In seinen Romanen entwirft Ondaatje Szenen von so origineller Wucht, daß sie dem Gedächtnis auch dann noch eingeprägt bleiben, wenn man ihr narratives Umfeld längst schon vergessen hat. Daß ausgerechnet das Kino mit Anthony Minghellas schnulziger Verfilmung von Ondaatjes Roman "Der englische Patient" diesem Autor zu Weltruhm verhalf, ist insofern eine perfide Ironie, als die aus Sprache generierten Bilder von Michael Ondaatje just anders funktionieren als jedes Kinobild. Gerade weil er so cinematografisch schreibt, ist Ondaatje besonders schwer zu verfilmen. Seine genial verdichteten, hyperpräzisen Wahrnehmungen lassen sich nie eins zu eins in die Ikonographie der Leinwand übersetzen - und versucht man es doch, bleibt nur eine leblose Hülse. Ihre Wirkung rührt nicht aus der dargestellten Oberfläche, sondern aus dem Unter- und Hintergrund, es sind psychologische Tiefen- oder Urbilder, darin durchaus verwandt den "deep images" eines Robert Bly oder W.S. Merwin. Was kann ein Schriftsteller vom Kino lernen?
"Was ich vom Kino gelernt habe, ist die Kunst des Schnitts. Ich habe zwei Dokumentarfilme gedreht, als ich jünger war, und der Schnitt hat mir dabei das größte Vergnügen bereitet und mich am meisten gelehrt. Beim Schnitt kommt es auf die Sorgfalt an. Man lernt Unterschiede wahrzunehmen. Wenn man bei 24 Bildern pro Sekunde nun das dritte Bild herausnimmt oder das achtzehnte, dann verändert dieser winzige Eingriff das ganze Tempo des Films oder zumindest der Szene. Ich verwende sehr viel Zeit auf die Überarbeitung meiner Bücher. Man kann das nicht ganz mit dem Schnitt eines Films vergleichen, aber ich verwende fast schon obsessive Sorgfalt auf das Tempo in einem Roman, auf die Längen der Unterschiedlichen Szenen. Wenn eine Szene auch nur zwei drei Sätze länger ist, dann vergeht zuviel Zeit. Man kann das mit dem Setzen einer Schwarzblende vergleichen und der Länge dieser Schwarzblende."
Auch in "Anils Geist", Ondaatjes neuem Roman, spielen Bilder und spielt das Kino eine zentrale Rolle. Vielleicht die schönste Nebenhandlung dieses an Subplots reichen Buchs erzählt die Geschichte einer kinobesessenen Ärztin, die an Alzheimer erkrankt und sich in die Wüste Neumexikos zurückzieht. Wer erschoß Cherry Valence in "Red River"? Diese Frage wird zu ihrem mnemotechnischen Mantra - ein Beispiel für praktische Gedächtniskunst, die sich als Poetik auf den ganzen Roman anwenden läßt. Und das Kino liefert Ondaatje auch eine Art explizites Gegenprogramm zu seinem eigenen erzählerischen Vorhaben: An einer Stelle von "Anils Geist" läßt er eine Figur fragen
"Amerikanische Filme ... Wißt ihr noch, wie sie immer enden? ... Der Amerikaner oder der Engländer besteigt ein Flugzeug und reist ab. Und das war's. Die Kamera verschwindet mit ihm. Er sieht aus dem Fenster auf Mombassa oder Vietnam oder Jakarta, irgendeinen Ort, den er jetzt durch die Wolken betrachten kann. Der erschöpfte Held. Ein paar Worte zu dem Mädchen, das neben ihm sitzt. Er fährt nach Hause. Der Krieg ist also mehr oder weniger zu Ende. Das genügt dem Westen an Wirklichkeit."
Damit will sich Michael Ondaatje nicht zufriedengeben. Die Biographie seiner Hauptfigur Anil Tissera, einer in Sri Lanka geborenen Ärztin, die nach ihrem Stuidum in Europa in den USA als forensische Pathologin arbeitet, ehe sie im Auftrag einer Menschenrechtsorganisation in ihre ihr inzwischen fremd gewordene Heimat zurückkehrt, diese Biographie weist gewisse Paralllelen zu der ihres Autors auf, und in gewisser Weise ist "Anils Geist" auch für den Romancier Michael Ondaatje eine Heimkehr in das Land, in dem er 1943 geboren wurde und in einer Familie holländisch-tamilisch-singhalesischer Abstammung aufwuchs, ehe er mit elf mit seiner Mutter nach England folgte und dort zur Schule ging. 1962 wanderte Michael Ondaatje nach Kanada aus, wo er bis heute in Toronto lebt und lehrt. Warum der Geschlechtertausch in "Anils Geist", warum entschied sich Ondaatje im Roman für eine Protagonistin?
"Als ich beschloß, über eine Frau als Hauptfigur zu schreiben, ermöglichte mir das, mich sozusagen als Schriftsteller zu verdoppeln: eine Situation nicht nur durch die männliche Perspektive einer Figur wahrzunehmen, sondern auch durch die Augen einer Frau. Eine Frau wie Anil, die in Sri Lanka aufgewachsen ist, dann in den Westen ging, dort ihre Ausbildung erhielt und heranreifte, und nun in das Land zurückkehrt, in dem sie geboren wurde, nimmt die dortigen sehr männlich geprägten Machtstrukturen ganz anders wahr. Die Behinderungen, die sie ihr bei ihrer Rückkehr nach Sri Lanka erfährt, sind für so eine Figur besonders schmerzlich und fördern ihren Sinn für Ironie. Dadurch wird ihre Entschlossenheit nur noch größer, und das macht wiederum ihre Stärke als Romanfigur aus. Hinzu kommt, daß bei diesen Menschenrechtsbewegungen tatsächlich sehr viele Frauen mitarbeiten. Aus diesen drei Gründen habe ich Anil also zu einer Frau und nicht zu einem Mann gemacht."
In seinem jüngsten auf Englisch veröffentlichten Gedichtband "Handwriting", einer Art lyischen Gegenstück zum Roman "Anils Geist", ist einmal von "this mirror-world of art" die Rede, der "Spiegelwelt der Kunst". In gewisser Weise läßt sich Michael Ondaatjes Romanwerk als Versuch lesen, eine solche "Spiegelwelt der Kunst" zu errichten, von "Die Gesammelten Werke von Billy the Kid", einer 1970 erschienen Collage aus Prosastücken, Gedichten, bearbeitetem Quellenmaterial und einigen Fotos, deren letztes den Autor selbst als kleinen Jungen im Cowboykostüm zeigt, über "Buddy Boldens Blues", "In der Haut eines Löwen" und "Der Englische Patient" bis hin zu "Anils Geist". So unterschiedlich diie Handlungsorte und -zeiten dieser Bücher - New Mexico im letzten Jahrhundert, New Orleans um 1900: Toronto in den zwanziger und dreißiger Jahren; Italien und Nordafrika im Zweiten Weltkrieg, und nun Sri Lanka - immer geht es um Imagination und Rekonstruktion, um die Aneignung der Vergangenheit und die Verlebendigung toten historischen Materials. Doch die Form, die Michael Ondaatje dafür wählt, ist kein planer Spiegel, keine lineare Erzählstruktur, sondern eher ein magisches Kaleidoskop, in dem sich unsere Wirklichkeit vielfach gebrochen aber eben auch verdichtet und gewissermaßen zur Kenntlichkeit entstellt zu immer neuen Bildern anordnet, Bildern, die keineswegs wahllos und beliebig , sondern so genau aufeinander bezogen und abgestimmt sind wie Altarbilder. Wenn es so etwas wie eine Leseanleitung für diesen Roman "Anils Geist" geben kann, dann vielleicht die Idee, sich diesem Buch wie einem Klappaltar zu nähern. Gewiß nicht mit der Demut des Gläubigen, doch mit dem aufmerksamen Auge des Kunsthistorikers.
Wer bereit ist, dieses Maß an Aufmerksamkeit zu investieren, wird nicht nur mit einem Reigen im wortwörtlichen Sinn unvergesslicher Bilder belohnt: ein Mann, der zärtlich wie eine Mutter ein Skelett auf den Armen trägt; ein Künstler, der rücklings auf einer Leiter stehend im Spiegel einer gigantischen Buddhastatue die Augen aufmalt; ein Lastwagenfahrer, der mit Eisenkrampen gekreuzigt auf dem Asphalt einer Straße unter seinem Wagen liegt. Der Roman "Anils Geist" ist weit mehr als nur eine Ansammlung solcher tableaux vivants. Ähnlich glanzvoll wie dem Amerikaner Don DeLillo in seinem Roman "Unterwelt", gelingt es Ondaatje, Zeitgeschichte ganz aus der individuellen Biografie seiner Figuren heraus glaubhaft und spannend zu erzählen. Eine Lösung für das Bürgerkriegsdrama in Sri Lanka hat freilich auch Michael Ondaatje nicht anzubieten. Anil repräsentiert im Roman das westliche, von der Aufklärung geprägte Denken. "Die Wahrheit wird euch befreien, daran glaube ich", sagte Anil einmal.Ihr von der Regierung Partner, ein Archäologe namens Sarath, weiß dagegen "In unserer Welt ist die Wahrheit fast immer nur eine Meinung." Dazu Ondaatje:
"Romane stellen Fragen, sie beantworten sie nicht. Weil Anil und Sarath so verschieden sind und so unterschiedliche Vergangenheiten haben, ermöglicht das eine Debatte, die meinem Buch letztlich zu Grunde liegt. Ich weiß immer noch nicht, wer von beiden recht hat. Ich selbst bin da sehr gespalten und frage mich auch, wie man sich da verhalten soll - was macht man, wenn man einmal die Wahrheit herausgefunden hat, wie geht man damit um? Diese Fragen sind viel komplexer. Es geht nicht nur darum, den Schuldigen zu finden. Was macht man denn, wenn man den Schuldigen gefunden hat - und die Schuldigen in dieser Welt die Mächtigen sind? Ich hatte dadurch die Möglichkeit, über eine recht komplizierte und verworrene politische Zusammenhänge in einem Land wie Sri Lanka zu schreiben, in dem Krieg herrscht, ein Krieg, der uns sehr vertraut ist und keineswegs nur auf Sri Lanka beschränkt. Es ist ein Krieg, der sehr viel komplizierter und schreckenerregender ist als der Zweite Weltkrieg oder der Vietnamkrieg, denn man kann längst nicht mehr mit Sicherheit sagen, wer der Feind ist und wer recht hat."
Wenn Arno Schmidt recht hatte mit seiner Feststellung, daß Geld für einen Schriftsteller nichts anderes sei als gebündelte und gepreßte Freiheit, dann hat der 1943 geborene Ondaatje seine durch die Hollywood-Verfilmung gewonnene pekuniäre Freiheit dazu genutzt, erst einmal nichts zu schreiben. Statt dessen hat er recherchiert. Im Anhang von "Anils Geist" listet er auf drei Seiten minutiös auf, wen er alles um Rat, Anregung und Hilfe angegangen ist: Ärzte und Archäologen vor allem, daneben forensische Anthropologen und Vertreter der Menschen- und Bürgerrechtsorganisationen Sri Lankas.
Damit ist auch schon ein grobes Gerüst für die Handlung dieses kaum auf einen einzigen Plot zu reduzierenden Romans gegeben: geschildert wird der Versuch einer nach 15 Jahren in Amerika und Europa in ihre Heimat Sri Lanka zurückgekehrten Rechtsmedizinerin namens Anil, die Regierung Sri Lankas für die Vielzahl von Morden, Terroranschlägen und Folterungen während der bürgerkriegsähnlichen Wirren der 80er und 90er Jahren verantwortlich zu machen.
Ein komplexer, ein undankbarer Romanstoff. Michael Ondaatjes Meisterschaft erweist sich just darin, daß "Anils Geist" zu keinem Moment droht, unter der Fülle der ausgebreiteten Fakten in eine bloß belletristisch verpackte journalistische Dokumentation abzugleiten oder, schlimmer noch, zu einem Exerzitium in Gutmenschentum. Ähnlich glanzvoll wie der Amerikaner Don DeLillo dies vor zwei Jahren in seinem Roman "Unterwelt" demonstrierte, gelingt es Ondaatje, Zeitgeschichte ganz aus der individuellen Biographie seiner Figuren heraus glaubhaft und spannend zu erzählen. Letztlich waren es auch in "Unterwelt" nur eine Handvoll kunstvoll variierter Bilder und Leitmotive, die DeLillos monumentalen Fries zusammenhielten, und ähnlich fragiler Natur ist auch die Romankonstruktion von "Anils Geist".
Doch während Ondaatjes frühere Romane nicht selten den Eindruck von Peter Greenaway-Filmen hinterließen, nämlich daß das Ganze weniger sein könnte als die Summe seiner Teile, so ergibt das furiose Kaleidoskop von "Anils Geist" diesmal eine an eleganter Stringenz kaum zu überbietende Handlung, deren kühne Perfektion sich erst bei einer zweiten und dritten Lektüre ganz erschließt. Ich frage Michael Ondaatje nach seinem Geschichtsverständnis. Gibt es für ihn einen Fortschritt in der Geschichte im Hegelschen Sinne, sieht er in all dem Chaos und der sinnlosen Gewalt doch noch das heimliche Wirken das Weltgeists?
"Es ist sehr schwer, in diesem permamenten Kriegszustand eine Hoffnung auszumachen oder gar Fortschritt zu entdecken. Natürlich muß es Fortschritte geben, doch eine Lösung ist nicht in Sicht. In Ländern wie Irland haben alle jemand zu betrauern, alle sind von Rachegedanken erfüllt, einfach weil sie wissen, wer sie selbst oder ihre Familienangehörigen verletzt hat. Da fällt es schwer, Kompromisse zu schließen. Und natürlich ist der einzige Ausweg der Kompromiß. Eine der großen fortschrittlichen Bewegungen unserer Zeit ist die Aussöhnungs-Bewegung in Südafrika und an einigen anderen Orten auf der Welt, die mit einer Zeit furchtbarer Verbrechen umgeht, indem sie ganz auf Versöhnung, nicht aber nicht auf Vergessen setzt."
Wer sich die Entwicklung im Romanwerk Michael Ondaatjes vor Augen führt, bemerkt einen starken Wandel im Figurenpersonal. Schrieb Ondaatje in den "Gesammelten Werken Billy the Kids" oder in "Buddy Bolden Blues" in den Leerstellen der Biographie von Ikonen des 19. respektive 20. Jahrhunderts, so tauchen in seinen neueren Büchern solche Figuren nicht mehr auf. Geht es dem Romancier Michael Ondaatje um das Aufbewahren der Lebensläufe von Menschen, die abseits des historischen Rampenlichts stehen?
"Das entspricht ganz meiner Überzeugung als Schriftsteller. Meine frühen Bücher handelten von Halbberühmtheiten wie Billy the Kid oder Jazzmusiker wie Buddy Bolden. In dem autobiographischen Buch "Running in the Family" war eine der Hauptfiguren dann mein Vater. Aber während der Arbeit an dem Roman "In der Haut eines Löwens" stellte ich fest, daß mich die Nebenfiguren mehr zu interessieren begannen als die Hauptfiguren. Eigentlich sollte Ambrose Small, der Millionär, der von der Bildfläche verschwindet, im Mittelpunkt des Buchs stehen. Aber ich mußte feststellen, daß es nicht so interessant war, mehr als zwanzig Seiten über Millionäre zu schreiben. Also konzipierte ich das Buch ganz neu und schrieb es nun aus Sicht der Nebenfiguren, der Menschen, die er verlassen hat und die nun nach ihm suchen. Und in "Der englische Patient" und nun in meinem neuen Roman habe ich ganz bewußt über Menschen geschrieben, die meiner Meinung nach am Rand stehen, Menschen, die nicht berühmt sind. Ich wollte ein Buch über den Krieg schreiben ohne Generäle, ohne bedeutende Industrielle, ohne Politiker - denn ich glaube, daß diese Menschen sonst nicht in der Literatur vorkommen. Als ich dann "Anils Geist" schrieb, wollte ich nicht, daß das Buch von den Mächtigen handelt, sondern von Menschen, die auf einer anderen, einer menschlicheren und alltäglicheren Ebene in einen Krieg verwickelt sind, den sie nicht angefangen haben. Und ich bin wirklich davon überzeugt, daß die meisten Menschen so leben."
"Was ich vom Kino gelernt habe, ist die Kunst des Schnitts. Ich habe zwei Dokumentarfilme gedreht, als ich jünger war, und der Schnitt hat mir dabei das größte Vergnügen bereitet und mich am meisten gelehrt. Beim Schnitt kommt es auf die Sorgfalt an. Man lernt Unterschiede wahrzunehmen. Wenn man bei 24 Bildern pro Sekunde nun das dritte Bild herausnimmt oder das achtzehnte, dann verändert dieser winzige Eingriff das ganze Tempo des Films oder zumindest der Szene. Ich verwende sehr viel Zeit auf die Überarbeitung meiner Bücher. Man kann das nicht ganz mit dem Schnitt eines Films vergleichen, aber ich verwende fast schon obsessive Sorgfalt auf das Tempo in einem Roman, auf die Längen der Unterschiedlichen Szenen. Wenn eine Szene auch nur zwei drei Sätze länger ist, dann vergeht zuviel Zeit. Man kann das mit dem Setzen einer Schwarzblende vergleichen und der Länge dieser Schwarzblende."
Auch in "Anils Geist", Ondaatjes neuem Roman, spielen Bilder und spielt das Kino eine zentrale Rolle. Vielleicht die schönste Nebenhandlung dieses an Subplots reichen Buchs erzählt die Geschichte einer kinobesessenen Ärztin, die an Alzheimer erkrankt und sich in die Wüste Neumexikos zurückzieht. Wer erschoß Cherry Valence in "Red River"? Diese Frage wird zu ihrem mnemotechnischen Mantra - ein Beispiel für praktische Gedächtniskunst, die sich als Poetik auf den ganzen Roman anwenden läßt. Und das Kino liefert Ondaatje auch eine Art explizites Gegenprogramm zu seinem eigenen erzählerischen Vorhaben: An einer Stelle von "Anils Geist" läßt er eine Figur fragen
"Amerikanische Filme ... Wißt ihr noch, wie sie immer enden? ... Der Amerikaner oder der Engländer besteigt ein Flugzeug und reist ab. Und das war's. Die Kamera verschwindet mit ihm. Er sieht aus dem Fenster auf Mombassa oder Vietnam oder Jakarta, irgendeinen Ort, den er jetzt durch die Wolken betrachten kann. Der erschöpfte Held. Ein paar Worte zu dem Mädchen, das neben ihm sitzt. Er fährt nach Hause. Der Krieg ist also mehr oder weniger zu Ende. Das genügt dem Westen an Wirklichkeit."
Damit will sich Michael Ondaatje nicht zufriedengeben. Die Biographie seiner Hauptfigur Anil Tissera, einer in Sri Lanka geborenen Ärztin, die nach ihrem Stuidum in Europa in den USA als forensische Pathologin arbeitet, ehe sie im Auftrag einer Menschenrechtsorganisation in ihre ihr inzwischen fremd gewordene Heimat zurückkehrt, diese Biographie weist gewisse Paralllelen zu der ihres Autors auf, und in gewisser Weise ist "Anils Geist" auch für den Romancier Michael Ondaatje eine Heimkehr in das Land, in dem er 1943 geboren wurde und in einer Familie holländisch-tamilisch-singhalesischer Abstammung aufwuchs, ehe er mit elf mit seiner Mutter nach England folgte und dort zur Schule ging. 1962 wanderte Michael Ondaatje nach Kanada aus, wo er bis heute in Toronto lebt und lehrt. Warum der Geschlechtertausch in "Anils Geist", warum entschied sich Ondaatje im Roman für eine Protagonistin?
"Als ich beschloß, über eine Frau als Hauptfigur zu schreiben, ermöglichte mir das, mich sozusagen als Schriftsteller zu verdoppeln: eine Situation nicht nur durch die männliche Perspektive einer Figur wahrzunehmen, sondern auch durch die Augen einer Frau. Eine Frau wie Anil, die in Sri Lanka aufgewachsen ist, dann in den Westen ging, dort ihre Ausbildung erhielt und heranreifte, und nun in das Land zurückkehrt, in dem sie geboren wurde, nimmt die dortigen sehr männlich geprägten Machtstrukturen ganz anders wahr. Die Behinderungen, die sie ihr bei ihrer Rückkehr nach Sri Lanka erfährt, sind für so eine Figur besonders schmerzlich und fördern ihren Sinn für Ironie. Dadurch wird ihre Entschlossenheit nur noch größer, und das macht wiederum ihre Stärke als Romanfigur aus. Hinzu kommt, daß bei diesen Menschenrechtsbewegungen tatsächlich sehr viele Frauen mitarbeiten. Aus diesen drei Gründen habe ich Anil also zu einer Frau und nicht zu einem Mann gemacht."
In seinem jüngsten auf Englisch veröffentlichten Gedichtband "Handwriting", einer Art lyischen Gegenstück zum Roman "Anils Geist", ist einmal von "this mirror-world of art" die Rede, der "Spiegelwelt der Kunst". In gewisser Weise läßt sich Michael Ondaatjes Romanwerk als Versuch lesen, eine solche "Spiegelwelt der Kunst" zu errichten, von "Die Gesammelten Werke von Billy the Kid", einer 1970 erschienen Collage aus Prosastücken, Gedichten, bearbeitetem Quellenmaterial und einigen Fotos, deren letztes den Autor selbst als kleinen Jungen im Cowboykostüm zeigt, über "Buddy Boldens Blues", "In der Haut eines Löwen" und "Der Englische Patient" bis hin zu "Anils Geist". So unterschiedlich diie Handlungsorte und -zeiten dieser Bücher - New Mexico im letzten Jahrhundert, New Orleans um 1900: Toronto in den zwanziger und dreißiger Jahren; Italien und Nordafrika im Zweiten Weltkrieg, und nun Sri Lanka - immer geht es um Imagination und Rekonstruktion, um die Aneignung der Vergangenheit und die Verlebendigung toten historischen Materials. Doch die Form, die Michael Ondaatje dafür wählt, ist kein planer Spiegel, keine lineare Erzählstruktur, sondern eher ein magisches Kaleidoskop, in dem sich unsere Wirklichkeit vielfach gebrochen aber eben auch verdichtet und gewissermaßen zur Kenntlichkeit entstellt zu immer neuen Bildern anordnet, Bildern, die keineswegs wahllos und beliebig , sondern so genau aufeinander bezogen und abgestimmt sind wie Altarbilder. Wenn es so etwas wie eine Leseanleitung für diesen Roman "Anils Geist" geben kann, dann vielleicht die Idee, sich diesem Buch wie einem Klappaltar zu nähern. Gewiß nicht mit der Demut des Gläubigen, doch mit dem aufmerksamen Auge des Kunsthistorikers.
Wer bereit ist, dieses Maß an Aufmerksamkeit zu investieren, wird nicht nur mit einem Reigen im wortwörtlichen Sinn unvergesslicher Bilder belohnt: ein Mann, der zärtlich wie eine Mutter ein Skelett auf den Armen trägt; ein Künstler, der rücklings auf einer Leiter stehend im Spiegel einer gigantischen Buddhastatue die Augen aufmalt; ein Lastwagenfahrer, der mit Eisenkrampen gekreuzigt auf dem Asphalt einer Straße unter seinem Wagen liegt. Der Roman "Anils Geist" ist weit mehr als nur eine Ansammlung solcher tableaux vivants. Ähnlich glanzvoll wie dem Amerikaner Don DeLillo in seinem Roman "Unterwelt", gelingt es Ondaatje, Zeitgeschichte ganz aus der individuellen Biografie seiner Figuren heraus glaubhaft und spannend zu erzählen. Eine Lösung für das Bürgerkriegsdrama in Sri Lanka hat freilich auch Michael Ondaatje nicht anzubieten. Anil repräsentiert im Roman das westliche, von der Aufklärung geprägte Denken. "Die Wahrheit wird euch befreien, daran glaube ich", sagte Anil einmal.Ihr von der Regierung Partner, ein Archäologe namens Sarath, weiß dagegen "In unserer Welt ist die Wahrheit fast immer nur eine Meinung." Dazu Ondaatje:
"Romane stellen Fragen, sie beantworten sie nicht. Weil Anil und Sarath so verschieden sind und so unterschiedliche Vergangenheiten haben, ermöglicht das eine Debatte, die meinem Buch letztlich zu Grunde liegt. Ich weiß immer noch nicht, wer von beiden recht hat. Ich selbst bin da sehr gespalten und frage mich auch, wie man sich da verhalten soll - was macht man, wenn man einmal die Wahrheit herausgefunden hat, wie geht man damit um? Diese Fragen sind viel komplexer. Es geht nicht nur darum, den Schuldigen zu finden. Was macht man denn, wenn man den Schuldigen gefunden hat - und die Schuldigen in dieser Welt die Mächtigen sind? Ich hatte dadurch die Möglichkeit, über eine recht komplizierte und verworrene politische Zusammenhänge in einem Land wie Sri Lanka zu schreiben, in dem Krieg herrscht, ein Krieg, der uns sehr vertraut ist und keineswegs nur auf Sri Lanka beschränkt. Es ist ein Krieg, der sehr viel komplizierter und schreckenerregender ist als der Zweite Weltkrieg oder der Vietnamkrieg, denn man kann längst nicht mehr mit Sicherheit sagen, wer der Feind ist und wer recht hat."
Wenn Arno Schmidt recht hatte mit seiner Feststellung, daß Geld für einen Schriftsteller nichts anderes sei als gebündelte und gepreßte Freiheit, dann hat der 1943 geborene Ondaatje seine durch die Hollywood-Verfilmung gewonnene pekuniäre Freiheit dazu genutzt, erst einmal nichts zu schreiben. Statt dessen hat er recherchiert. Im Anhang von "Anils Geist" listet er auf drei Seiten minutiös auf, wen er alles um Rat, Anregung und Hilfe angegangen ist: Ärzte und Archäologen vor allem, daneben forensische Anthropologen und Vertreter der Menschen- und Bürgerrechtsorganisationen Sri Lankas.
Damit ist auch schon ein grobes Gerüst für die Handlung dieses kaum auf einen einzigen Plot zu reduzierenden Romans gegeben: geschildert wird der Versuch einer nach 15 Jahren in Amerika und Europa in ihre Heimat Sri Lanka zurückgekehrten Rechtsmedizinerin namens Anil, die Regierung Sri Lankas für die Vielzahl von Morden, Terroranschlägen und Folterungen während der bürgerkriegsähnlichen Wirren der 80er und 90er Jahren verantwortlich zu machen.
Ein komplexer, ein undankbarer Romanstoff. Michael Ondaatjes Meisterschaft erweist sich just darin, daß "Anils Geist" zu keinem Moment droht, unter der Fülle der ausgebreiteten Fakten in eine bloß belletristisch verpackte journalistische Dokumentation abzugleiten oder, schlimmer noch, zu einem Exerzitium in Gutmenschentum. Ähnlich glanzvoll wie der Amerikaner Don DeLillo dies vor zwei Jahren in seinem Roman "Unterwelt" demonstrierte, gelingt es Ondaatje, Zeitgeschichte ganz aus der individuellen Biographie seiner Figuren heraus glaubhaft und spannend zu erzählen. Letztlich waren es auch in "Unterwelt" nur eine Handvoll kunstvoll variierter Bilder und Leitmotive, die DeLillos monumentalen Fries zusammenhielten, und ähnlich fragiler Natur ist auch die Romankonstruktion von "Anils Geist".
Doch während Ondaatjes frühere Romane nicht selten den Eindruck von Peter Greenaway-Filmen hinterließen, nämlich daß das Ganze weniger sein könnte als die Summe seiner Teile, so ergibt das furiose Kaleidoskop von "Anils Geist" diesmal eine an eleganter Stringenz kaum zu überbietende Handlung, deren kühne Perfektion sich erst bei einer zweiten und dritten Lektüre ganz erschließt. Ich frage Michael Ondaatje nach seinem Geschichtsverständnis. Gibt es für ihn einen Fortschritt in der Geschichte im Hegelschen Sinne, sieht er in all dem Chaos und der sinnlosen Gewalt doch noch das heimliche Wirken das Weltgeists?
"Es ist sehr schwer, in diesem permamenten Kriegszustand eine Hoffnung auszumachen oder gar Fortschritt zu entdecken. Natürlich muß es Fortschritte geben, doch eine Lösung ist nicht in Sicht. In Ländern wie Irland haben alle jemand zu betrauern, alle sind von Rachegedanken erfüllt, einfach weil sie wissen, wer sie selbst oder ihre Familienangehörigen verletzt hat. Da fällt es schwer, Kompromisse zu schließen. Und natürlich ist der einzige Ausweg der Kompromiß. Eine der großen fortschrittlichen Bewegungen unserer Zeit ist die Aussöhnungs-Bewegung in Südafrika und an einigen anderen Orten auf der Welt, die mit einer Zeit furchtbarer Verbrechen umgeht, indem sie ganz auf Versöhnung, nicht aber nicht auf Vergessen setzt."
Wer sich die Entwicklung im Romanwerk Michael Ondaatjes vor Augen führt, bemerkt einen starken Wandel im Figurenpersonal. Schrieb Ondaatje in den "Gesammelten Werken Billy the Kids" oder in "Buddy Bolden Blues" in den Leerstellen der Biographie von Ikonen des 19. respektive 20. Jahrhunderts, so tauchen in seinen neueren Büchern solche Figuren nicht mehr auf. Geht es dem Romancier Michael Ondaatje um das Aufbewahren der Lebensläufe von Menschen, die abseits des historischen Rampenlichts stehen?
"Das entspricht ganz meiner Überzeugung als Schriftsteller. Meine frühen Bücher handelten von Halbberühmtheiten wie Billy the Kid oder Jazzmusiker wie Buddy Bolden. In dem autobiographischen Buch "Running in the Family" war eine der Hauptfiguren dann mein Vater. Aber während der Arbeit an dem Roman "In der Haut eines Löwens" stellte ich fest, daß mich die Nebenfiguren mehr zu interessieren begannen als die Hauptfiguren. Eigentlich sollte Ambrose Small, der Millionär, der von der Bildfläche verschwindet, im Mittelpunkt des Buchs stehen. Aber ich mußte feststellen, daß es nicht so interessant war, mehr als zwanzig Seiten über Millionäre zu schreiben. Also konzipierte ich das Buch ganz neu und schrieb es nun aus Sicht der Nebenfiguren, der Menschen, die er verlassen hat und die nun nach ihm suchen. Und in "Der englische Patient" und nun in meinem neuen Roman habe ich ganz bewußt über Menschen geschrieben, die meiner Meinung nach am Rand stehen, Menschen, die nicht berühmt sind. Ich wollte ein Buch über den Krieg schreiben ohne Generäle, ohne bedeutende Industrielle, ohne Politiker - denn ich glaube, daß diese Menschen sonst nicht in der Literatur vorkommen. Als ich dann "Anils Geist" schrieb, wollte ich nicht, daß das Buch von den Mächtigen handelt, sondern von Menschen, die auf einer anderen, einer menschlicheren und alltäglicheren Ebene in einen Krieg verwickelt sind, den sie nicht angefangen haben. Und ich bin wirklich davon überzeugt, daß die meisten Menschen so leben."