"Was man an Alexander von Humboldt exemplarisch beobachten kann, ist, dass Reiseliteratur ein besonders offenes, multidisziplinäres Genre ist. Die Frage ist ja: wie nehme ich eine fremde Kultur wahr, und wie kann sie angemessen beschreiben?"
Subjektives Erzählen und objektives Beschreiben - Reiseliteratur ist immer beides, sagt der Organisator der Alexander-von-Humboldt-Konferenz Oliver Lubrich, Professor für Literaturwissenschaft an der Freien Universität Berlin.
"Bei Humboldt handelte es sich oft um eine Art von fragmentierter Erzählung des eigenen Reiseverlaufs auf der einen Seite und dem Versuch - sozusagen montiert - objektiv Ergebnisse wissenschaftlicher Forschung, die auf dieser Reise gesammelt wurden, miteinander zu verbinden. Also zum Beispiel botanische Forschungsergebnisse, geografische, künstlerische, kunstgeschichtliche, zeichentheoretische über indianische Bilderhandschriften, historische und so weiter und so fort ergeben sich immer wieder und werden geschickt verbunden mit der Darstellung des eigenen Reiseerlebnisses, das aber nicht in den Vordergrund tritt."
Humboldt reiste und berichtete vorbildlich - gemessen an Vorstellungen des 19. Jahrhunderts - darüber, wie man zu reisen hatte, um Wissen zu gewinnen. Schon etwa um 1600 entstand das Genre der sogenannten Reise-Anleitung und gab Antworten darauf, worin die "Kunst des Reisens" bestände. Was soll man sich im fremden Land ansehen? Wovor soll man sich in Acht nehmen? Welche Wege soll man gehen, welche besser nicht? Die Anleitungen hatten durchaus den Zweck, das Reisen und die Erfahrungen, die damit verbunden waren, zu disziplinieren, sagt der Literaturwissenschaftler Sven Werkmeister, Leiter des DAAD Informationszentrums in Bogotá:
"Um 1800, würde ich sagen, da stirbt dieses Genre der klassischen Apodemik, der Reisekunst, langsam aus und es verschiebt sich beziehungsweise differenziert sich aus in verschiedene Subgenres. Ein Subgenre davon, eines der wichtigsten, ist dann die wissenschaftliche Reiseanleitung, die sich eben spezifisch an die Gruppe der Forschungsreisenden richtet und denen eben Anweisungen gibt oder Hinweise gibt, wie sie eben wirklich im engeren Sinne wissenschaftlich disziplinär ausdifferenzierte Datensammlung betreiben sollen."
Es ging um Sachlichkeit. Möglichst unvoreingenommen und vorurteilsfrei sollte ein umfangreiches Wissen über Neues entstehen. Wissenschaftliche Reise-Anleitungen schlugen dafür bestimmte Methoden vor, zum Beispiel Fragebögen, die abgearbeitet werden sollten. Ergänzt wurde die Datenerhebung zunehmend durch die neuen technischen Hilfsmittel der Zeit: die Fotografie, die akustische Aufzeichnung und später den Film.
"Und diese verdrängen eben immer mehr den individuellen Reisenden aus diesen wissenschaftlichen Berichten. Dessen Erfahrungen, dessen Probleme und Gefühle spielen keine Rolle mehr, sondern es geht eben um so etwas wie interventionslose Objektivität. Das heißt: die Intervention, die Rolle des Reisenden soll letztendlich sozusagen verhindert, vermieden werden und die reine technische Aufzeichnung wird quasi zum wissenschaftlich positivistischen Ideal eben. Und der Reisende, könnte man in dem Sinne sagen, soll zu so einer Art reinem Medium werden im Sinne von: er tritt als Medium eben nicht mehr in Erscheinung."
Der reisende Mensch, der bei Alexander von Humboldt gerade noch erkennbar blieb, verschwand dann als Individuum aus einem Teil der Reiseliteratur und trat nur noch als Aufzeichnungsmaschine im Dienst der Wissenschaft in Erscheinung.
"Es gibt zum Beispiel dann die Diskussion in der Musikethnologie um das europäische Ohr, also sprich: gerade der Mensch, der wahrnehmende Mensch, ist eigentlich gerade der Störfaktor, weil er die fremde Kultur eben nicht aufzeichnen kann ohne seinen eigenen kulturellen Kontext immer mitzudenken, zum Beispiel in der Musik mitzuhören. Und das technische Aufzeichnungsgerät wird dann gerade zu dem Instrument, das es möglich macht, eine fremde Kultur aufzuzeichnen ohne die eigene Kultur ins Spiel zu bringen. Das ist sozusagen die Idee dahinter. Natürlich ist das eine Konstruktion von Objektivität. Eine bestimmte Vorstellung von Objektivität."
Die Anleitungen wurden von Wissenschaftlern für Wissenschaftler gemacht. An der Universität Göttingen gab es seit Ende des 18. Jahrhunderts Vorlesungen zur Verwertbarkeit von statistisch erhobenem Datenmaterial im Kontext von wissenschaftlichen Reisen. Die auf diese Weise erstellten Datensammlungen waren letztlich nicht nur für Forschung interessant. Sven Werkmeister verweist darauf, dass es in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts handfeste politische und ökonomische Interessen daran gab, diese Form der Wissensproduktion über fremde Länder und Kulturen zu fördern und gezielt in Auftrag zu geben.
"Der Höhepunkt von dieser ganzen Entwicklung wäre jetzt, glaube ich, im Kontext des Kolonialismus zu sehen. Also in Deutschland zum Beispiel dann eben des 19. Jahrhunderts ab 1884, wo dann eben Reiseanleitungen ganz explizit mit dem Ziel geschrieben werden, dieses Wissen, verwertbares Wissen zu erheben, dass eben dann genutzt werden kann für koloniale Administration, für die Erschließung von Gebieten, für die Erforschung von Sprachen, für die Erforschung von ethnischen Differenzen, die dann wieder wirklich ganz praktisch für die Kolonialverwaltung und Regierung von Interesse sind."
Das Reisen als Form der Wissensproduktion im 19. Jahrhundert stand in engem Verhältnis zu politischer Herrschaft. Das zeigten viele Einzelbeispiele in der Sektion "Reisen und Wissenschaft" während der Alexander-von-Humboldt-Konferenz. Heute noch liegen in vielen Archiven ehemaliger Kolonialmächte Reiseberichte, die als Quellen nun für moderne Forschungsfragen nützlich sind. Der Gebirgswissenschaftler und Leiter des Bolivian Mountain Institute Dirk Hoffmann, der sich für die historische Landschaftsveränderung in einer Bergregion in Bolivien interessiert und damit im weitesten Sinne der Klimaforschung zuarbeitet, zieht neben Bilddaten mitunter auch solche Reiseberichte für die Rekonstruktion heran:
""Ein interessantes Beispiel ist der Bericht von d'Obigny, einem französischen Naturforscher, der in Bolivien jahrelang unterwegs gewesen ist und dann auch eine große Auswertung der Reisen anschließend publiziert hat. Und er beschreibt sehr detailliert die wirtschaftlichen Aktivitäten der Bevölkerung. Was wird angebaut, was wird geliefert, wie viele Menschen arbeiten dort, wo kommen die Menschen her, soziale Verhältnisse. Und das sind statistische Daten, die benutzbar sind."
Ohne interdisziplinäre Zusammenarbeit allerdings - und dafür gibt es Humboldt-Kongresse - versiegt der Reisebericht als Quelle im Detail manchmal schnell:
"Wir haben ein Problem mit der ganzen Geschichte. Der Herr d'Orbigny ist in der Gegend selber nie gewesen. Das wird aber nicht deutlich gesagt. Das heißt, er beruft sich bei diesen Informationen auf andere Quellen. Und das sind natürlich Sachen, das braucht auch methodisch eine andere Aufbereitung dieser Daten. Das sind dann aber auch Grenzen, wo jemand, der sich mit Landschaftsökologie beschäftigt, methodisch fachlich Unterstützung von anderen Disziplinen braucht."
Subjektives Erzählen und objektives Beschreiben - Reiseliteratur ist immer beides, sagt der Organisator der Alexander-von-Humboldt-Konferenz Oliver Lubrich, Professor für Literaturwissenschaft an der Freien Universität Berlin.
"Bei Humboldt handelte es sich oft um eine Art von fragmentierter Erzählung des eigenen Reiseverlaufs auf der einen Seite und dem Versuch - sozusagen montiert - objektiv Ergebnisse wissenschaftlicher Forschung, die auf dieser Reise gesammelt wurden, miteinander zu verbinden. Also zum Beispiel botanische Forschungsergebnisse, geografische, künstlerische, kunstgeschichtliche, zeichentheoretische über indianische Bilderhandschriften, historische und so weiter und so fort ergeben sich immer wieder und werden geschickt verbunden mit der Darstellung des eigenen Reiseerlebnisses, das aber nicht in den Vordergrund tritt."
Humboldt reiste und berichtete vorbildlich - gemessen an Vorstellungen des 19. Jahrhunderts - darüber, wie man zu reisen hatte, um Wissen zu gewinnen. Schon etwa um 1600 entstand das Genre der sogenannten Reise-Anleitung und gab Antworten darauf, worin die "Kunst des Reisens" bestände. Was soll man sich im fremden Land ansehen? Wovor soll man sich in Acht nehmen? Welche Wege soll man gehen, welche besser nicht? Die Anleitungen hatten durchaus den Zweck, das Reisen und die Erfahrungen, die damit verbunden waren, zu disziplinieren, sagt der Literaturwissenschaftler Sven Werkmeister, Leiter des DAAD Informationszentrums in Bogotá:
"Um 1800, würde ich sagen, da stirbt dieses Genre der klassischen Apodemik, der Reisekunst, langsam aus und es verschiebt sich beziehungsweise differenziert sich aus in verschiedene Subgenres. Ein Subgenre davon, eines der wichtigsten, ist dann die wissenschaftliche Reiseanleitung, die sich eben spezifisch an die Gruppe der Forschungsreisenden richtet und denen eben Anweisungen gibt oder Hinweise gibt, wie sie eben wirklich im engeren Sinne wissenschaftlich disziplinär ausdifferenzierte Datensammlung betreiben sollen."
Es ging um Sachlichkeit. Möglichst unvoreingenommen und vorurteilsfrei sollte ein umfangreiches Wissen über Neues entstehen. Wissenschaftliche Reise-Anleitungen schlugen dafür bestimmte Methoden vor, zum Beispiel Fragebögen, die abgearbeitet werden sollten. Ergänzt wurde die Datenerhebung zunehmend durch die neuen technischen Hilfsmittel der Zeit: die Fotografie, die akustische Aufzeichnung und später den Film.
"Und diese verdrängen eben immer mehr den individuellen Reisenden aus diesen wissenschaftlichen Berichten. Dessen Erfahrungen, dessen Probleme und Gefühle spielen keine Rolle mehr, sondern es geht eben um so etwas wie interventionslose Objektivität. Das heißt: die Intervention, die Rolle des Reisenden soll letztendlich sozusagen verhindert, vermieden werden und die reine technische Aufzeichnung wird quasi zum wissenschaftlich positivistischen Ideal eben. Und der Reisende, könnte man in dem Sinne sagen, soll zu so einer Art reinem Medium werden im Sinne von: er tritt als Medium eben nicht mehr in Erscheinung."
Der reisende Mensch, der bei Alexander von Humboldt gerade noch erkennbar blieb, verschwand dann als Individuum aus einem Teil der Reiseliteratur und trat nur noch als Aufzeichnungsmaschine im Dienst der Wissenschaft in Erscheinung.
"Es gibt zum Beispiel dann die Diskussion in der Musikethnologie um das europäische Ohr, also sprich: gerade der Mensch, der wahrnehmende Mensch, ist eigentlich gerade der Störfaktor, weil er die fremde Kultur eben nicht aufzeichnen kann ohne seinen eigenen kulturellen Kontext immer mitzudenken, zum Beispiel in der Musik mitzuhören. Und das technische Aufzeichnungsgerät wird dann gerade zu dem Instrument, das es möglich macht, eine fremde Kultur aufzuzeichnen ohne die eigene Kultur ins Spiel zu bringen. Das ist sozusagen die Idee dahinter. Natürlich ist das eine Konstruktion von Objektivität. Eine bestimmte Vorstellung von Objektivität."
Die Anleitungen wurden von Wissenschaftlern für Wissenschaftler gemacht. An der Universität Göttingen gab es seit Ende des 18. Jahrhunderts Vorlesungen zur Verwertbarkeit von statistisch erhobenem Datenmaterial im Kontext von wissenschaftlichen Reisen. Die auf diese Weise erstellten Datensammlungen waren letztlich nicht nur für Forschung interessant. Sven Werkmeister verweist darauf, dass es in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts handfeste politische und ökonomische Interessen daran gab, diese Form der Wissensproduktion über fremde Länder und Kulturen zu fördern und gezielt in Auftrag zu geben.
"Der Höhepunkt von dieser ganzen Entwicklung wäre jetzt, glaube ich, im Kontext des Kolonialismus zu sehen. Also in Deutschland zum Beispiel dann eben des 19. Jahrhunderts ab 1884, wo dann eben Reiseanleitungen ganz explizit mit dem Ziel geschrieben werden, dieses Wissen, verwertbares Wissen zu erheben, dass eben dann genutzt werden kann für koloniale Administration, für die Erschließung von Gebieten, für die Erforschung von Sprachen, für die Erforschung von ethnischen Differenzen, die dann wieder wirklich ganz praktisch für die Kolonialverwaltung und Regierung von Interesse sind."
Das Reisen als Form der Wissensproduktion im 19. Jahrhundert stand in engem Verhältnis zu politischer Herrschaft. Das zeigten viele Einzelbeispiele in der Sektion "Reisen und Wissenschaft" während der Alexander-von-Humboldt-Konferenz. Heute noch liegen in vielen Archiven ehemaliger Kolonialmächte Reiseberichte, die als Quellen nun für moderne Forschungsfragen nützlich sind. Der Gebirgswissenschaftler und Leiter des Bolivian Mountain Institute Dirk Hoffmann, der sich für die historische Landschaftsveränderung in einer Bergregion in Bolivien interessiert und damit im weitesten Sinne der Klimaforschung zuarbeitet, zieht neben Bilddaten mitunter auch solche Reiseberichte für die Rekonstruktion heran:
""Ein interessantes Beispiel ist der Bericht von d'Obigny, einem französischen Naturforscher, der in Bolivien jahrelang unterwegs gewesen ist und dann auch eine große Auswertung der Reisen anschließend publiziert hat. Und er beschreibt sehr detailliert die wirtschaftlichen Aktivitäten der Bevölkerung. Was wird angebaut, was wird geliefert, wie viele Menschen arbeiten dort, wo kommen die Menschen her, soziale Verhältnisse. Und das sind statistische Daten, die benutzbar sind."
Ohne interdisziplinäre Zusammenarbeit allerdings - und dafür gibt es Humboldt-Kongresse - versiegt der Reisebericht als Quelle im Detail manchmal schnell:
"Wir haben ein Problem mit der ganzen Geschichte. Der Herr d'Orbigny ist in der Gegend selber nie gewesen. Das wird aber nicht deutlich gesagt. Das heißt, er beruft sich bei diesen Informationen auf andere Quellen. Und das sind natürlich Sachen, das braucht auch methodisch eine andere Aufbereitung dieser Daten. Das sind dann aber auch Grenzen, wo jemand, der sich mit Landschaftsökologie beschäftigt, methodisch fachlich Unterstützung von anderen Disziplinen braucht."