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Ankaras Bruch mit dem Bruder im Süden

Syrien hatte in seinem Nachbarland jahrzehntelang einen scharfen Rivalen gesehen, denn Ankara hatte 1950 als erster islamischer Staat die Existenz Israels anerkannt. Aber seit 2009 gab es eine Annäherung. Inzwischen aber haben fast 10.000 Syrer im Nachbarland Zuflucht vor der Gewalt gesucht. Ankara scheint mit dem "Bruder" im Süden die Geduld zu verlieren.

Von Gunnar Köhne | 18.06.2011
    Noch vor ein paar Wochen nannte Tayyip Erdogan den syrischen Präsidenten Assad seinen "Freund". Doch seit dieser Woche herrscht in Ankara gegenüber dem Nachbarn ein anderer Ton: Die Bilder aus Syrien seien "widerwärtig" polterte Erdogan im türkischen Fernsehen, die staatliche Gewalt des Regimes nichts anderes als "Barbarei". Sein Land werde die Grenze vor den Flüchtlingen nicht schließen – auch wenn deren Zahl ständig steige und die Zeltlager des Roten Halbmondes völlig überfüllt seien. Der Istanbuler Politikwissenschaftler Sinan Ülgen erklärt den plötzlichen Positionswandel Erdogans in Sachen Syrien mit einer großen Enttäuschung:

    "Was in Syrien passiert, unterminiert den Erfolg der neuen türkischen Außenpolitik. Immer wieder hat gerade Außenminister Davutoglu die Aussöhnung mit Syrien als Beispiel für die neue Kooperation in der Region dargestellt. Und mit den geheimen Vermittlungsbemühungen zwischen Syrien und Israel wollte Ankara Syrien wieder in die internationale Gemeinschaft zurückführen. Das alles ist nun vorbei. Syrische Verbindungen zu anderen Akteuren im Nahen Osten, wie zum Beispiel zur Hisbollah im Libanon, kann die Türkei nun auch nicht mehr nutzen."

    Waren die Unruhen in Nordafrika noch relativ weit entfernt von Ankara, bereitet die brutale Gewalt in Syrien der türkischen Regierung große Sorgen. Die beiden Staaten teilen sich eine 800 Kilometer lange Grenze, die erst im vergangenen Jahr durch eine vereinbarte Visumsfreiheit durchlässiger gemacht worden war. Auf syrischer Seite gibt es eine unterdrückte kurdische Minderheit, die mehr Rechte fordert und, so die türkische Befürchtung, der militanten PKK unter die Arme greifen könnte, wenn die Staatsordnung in Syrien zusammenbrechen sollte. Schon jetzt sind etliche hohe PKK-Funktionäre syrischer Abstammung. Die Istanbuler Nahostexpertin Nuray Mert über die türkischen Bedenken:

    "Das Kurdenproblem ist für die Türkei schon jetzt destabilisierend genug. Gibt es Unruhen in den kurdischen Gebieten Syriens, dann könnten diese auf die Türkei übergreifen. Und nicht zu vergessen: Syrien ist der letzte Verbündete des Iran in der Region. Wenn wir uns auch im Falle Syriens gemeinsam mit dem Westen auf die Seite der Opposition stellen, dann fordern wir den Iran heraus."

    Doch offensichtlich hat man in Ankara entschieden, sich nicht länger zurückzuhalten. Inzwischen bestätigte das Außenministerium auch Kontakte zur syrischen Opposition im Ausland. Vor zwei Wochen durfte diese in der türkischen Küstenstadt Antalya gar eine Konferenz veranstalten. Den Einsatz des türkischen Militärs zum Schutz der Flüchtlinge, die sich noch auf der syrischen Seite der Grenze befinden, schloss ein Sprecher des Außenministeriums mittlerweile aus. Die Einrichtung einer Pufferzone auf syrischem Staatsgebiet sei nicht geplant. Dass die Flüchtlingssituation außer Kontrolle geraten könnte, treibt die türkische Regierung aber um. Mehr als zehntausend Menschen sind bereits über die Grenze geflohen. Und viele in der Türkei erinnern sich an das Jahr 1991, als fast eine halbe Million kurdische Iraker vor Saddam Hussein in die Türkei geflohen waren. Ex-Diplomat Sinan Ülgen sieht die Weltgemeinschaft gefordert:

    "1991 wurde die Türkei mit dem Flüchtlingsproblem allein gelassen. Sollten die Flüchtlinge nicht nach Syrien zurückkehren können, wird die Türkei die Solidarität der internationalen Gemeinschaft bei der Lösung dieses Problems einfordern."

    Die gerade wiedergewählte religiös-konservative AK-Partei sähe ihr Land gerne als Vorbild für die ganze Region: ein mehrheitlich muslimisches Land mit parlamentarischer Demokratie, fest im Westen verankert und wirtschaftlich enorm erfolgreich. Doch mit den rapiden Umbrüchen in der arabischen Welt schwindet der erhoffte Einfluss der Türkei. Die Regierung war sich monatelang unsicher, wie es reagieren sollte. Mit der heftigen Kritik Erdogans an dem Assad-Regime ist klar: Ankara setzt auf die Opposition - nicht nur in Syrien.