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Ankunft im DDR-Alltag

Die früh verstorbene DDR-Schriftstellerin Brigitte Reimann lebte und arbeitete in der sozialistischen Bergbau-Musterstadt Hoyerswerda, und sie wollte dort Arbeiterliteratur schreiben. Ihr posthum erschienener Roman "Franziska Linkerhand" von 1974 zeigt jedoch wie brüchig das Verhältnis der in der DDR gefeierten Autorin zu ihrem Staat war. In Halle brachte Regisseurin Katka Schroth den Roman nun auf eine Freilichtbühne.

Von Hartmut Krug | 20.06.2009
    Eine Gruppe junger Menschen schlendert gemeinsam aus der Tiefe einer engen Nebenstraße vor die Stufen des Universitätsplatzes und baut sich in einer Reihe vor dem Publikum auf, das, auf steil aufsteigenden Stufen sitzend, auf sie herunterschaut.

    Der Boden zwischen den historischen Gebäuden ist mit einem ordnenden Gitterraster versehen, für einzelne Spielsituationen stehen Palettenstapel mit Requisiten bereit, und eine Imbissbude muss als Kneipe und Tanzbar herhalten. Hier wird nicht die DDR nachgebaut, sondern eine grundsätzliche Auseinandersetzung von jungen Leuten mit den gesellschaftlichen Strukturen gezeigt, in der sie ihren Platz suchen und gegen die sie ihre Vorstellungen verwirklichen wollen. Wie sehr solch eine Sicht auf Reimanns Text in unsere Zeit passt, beweisen die Transparente mit Losungen wie "Streik back" und "Bei den Banken seid ihr fix, für die Bildung tut ihr nix" an den Gebäuden und ein kleines Zeltlager der demonstrierenden Studenten neben dem Spielort.

    Auch wenn das Thalia Theater wie viele ostdeutsche Bühnen im diesjährigen 20-jährigen Jubiläumsjahr der Wende sein Programm konzentriert hat auf eine Auseinandersetzung mit der DDR-Geschichte, verengt Regisseurin Katka Schroth Brigitte Reimanns Roman "Franziska Linkerhand" aus dem Jahr 1974 bewusst nicht auf eine Analyse der DDR. Der unvollendete Roman schildert, um es mit dem Titel eines Kurzromans der Autorin aus dem Jahr 1961 zu sagen, die "Ankunft im Alltag" einer jungen Architektin. Wie die Autorin kommt Franziska mit Hoffnungen und Illusionen ins hier Neustadt genannte Hoyerswerda, dem "Arsch der Welt", in dem eine sozialistische Stadt aufgebaut werden soll. Doch statt einer lebenswerten Stadt für die Menschen entsteht nur eine funktionale Plattenbaulandschaft, statt glücklicher Menschen gibt es einsame und manche Gewalt. Gezeigt wird ein Scheitern.

    Anders als im Roman sind es in der Aufführung nur Menschen einer Generation. Es sind allesamt junge Menschen, die allesamt, auch die im Roman als Spießer gezeichneten Pragmatiker, mit Hoffnungen und Wünschen neu antreten oder einst antraten. Alle wollen eine schöne, bessere Welt, in der man Spaß hat und gern arbeitet, und in der man feiern und tanzen kann. Wo in der Schweriner Uraufführung 1978 Angelika Waller als Franziska auf einer Schaukel hoch über die Gesellschaft und die anderen Menschen hinaus schaukelte, da bewegen sich in Halle alle auf dem gleichen Boden einer grundsätzlichen Glückssuche. Es wird nicht gestritten um die die richtige Theorie oder um sozialistische Politik, sondern um praktische Dinge und um den einfachen Weg zum Glück. Diese energische, verzweifelte oder resignierte Glückssuche kommt beim Hallenser Ensemble herrlich komödiantisch, ja, manchmal sogar fast karikaturesk daher. Wenn Christina Papst die todeseinsame, saufende Sekretärin Gertrud mit vollem Körpereinsatz als eine in ihrem Elend zappelnde Frau spielt, so steckt gerade unter ihrer virtuosen Komik eine abgrundtiefe Trauer, die auch wegen der Berichte von Gewalt, Vergewaltigung und Selbstmord immer anwesend ist.

    Ähnlich wie in der im Mai vom Görlitzer Theater in Hoyerswerda uraufgeführten "Franziska Linkerhand"-Oper von Moritz Eggert, in der die Hauptfigur auf drei Darstellerinnen aufgeteilt wurde, wird Franziska in Halle von zwei Darstellerinnen gespielt. Eine gibt das romantische, sich nach ihrer großen Liebe Ben verzehrende Wesen mit Pferdeschwanz und Sommerkleid, die andere spielt eine patente Franziska, die ihr Glücksverlangen in Beruf und Alltag sehr direkt äußert. Wie hier jeder für sich auf die Suche geht, das zeigt das ungemein variable und bewegliche Ensemble in angenehm lockerem Spiel.

    Nach der Pause des dreistündigen Abends wird es dann doch noch historisch. Erst erzählt die poetische Franziska in der Rolle der Autorin von ihrem Scheitern mit ihren Männern und im Beruf, dann schildert der angehimmelte Ben als Siegfried Pietschmann, zweiter Ehemann der Autorin, den prototypischen Lebenslauf eines Wissenschaftlers, der nach dem Ungarn-Aufstand und dem 17. Juni nach Bautzen gerät. Abschließend werden vor aufgestellten Grabkreuzen die individuellen Geschichten des Scheiterns aller Figuren erzählt. Das ist dann, wie alles endgültige Scheitern, zwar nicht mehr vordergründig lustig, doch theatralisch noch immer sehr lebendig. Denn auch hier gelingt es der Regisseurin und ihrem Ensemble, jedes falsche Pathos und jeden hohen Bedeutungston zu vermeiden. Wenn schließlich Franziska allein zurückbleibt, nachdem jeder einzeln fortgegangen ist, dann hat man etwas Historisches, aber zugleich auch Grundsätzliches und Aktuelles über das menschliche Verlangen erfahren, in der Gesellschaft glücklich zu werden.

    Das ist weit mehr, als der Zuschauer gemeinhin von einem Freilicht-Sommertheater geboten bekommt.