholen."
Das Polarumweltzentrum des Instituts ist eine Stahl- und Glaskonstruktion am Hafen. Durch die breiten Panoramafenster schweift der Blick über den Fjord. Drinnen führen luftige Korridore durch das Gebäude. In den verglasten Büros laufen moderne Computer mit Flachbildschirmen. An den Wänden: Tabellen mit Messreihen, Karten, Satellitenbilder. In staubreinen Labors beugen sich Forscher über ihre bei den Feldeinsätzen gesammelten Proben. Der Geophysiker Sebastian Gerland untersucht Meereis, das sich an der Oberfläche bildet und mit der transpolaren Drift über den arktischen Ozean treibt.
"Was man im Moment deutlich sehen kann, das ist ein Rückgang der Meereisausbreitung in der Arktis über die ganze Arktis gesehen seit dem Ende der 70er Jahre. Für uns ist eines der wichtigen Ziele, herauszufinden, wie das Meereis im Klimasystem funktioniert, wie viel Sonnenlicht das Meereis reflektiert und wie sich dieses Reflektionsvermögen über die Zeit verändert und welche Parameter des Eises wichtig sind für dieses Reflektionsvermögen. Eine Sache ist, wie dick der Schnee ist, der auf dem Meereis liegt. Wichtig ist auch, wie groß die Schneekörner und Schneekristalle sind. Dann messen wir auch, wie dick das Eis ist, wie es wächst und wie es schmilzt."
Die eisigen Sedimente der Arktis lesen sich wie ein Archiv des jüngsten Klimawandels. Auch das kurzlebige Meereis liefert wichtige Daten für computersimulierte Verlaufsmodelle. Sebastian Gerland ist raue Witterung gewöhnt. Mit dem Motorschlitten ist er unterwegs, auf Skiern und im Schlauchboot.
"Es gibt sehr viel, was am Eis faszinierend ist. Ein Aspekt ist vielleicht die ständige Veränderung, die das Eis erfährt. Das Eis ist im Prinzip jeden Tag etwas anders. Und es bewegt sich. Es sieht sehr schön aus, aber es ist eben die Dynamik des Eises, die Relevanz für das Klima und auch die Bedeutung des Eises für Menschen und als Lebensraum für Tiere."
Seine Vorliebe für treibende Eisschollen teilt der Forscher mit fünf munteren Bartrobben, die im Polaria-Museum von Tromsö gerade eine Meute von Kleinkindern in ihren Bann ziehen. Espen Refter kümmert sich liebevoll um seine molligen Schützlinge, die von der Insel Spitzbergen stammen.
"Bartrobben sind sehr verschmust und viel ruhiger als andere Robbenarten, nicht so ausgeprägte Jäger. Aber es sind auch sehr starke Persönlichkeiten. Für uns sind diese Tiere die besten Botschafter der Arktis. Und die Kinder können sie hier ganz aus der Nähe erleben."
Der Kindergarten aus dem Nachbarort zieht weiter durchs Aquarium. Muscheln, Mollusken, Krebse und anderes Seegetier gibt es zu bestaunen. Ein Lachs wird gesichtet und die mächtige Königskrabbe - ein Monster aus der Barentssee.
Auf den Nachwuchs kommt es an: Mit zahlreichen Projekten an Schulen und Universitäten wollen die Veranstalter des internationalen Polarjahres weltweit das Interesse an Umwelt und Klima wecken. Polarforschung ist teuer und logistisch aufwändig. Die Erwartungen der Wissenschafter zielen auf die in Aussicht gestellten Mittel sowie neue Formen der Zusammenarbeit. Am Polarjahr werden sich 60 Nationen mit neuester Technik und vielen klugen Köpfen beteiligen.
Tromsö lässt den Winter leuchten: 10.000 Studenten bevölkern die nördlichste Universitätsstadt der Welt und machen die Nacht zum Tage. Die Literaturstudentin Katinka sitzt im angesagten Club Driv auf einer Sofaecke unter mächtigen Holzbalken, den Laptop auf den Knien, das Bierglas vor der Nase.
"Mich hat es aus Kristiansand in Südnorwegen hierher in die Arktis verschlagen. Ich hatte keine Ahnung, worauf ich mich da einlasse. Tromsö, das war weit weg im Norden: Nordlicht und Finsternis. Das hat mich fasziniert. Und es gefällt mir, denn für junge Leute ist hier oben erstaunlich viel los: Es gibt Ausstellungen und Konzerte und Kneipen wie diese, wo ich lesen und an meiner Seminararbeit schreiben kann."
Während Katinka in die Tasten greift, schlagen nebenan im Versammlungslokal die Emotionen hoch: In Tromsö wird leidenschaftlich diskutiert, ob sich die Stadt als Austragungsort für die Olympischen Winterspiele im Jahr 2018 bewerben soll. Die Befürworter erhoffen sich zusätzliche Gelder aus dem fernen Oslo für Straßen, öffentliche Gebäude und Infrastruktur. Die Gegner fürchten Umweltschäden und den finanziellen Ruin der Eismeermetropole. Geir Seljeseth ist Redakteur der Zeitung "Nordlys", dem einflussreichsten Blatt im hohen Norden:
"Wenn hier jemand was behauptet, dann gibt es immer einen, der das Gegenteil vertritt. Hitzige Debatten haben bei uns in Tromsö eine lange Tradition. Dabei haben wir gute Chancen, denn wir können mit einer Kombination aus Meer, Himmel und Bergen wuchern. Das gibt es so nirgendwo anders auf der Welt. Unsere Träume und Ambitionen sind viel größer als sie uns eigentlich zustehen würden. Und das liegt an den pfiffigen Bewohnern hier.""
Als "Pforte zum Eismeer" begründete Tromsö früh seinen guten Ruf als blühendes Handelszentrum. Die Stadtrechte reichen bis ins späte 18. Jahrhundert zurück. Im Hafen stapelten sich Robbenfelle, Fässer mit Tran und die Harpunen der Walfänger. Tromsö machte Schlagzeilen mit legendären Polarexpeditionen ins ewige Eis. Fritjof Nansen, Roald Amundsen, Thor Heyerdahl: Die Ahnengalerie norwegischer Abenteurer und Entdecker kann sich sehen lassen, weiß der Historiker Torbjörn Trulssen:
"Norwegen ist erst seit 100 Jahren selbstständig. 1905 lösten wir uns von Schweden und setzten auf unseren eigenen König. Für die junge Nation war es von größter Bedeutung, sich mit der Eroberung der Polargebiete einen Namen zu machen. Das war die treibende Kraft, als unser Nationalheld Fritjof Nansen um die Jahrhundertwende zu seinen Expeditionen zum Nordpol aufbrach. Allerdings setzten die Leute damals noch ihr Leben aufs Spiel. Die wussten nie, ob sie zurückkommen würden, brachen in gewisser Weise alle Brücken hinter sich ab. Waren die Vorbereitungen unzureichend, dann war oft auch das ganze Unternehmen vom Unglück verfolgt."
Die alte Zollstation am Hafen birgt heute das üppig dekorierte Polarmuseum. Alte Petroleumlampen und Navigationsinstrumente, verblichene Fotos und ausgestopfte Eisbären künden von ausgedehnten Jagdzügen auf die Pelztiere der Arktis.
"Dies hier ist die einzige erhaltene Jagdhütte von der Insel Spitzbergen. Hier sehen wir, wie spartanisch die Einrichtung war: zwei Schlafkojen, ein paar Schemel. Die Hütte wurde aus Treibholz gezimmert, in der Mitte ein großer Ofen. Ohne den konnten sie bei 30 oder 40 Grad minus im Winter nicht überleben. Auch die Eisbären waren eine ständige Gefahr."
Viele Exponate erinnern an den tragischen Helden der Stadt: Roald Amundsen war der erste Mensch, der den Südpol erreichte. Im Juni 1928 brach er in Tromsö zu einer Rettungsaktion für den Italiener Umberto Nobile in die Arktis auf. Der Erzrivale kam am Ende mit dem Leben davon, doch Amundsen blieb verschollen. Vor fünf Jahren tauchten Überreste seines Flugboots in der Barentssee auf.
Draußen im Hafen schiebt sich die Fähre "Finnmark" an die Kaimauer. Ihre Passagiere reisen bequemer als die Pioniere von einst. Die Hurtigrute ist bis heute die Nabelschnur der abgelegenen Küstenstädte. Auf ihrer Fahrt zum Nordkap wagen frierende Besucher den Landgang, rutschen über die Storgatan und steuern zielgerichtet auf eines der empfohlenen Fischlokale zu. Im Sommer lockt Tromsö mit seinen Festivals und nächtlichen Konzerten in der berühmten Eismeerkathedrale, die mit ihren spitzen Giebeln an Felsen und Gletscherspalten erinnert.
Doch im Winter erfüllt die weit gereisten Besucher eine andere Sehnsucht: Nigel Jordan und Mark Wesley zittern seit einer ganzen Weile in der kalten Polarnacht, um den Schleiertanz eines Nordlichts zu bestaunen:
"Ich glaube, das war ein Nordlicht! Erst war es gar nicht da, dann tauchte es leuchtend grün auf und nun ist es verschwunden. Offenkundig sind wir am richtigen Ort. Denn wegen der Nordlichter sind wir den ganzen Weg von London hier heraufgekommen. Und morgen werden wir mit dem Hundegespann in die Tundra fahren, mit den Saami Kaffee trinken und uns die Rentiere anschauen."
Es sind Stippvisiten in einer sich dramatisch wandelnden Welt. Doch nicht alle blicken der eisfreien Zukunft nur mit Sorge entgegen. Eine kleine Ewigkeit lang lag der Kosmos der Polarmeere unter einer undurchdringlichen Eisdecke. Mit Tauchbooten können die Forscher nun in die Tiefe reisen und auch die Schätze am Meeresgrund ins Visier nehmen. Die Ozeanographin Jolynn Carrol ist Forschungsleiterin der Consultingfirma Akvaplan niva, die Konzepte zur umweltgerechten Nutzung von Aquakulturen und Meeren entwickelt. Die Nord-Ost-Passage könnte in einigen Jahren im Sommer eisfrei sein, prophezeit Carrol. Die Schiffspassage von Hamburg nach China wäre plötzlich nur noch halb so weit.
"Niemand kann in seine Kristallkugel blicken und die Zukunft vorhersagen. Der Bedarf an künftigen Energiequellen wird weiter zunehmen. Es gibt große Unsicherheiten, wo diese Energie herkommen soll. Dazu kommt der Klimawandel, der uns den Zugang zu ganz neuen Bereichen ermöglicht, an die wir früher nicht gedacht haben. Es wird sehr viel Geld in die Entwicklung neuer Fördertechnologien gesteckt, aber auch in die Erforschung der denkbaren Auswirkungen der Gasförderung auf die empfindlichen Ökosysteme der Arktis."
Die Norweger sind stolz auf ihre guten Erfahrungen mit komplizierten Offshore-Projekten in der Barentssee. Doch im großen Energiepoker mischen auch die Russen mit. An der russischen Eismeerküste wachsen Fördertürme, Rohrlianen und Pipelines empor. Das Nomadenvolk der Nemets fürchtet um das Weideland seiner Rentiere. Der Geologe Winfried Dallmann will die Auswirkungen des Petrobooms auf die Lebensgrundlagen der Urvölker untersuchen.
"Diese Völker sehen ihre Existenz bedroht, und zugleich werden ihnen alle Informationen vorenthalten, die sie bräuchten, um sich zu verteidigen. Es werden Trassen für den Lastverkehr geschlagen und Rohrleitungen für Öl und Gas gezogen. Die können die Rentiere auf ihren Wanderungen nicht mehr kreuzen. Wer aber sein ganzes Leben als Nomade verbracht hat, der kann nicht einfach aufs Stadtleben umschalten, ohne seiner Kultur ganz und gar fremd zu werden."
Norweger und Russen mögen über Fangquoten und Bodenschätze streiten, doch die Zusammenarbeit der ungleichen Nachbarn in der Arktis hat eine lange Tradition. In den Gewässern um Svalbard lieferten sich die Walfänger noch im 18. Jahrhundert blutige Schlachten. Inzwischen steht die Inselgruppe um Spitzbergen unter norwegischer Verwaltung. Einträglich beuten die Partner die reichen Kohleflöze aus und betreiben in der Bucht von Ny-Alesund eine Forschungsstation.
Das Archipel nah am Nordpol ist ein Wundergarten der Geologie: Auf engstem Raum sind alle Gesteinsarten der Erdgeschichte konzentriert. Im Norden treibt vor der Hauptinsel das ganze Jahr über Packeis, ein Großteil der Landfläche ist von Eis bedeckt.
Spitzbergen ist der Beweis, dass der Planet Erde auch unter extremen Bedingungen Leben hervorbringt, sagt Olaf Storö. Der Maler und Musiker aus dem Süden Norwegens hat sich das Ende der Welt für seine künstlerischen Streifzüge ausgesucht. Einen Großteil des Jahres verbringt er in seinem Atelier in Longerbyen, der winzigen Hauptstadt der Inseln. Zur Feier des Polarjahres zeigt der weltflüchtige Künstler in Tromsö seine jüngsten Gemälde und Lithographien.
"In der Arktis ist der Mensch ganz klein. Du musst die Demut lernen. Wenn Du nicht die richtigen Schuhe hast oder eine Mütze, die den Wind abhält, dann kann das böse ausgehen. Wir haben vier Monate Mitternachtssonne, aber auch vier Monate Finsternis. Im Dunkeln ziehst Du Dich in Deine eigene Seele zurück. Da ist ein Gedanke, der immer klarer wird. Das ist vielleicht schwer zu verstehen, aber für mich ist es absolut logisch."
Olaf Storö hat die Statur eines Bären, trägt Jeans und einen schneeweißen Norweger-Pulli. Ein buntes Stirnband bändigt die blonde Mähne. Auf seinen Bildern leuchtet das blaue Licht der Arktis. Winzige Gestalten stolpern durch die eisige Ödnis. Die Konturen lösen sich auf.
"Diese Lithographie zeigt einen Eisbären: ein mildes Wesen, aber man sollte ihm nicht zu nahe kommen. Weil das Eis verschwindet, kommt der Bär an Land, und es gibt mehr Begegnungen mit ihm als früher. Ein satter Eisbär ist harmlos, aber ein hungriger Eisbär ist gefährlich. Wie wird es für ihn weitergehen? Wenn Sie mich fragen, ich glaube nicht so recht an all diese Weltuntergangsvisionen. Wir alle werden uns anpassen müssen, aber das Leben wird weitergehen."