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Anhörung im Turiner Asbestprozess

Ein Mammutprozess in Sachen Umwelt und Gesundheit hat im vergangenen Dezember in Turin begonnen. Mehr als 2000 Tote, viele Erkrankte und eine Menge Menschen in Angst vor Krebs - angeklagt sind zwei ehemalige Manager verschiedener italienischer Eternit-Fabriken.

Von Ralph Ahrens | 20.09.2010
    Eternit ist der Markenname von Faserzement. Mit Platten aus einem Gemisch von Zement und Asbestfasern wurden zum Beispiel Häuser verkleidet. Wenn sich das Material zersetzt, werden gesundheitsschädliche Asbestfasern frei. In Deutschland darf Asbest seit 1995 nicht mehr eingesetzt werden. Seit 2005 gilt das in der gesamten EU; weltweit in insgesamt 52 Staaten. Doch noch immer arbeiten rund 125 Millionen Menschen mit Asbest, allen voran in China, Indien, Russland, Brasilien und Kasachstan. Mehr als 100.000 Menschen sterben jährlich an den Folgen. Doch in einigen Ländern beginnt die Aufarbeitung - wie in Turin. Ralph Ahrens.

    Heute gehen die Sommerferien für die Turiner Staatsanwaltschaft endgültig zu Ende. Sie führt jetzt den Prozess gegen den Schweizer Industriellen Stephan Schmidheiny weiter. Der Vorwurf: In seiner Eternitfabrik in Casale, einer Kleinstadt im Piemont mit knapp 40.000 Einwohnern, herrschten katastrophale Zustände. Alexandra Caterbow, Asbestexpertin der Organisation 'Women in Europe for a Common Future', kurz WECF:

    "In dieser Asbestfabrik mussten die Arbeiter sehr lange – obwohl schon bekannt war, wie krebserregend Asbest ist – ohne Schutz arbeiten. Die Todesrate in dieser Region unter den Arbeiter, aber auch unter Leuten, die nur kurz mit Asbest in Berührung kamen, ist extrem hoch. Und diese Leute fordern jetzt ihr Recht ein."

    Rund 3.000 Menschen aus Casale haben Schmidheiny wegen fehlendem Arbeitsschutz angeklagt.

    "Die Staatsanwaltschaft wirft Schmidtheiny vor, zwischen 73 und 86 keine Sicherheitsmaßnahmen in der Fabrik gehabt zu haben. Und daraufhin drohen jetzt Haftstrafen zwischen drei und zwölf Jahren. Außerdem gibt es noch Nebenkläger, die Forderungen stellen von Hunderten von Millionen Euro."

    Der Prozess begann Ende 2009 und soll 2011 enden. Jeden Montag findet jetzt eine Anhörung statt. Heute geht es um die internationale Vernetzung der Asbestindustrie. So hat Stephan Schmidheiny einen Teil seines Vermögens in Brasilien verdient. Arbeitsschutz scheint für ihn auch dort nicht vorrangig gewesen zu sein.
    Schmidheiny kann sich nicht unwissend stellen. In Deutschland gilt die erste Vorschrift zum Arbeitsschutz in einer Unfallverhütungsvorschrift bereits seit 1973, erinnert sich der 68-jährige Josef Kraus, ehemaliger Asbestfachmann der Bau-Berufsgenossenschaft:

    "Es war noch kein Verbot, aber es wurden mit dieser Unfallverhütungsvorschrift letztendlich die ersten Schutzmaßnahmen bei Tätigkeiten mit Asbest festgelegt."

    Ab 1979 wurde in Deutschland der Asbesteinsatz schrittweise verboten. Seit 1995 darf kein Asbest mehr verbaut werden. Zudem wird jeder Arbeiter, der mit Asbest in Berührung kam oder heute bei Abbruch- oder Recyclingarbeiten mit Asbest zu tun hat, regelmäßig untersucht. Diese Verbesserungen verdanken die Arbeiter den engagierten Berufsgenossenschaften.

    "Sozialversicherung kostet Geld – und natürlich muss man versuchen, auch hier die Kosten zu minimieren. Und zwangsläufig ist man da natürlich aufgerufen, alles zu unternehmen, um diese Erkrankungszahlen zurückzudrängen. Also, meines Erachtens spielte das eine sehr große Rolle."

    Die Logik: Erkranken weniger Arbeiter, gibt es weniger Ausfallzeiten und berufsbedingte Renten und die Beitragszahlungen sinken. In vielen Schwellen- und Entwicklungsländern zählt ein Menschenleben jedoch wenig, weiß Alexandra Caterbow:

    "Die Menschen sterben einfach, und die Menschen haben überhaupt keine Ansprüche auf irgendwelche Zahlungen. In vielen Ländern gibt es ja keine Krankenversicherung, also müssen die auch noch die Kosten ihrer Behandlung selber übernehmen. Und es gibt in Rußland zum Beispiel offiziell keine Asbestkranken – weil es diese Krankheit nicht gibt in Rußland angeblich."

    In Rußland fordern nicht einmal Gewerkschaften ein Asbestverbot. Etwas besser ist es in Brasilien. Dort hat Präsident Lula, als er noch Gewerkschaftsführer war, zwar ein solches Asbestverbot verlangt, geschehen ist seitdem aber nichts.

    "Allerdings hat man auch in Brasilien die Erfahrung gemacht mit Asbestklagen, dass sie so lange hinausgezögert werden, bis die Opfer gestorben sind – oder, wenn den Opfern ihr Recht zugesprochen wurde, Zahlungen zugesprochen wurde, dass dann die Zahlungen so lange hinausgezögert wurden, bis die Opfer gestorben sind."

    Ob der Schweizer Schmidheiny jedoch jemals wegen Missständen in Italien oder Brasilien zur Rechenschaft gezogen werden wird, wird sich zeigen. Aber seinen guten Ruf als Begründer des Weltwirtschaftsforums für nachhaltige Entwicklung hat er bereits verloren.