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Annäherung an einen umstrittenen Wissenschaftler

Es fällt schwer, Magnus Hirschfeld gerecht zu werden. Der 1868 geborene Arzt und wohl bedeutendste Sexualreformer seiner Zeit ist bis heute umstritten in seinem Bemühen, Sexualität vor allem aus der Biologie heraus zu erklären. Mit Distanz und kritisch betrachtet kann man sich über sein neu aufgelegtes Werk "Weltreise eines Sexualforschers" Magnus Hirschfeld nähern.

Von Detlef Grumbach | 24.04.2006
    Magnus Hirschfeld war und ist umstritten. Er wurde als Jude diffamiert und als Sozialdemokrat angegriffen. Die Nationalsozialisten zerstörten sein Institut für Sexualwissenschaft und verbrannten seine Bücher.

    Der 1868 geborene Arzt und wohl bedeutendste Sexualreformer seiner Zeit starb 1935 im französischen Exil. Bis heute umstritten ist er wegen seines naturwissenschaftlichen, vielleicht sogar biologistisch zu nennenden Ansatzes in der Sexualforschung, menschliche Sexualität, also ein in hohem Maße sozial, kulturell geprägtes und historisch sich veränderndes Verhalten, vor allem aus der Biologie heraus zu erklären. Dieses Denken führte neben seinem Engagement für sexuelle Emanzipation auch dazu, dass er homosexuellen Männern die Hoden von Heterosexuellen transplantierte, um sie zu "umzupolen". Und nach den Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus klingt es zumindest befremdlich, wenn Hirschfeld 1933 behauptet: "Die Eugenik bezweckt durch die Hervorbringung besserer und glücklicherer Menschen die Entstehung einer besseren und glücklicheren Menschheit", und "sexuelle Selektion" bedeute "die zielstrebige Bevorzugung von Erbfaktoren, die für die körperliche Gesundheit und geistige Tüchtigkeit der Nachkommenschaft förderlich sind". Die Zitate stammen aus dem Vorwort, das Hirschfeld 1933 seinem jetzt wieder aufgelegten Bericht über die "Weltreise eines Sexualforschers im Jahre 1931/32" voranstellt.

    "In dieser Zeit war die deutsche Sexualwissenschaft international, ja sogar weltweit tonangebend", "

    so ordnet Volkmar Sigusch vom Frankfurter Institut für Sexualwissenschaften das wissenschaftsgeschichtliche Umfeld dieser Reise ein, die Hirschfeld einmal um die nach dem Ersten Weltkrieg neu geordnete, noch immer vom Kolonialismus geprägte Welt führte.

    ""Ich glaube, dass Hirschfeld sehr neugierig war, einige Vorurteile hatte in sexuellen Dingen, das heißt, sich auch belehren lassen konnte in anderen Kulturen und dass er in seiner Zeit zu den wenigen Sexualwissenschaftlern gehörte, die den doppelten Blick hatten, also in der eigenen Kultur mehr sehen als andere und das, was in der fremden Kultur auf einen zukommt, ohne Vorentscheidungen wahrzunehmen. Ich bewundere ihn für seinen Mut und sein Stehvermögen in der ganzen Zeit von Ende des 19. Jahrhunderts: Sammlung der Kräfte, die Elite des Landes hinter sich zu scharen, was ihm ja gelungen ist, niedergeschlagen werden von Rechtsradikalen schon in den 20er Jahren, aufstehen, weitermachen. Was natürlich nicht dazu führen darf, Dinge, die er als wissenschaftlich gemeint publiziert hat, dass man die alle als gegeben hinnimmt und nicht kritisiert."

    Vielleicht hat Hirschfeld geahnt, was in Deutschland auf ihn zukommen würde, als er 1931 zu einer Vortragsreise in die USA aufbrach und sich – angekommen an der Westküste – dazu entschloss, erst einmal nicht zurückzukehren, sondern über den Pazifik weiter zu reisen. Selbstbestimmung und Toleranz, die Gleichberechtigung unterschiedlicher Lebensentwürfe und Kulturen, Bräuche und Gewohnheiten bilden das Credo, unter das er seinen ethnologischen Blick auf das Leben der Völker in Honolulu, Japan und China, in Indonesien, Indien und im Nahen Osten stellt. Hirschfeld informiert sich über das Verhältnis der Geschlechter, über Ehesitten wie Kinderehe, Monogamie, Vielehe oder Kaufehe, über Fruchtbarkeitsriten und so genannte Sexualkuriositäten, über die gesellschaftlichen Urteile abweichenden Verhaltens und das Sexualstrafrecht.

    Doch während Hirschfeld heute vor allem als Vorkämpfer der Homosexuellenemanzipation bekannt ist, zeigt ihn diese "Weltreise" auch als Eugeniker. Hirschfeld war Teil einer in diesen Jahren international bestimmenden Richtung, die – verleitet durch die Erkenntnisse der Vererbungslehre – die sich zuspitzenden sozialen Probleme der Menschheit auf biologische Weise lösen wollte, die dem "Traum vom schönen neuen Menschen" nicht durch die soziale Revolution, sondern durch eugenische Maßnahmen näher kommen wollte. In diesem Denken gefangen stellt er fest, dass die Kolonialmächte "keine biologischen Ansprüche" auf das Land haben, nennt es "biologisch ein Unding", dass Indien seine Belange nicht selbst regeln kann.

    Sein besonderes Interesse gilt unter anderem den zahlreichen Mischehen zwischen Männern der Kolonialverwaltung und einheimischen Frauen. So bewundert er immer wieder, wie wohlgestaltet und geistig hochstehend Jungen wie Mädchen sind, die aus solchen Verbindungen hervorgehen. Auch wenn sie von Empathie und Wertschätzung zeugen: Solche und andere Urteile klingen von oben herab, machen fast jedes Gegenüber zum Objekt und jede Begegnung zur Fallstudie. Sie wurzeln im selben Denken wie die Rassenpolitik der Nationalsozialisten, auch wenn sie zu entgegengesetzten Urteilen kommen.

    "In diesem Jahrhundert, über das wir jetzt reden, konnte niemand alles richtig machen. Es ist ja ein unmenschliches Erwarten, dass jemand sich nicht irrt, dass er nichts Dummes, nichts Falsches sagt, dass er nichts Falsches macht. Das gehört zu dem menschlichen Unvermögen und Irren als etwas Humanem."
    Es ist schwer, Hirschfeld heute gerecht zu werden. Das in Sexualwissenschaft und -geschichte ahnungslose Vorwort, das Hans Christoph Buch zur Neuausgabe der "Weltreise" geschrieben hat, versucht dies gar nicht erst und schießt mit Kanonen auf Spatzen unter anderem gegen Sigusch, der schon 1985 den Finger in die Wunde gelegt hat. Sigusch dagegen ordnet Hirschfelds Ansätze in ihren Kontext ein.

    "Da könnte man viele Namen nennen, von Ehrenfels bis sonst wo hin. Die allermeisten haben so gedacht. Als Abwehr der sozialen extremen Probleme, die man hatte in der Kultur, ist diese Fantasie hochgekommen, dass man durch bestimmte Eingriffe biotischer Art der Lage Herr würde. Was mich immer irritiert hat und interessiert, ist, dass es wenige Gelehrte und Sexualforscher in dieser Zeit gab, die dieser Tendenz widersprochen haben. Von den Sexualforschern könnte ich ihnen nur Freud nennen, der das Thema nie behandelt hat, und ich könnte als jemanden, der dagegen gesprochen hat, einen Zeitgenossen, Albert Moll in Berlin, nennen, der um 1900 herum, noch vor Freud und vor Hirschfeld, die Kapazität in sexuellen Fragen in Mitteleuropa war."

    Es mag merkwürdig klingen, wenn der Rezensent jetzt bekennt, Hirschfelds Weltreise gerne gelesen zu haben. Hirschfeld bleibt in den Grenzen seines Denkens Menschenfreund, Aufklärer und Vorkämpfer für Emanzipation. Wenn der Sexualethnologe die Vielfalt der Möglichkeiten in sexuellen Verhältnissen beobachtet, tut er dies mit Blick Richtung Heimat, wo er gegen Scheuklappendenken und ein inhumanes Sexualstrafrecht kämpft. Wenn er über Empfängnisverhütung und Geburtenkontrolle spricht, tut er dies mit Blick auf die enormen sozialen Probleme in den bereisten Ländern. Sein Blick streift Landschaften und die in seinen Augen überholten kolonialen Zustände, seine zahlreichen Begegnungen mit Kollegen und Freunden, die er aus seiner Berliner Tätigkeit kennt, zeigen, dass die Welt auch schon um 1930 ein Dorf war.

    Zugegeben: Das Buch ist auch eitel, wenn Hirschfeld immer wieder zitiert, wie er als Pionier einer jungen Wissenschaft gefeiert wird. Hier hätte in der Neuausgabe – immerhin knapp 450 Seiten im Format der "Anderen Bibliothek" – einiges gestrafft werden können. Ein kleiner Apparat hätte helfen können, die Dinge einzuordnen. Denn das Problem, so ließe sich resümieren, war nicht Hirschfeld in seiner Zeit, sondern dass die Zeiten heute zurückzukommen scheinen.

    Das Institut für Sexualwissenschaften, das Volkmar Sigusch leitet und das sich einer kritischen Verbindung von Sozialwissenschaft, Psychologie und Medizin verpflichtet fühlt, ist in seiner Existenz bedroht. Aber jede Entdeckung wird heute gefeiert, die unterschiedliches soziales oder sexuelles Verhalten von Männern und Frauen aus der Biologie, aus der Gehirnstruktur, dem Hormonhaushalt oder – wie bei der Homosexualität – mit dem so genannten Homo-Gen erklärt. So wie Hirschfeld die Welt neugierig und mit dem staunenden Blick des Ethnologen bereist hat, so muss der Leser heute selbst also eine distanzierte, neugierig staunende und kritisch fragende Perspektive einnehmen, wenn er dieses Buch mit Freude lesen will.

    "Die absonderlichsten, skurrilsten, entlegensten, abweichenden Dinge können in einer anderen Kultur das Geforderte und Gebotene sein und werden dort ohne Schuldgefühl oder Gefühl der Scham praktiziert. Das kann man lernen. Und dann sieht man in seiner eigenen Kultur die Dinge sehr viel humaner, sehr viel menschlicher."