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Anhalten, untertauchen und sich wandeln

Nur selten ist der deutsche Film in den letzten Jahren in Cannes vertreten gewesen. Einer der wenigen Regisseure, der 2008 und auch in diesem Jahr auf das wichtigste Filmfestival der Welt eingeladen wurde, ist Andreas Dresen. Sein Markenzeichen: ein halbdokumentarischer Stil, der den Schauspielern Raum gibt für Improvisation wie in "Halbe Treppe", "Sommer vorm Balkon" oder "Wolke 9". In Cannes hat Andreas Dresen im Frühjahr "Halt auf freier Strecke" vorgestellt. Die Geschichte eines Sterbenden kommt morgen in die Kinos - genauso wie die Dokumentation "Wandlungen" über den deutschen Missionar Richard Wilhelm und die britische Tragikomödie "Submarine".

Von Jörg Albrecht |
    "Halt auf freier Strecke" von Andreas Dresen
    "Also das ist ein Tumor, der von seiner Lokalisation in einem Gebiet ist, wo sehr wichtige Hirnfunktionen sind. Wenn man da operieren würde, würde das zu sehr schlimmen Ausfällen führen."

    Die Diagnose ist ein Schock. Ein bösartiger Gehirntumor. Inoperabel. Und die Prognose des Arztes ist noch schockierender.

    "Wenn man die Operation nicht zur Verfügung hat, wie es bei Ihnen jetzt der Fall ist, dann sind das durchschnittlich mehrere Monate, um die es hier geht. ..."

    Frank, Ehemann und Vater von zwei Kindern, wird von einer Sekunde auf die andere der Boden unter den Füßen weggezogen. Und nicht nur ihm. Auch Franks Familie und seine Bekannten werden plötzlich mit einem Sterbenden konfrontiert. Andreas Dresen hat mit "Halt auf freier Strecke" einen Film gedreht, den es auszuhalten gilt. Denn diese Chronik eines angekündigten Todes ist so hautnah, authentisch und nüchtern, dass sie einen Gegenentwurf darstellt. Es ist der Gegenentwurf zum inszenierten, sentimentalen und pathetischen Sterben, wie es so häufig im Kino zu sehen ist. Bei Dresen wird Frank zuhause, im Kreis seiner Familie sterben. Für alle ist es die Chance, Abschied zu nehmen und den Tod als Teil des Lebens zu begreifen. Soweit die positive Botschaft eines Films, der unerbittlich die einzelnen Stadien der Krankheit zeigt. Frank erleidet Gedächtnisverlust, wird von Tag zu Tag mehr zum Pflegefall und hin und wieder terrorisiert er sogar seine Umwelt.

    "Da! Raus mit dem Ding! - Spinnst du ein bisschen? - Bring den raus! ... Ich brauche hier keinen Rollstuhl. ... Ist dir schon mal aufgefallen, dass ich einen Gehirntumor habe? ... Ist ja klar, dass du irgendwann sterben musst. Aber ich muss hier weitermachen. Ich muss mit der ganzen Scheiße weitermachen."

    In den knapp zwei Stunden, die "Halt auf freier Strecke" dauert, hofft man immer wieder auf Erleichterung getreu dem Motto: Tumor ist, wenn man trotzdem lacht. Doch diese Hoffnung erfüllt sich nicht - abgesehen von kleinen Inseln im Film, in denen Andreas Dresen das Sterben eines Menschen mit Hilfe von Komik aufzubrechen versucht. Wie immer in Dresen-Filmen sind es auch hier die Darsteller - allen voran Milan Peschel und Steffi Kühnert, deren improvisiertes Spiel Eindruck hinterlässt.

    "Halt auf freier Strecke" von Andreas Dresen - empfehlenswert!

    "Wandlungen - Richard Wilhelm und das I Ging" von Bettina Wilhelm
    "Dieses merkwürdige Buch, das aus grauer Vorzeit zu stammen scheint, hat sich durch allen Wechsel der Zeiten durchgerettet. ... Ein heiliges Buch, da es alle Urbilder eines reichen, schöpferischen Lebens enthält."

    Dieses merkwürdige, heilige Buch ist das I Ging. Das Buch der Wandlungen. Der älteste der klassischen chinesischen Texte, dessen Ursprünge bis ins dritte Jahrtausend vor Christus zurückreichen. Ein Schatz des östlichen Wissens. Orakelbuch und philosophischer Text zugleich. Der 1873 in Stuttgart geborene Richard Wilhelm gilt als der Mann, der dieses Wissen in den Westen gebracht hat. Während seiner Tätigkeit als Missionar in China in den ersten beiden Jahrzehnten des letzten Jahrhunderts übersetzt Wilhelm das I Ging und wird zum Mittler zwischen den Kulturen.

    Für Richard Wilhelm ist die Begegnung mit der fremden Kultur eine Begegnung auf Augenhöhe. So lehnt er es ab, seiner eigentlichen Aufgabe nachzukommen und Chinesen zu missionieren. Wilhelms Enkelin Bettina hat die Fährte ihres Großvaters aufgenommen, um ihm ein filmisches Denkmal zu setzen. Vor allem anhand seiner Tagebuchaufzeichnungen spürt sie einem Mann nach, der dem Abendland die geistige Welt Chinas näher gebracht hat. Diese Spurensuche ist durchaus interessant, wenngleich sie manchmal recht einfältig kommentiert wird. Immerhin aber schafft es Bettina Wilhelm, auch dem Nicht-Sinologen die Bedeutung des I Ging zu vermitteln.

    "Wandlungen - Richard Wilhelm und das I Ging" von Bettina Wilhelm - akzeptabel!

    "Submarine" von Richard Ayoade
    "Die meisten Menschen halten sich für Individuen und denken, dass es auf diesem Planeten niemanden gibt wie sie. Dieser Gedanke spornt sie an aus dem Bett zu steigen, etwas zu essen und herumzulaufen, als wäre alles in Ordnung. Ich heiße Oliver Tate. ..."

    Etwas Besonderes will Oliver sein. Ein 15-jähriger Junge befindet sich auf der Suche nach den Eckpunkten in seinem Leben. Wer ist dieser Oliver Tate, der an sich zweifelt und gleichzeitig von sich glaubt, längst den Durchblick zu haben? Unerschütterlich erträgt Oliver das grausame Spiel, das die Pubertät mit ihm treibt. Vor allem zwei Personen gehen ihm nicht mehr aus dem Kopf. Die Erste ist Jordana - seine Mitschülerin, in die sich Oliver verliebt hat und die er ausschließlich mithilfe seines Verstandes verführen will.

    "Wow! Du siehst echt zurückgeblieben aus, als ob du noch nie jemanden geküsst hättest."

    Und dann ist da der Esoteriker Graham, den Oliver als ernsthafte Bedrohung für die Ehe seiner Eltern ansieht.

    " ... Ich glaube, Mama könnte eine Affäre haben. - Kannst du bitte das Wasser abdrehen. ..."

    Die Geschichte des Oliver Tate basiert auf Joe Dunthornes 2008 veröffentlichtem Roman Submarine. Ein Film, der mehr von seinen Einfällen und einzelnen Szenen lebt als von einer stringenten Handlung. Dennoch ist dem britischen Regisseur Richard Ayoade eine stimmige Charakterstudie gelungen, die einmal mehr beweist, wie schmal der Grat zwischen Tragik und Komik ist.

    "Submarine" von Richard Ayoade - empfehlenswert!