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Anne Frank Tag
Wie sich Schüler für Antisemitismus sensibilisieren lassen

Seit 2017 initiiert das Anne-Frank-Zentrum in Berlin den "Aktionstag gegen Antisemitismus und Rassismus an Schulen". Vor allem über Empathie und Identifikation mit Anne Frank soll bei Schülern die Bereitschaft geweckt werden, in ihrem Alltag gegen Judenhass einzutreten.

Von Sebastian Engelbrecht | 12.06.2020
Eingang zum Anne-Frank-Zentrum in Berlin-Mitte
Eingang zum Anne-Frank-Zentrum in Berlin-Mitte (Deutschlandradio/Sebastian Engelbrecht)
David besucht den Leistungskurs Geschichte am Moses-Mendelssohn-Gymnasium in Berlin, einer jüdischen Oberschule. Wie fast alle jüdischen Schülerinnen und Schüler macht er alltäglich Erfahrungen mit Antisemitismus:
"Bei mir persönlich wird das auch im Elternhaus so gelehrt, dass man halt auf der Straße am besten nicht so frei sein Judentum ausleben sollte, sich lieber etwas zurückhalten sollte, also nicht mit Kippah oder Davidsstern rumlaufen sollte. Und das finde ich auch etwas beängstigend."
"Ich selber habe auch schon viel Antisemitismus erlebt"
Das jüdische Gymnasium ist für ihn ein Schutzraum. An öffentlichen Schulen sind Juden häufig dem Hass ihrer Mitschüler ausgesetzt, wie zum Beispiel Emily berichtet:
"Ich selber habe auch schon viel Antisemitismus erlebt. Ich war zuerst an einer anderen Schule, ich bin erst seit der zehnten hier. Also es war auf jeden Fall ein Grund, warum ich wechseln wollte. Und das war halt auch schon seit der fünften Klasse. Ich habe auch schon sehr viel erlebt, also sehr viele Beleidigungen und sehr viel Aggressivität."
Direktor des Anne Frank Zentrum Patrick Siegele
Anne Frank ist "für Jugendliche auch ein Vorbild"
Der Transfer der NS-Geschichte in die Gegenwart müsse bei Kindern und Jugendlichen nicht unbedingt immer forciert werden, sagte Patrick Siegle, Direktor des Anne Frank Zentrums, im Dlf. Oft hätten sie ein Gespür dafür, was Anne mit ihnen heute zu tun habe.
Das Anne-Frank-Zentrum in Berlin widersteht mit dem "Aktionstag gegen Antisemitismus und Rassismus an Schulen" dem alltäglichen Judenhass. 340 Schulen in ganz Deutschland haben sich in diesem Jahr angemeldet. Sie zeigen eine Plakatausstellung, bekommen vom Anne-Frank-Zentrum Online-Materialien und die "Anne-Frank-Zeitung". Darin geht es um Anne Franks Leben in Frankfurt und Amsterdam, ihre Verfolgung durch die Nationalsozialisten bis hin zu ihrem Tod im Konzentrationslager Bergen-Belsen. Warum Anne Frank für den Kampf gegen Antisemitismus heute so wichtig ist, erklärt Direktor Patrick Siegele:
"Das erste, was Kindern und Jugendlichen mal auffällt, ist, dass Anne ein Mädchen ist genau wie sie selbst sind. Also da entdecken die Kinder und Jugendlichen zuerst einmal viele Gemeinsamkeiten: die Dinge, die Anne erzählt von ihrer Schulzeit, den Ärger, den sie mit ihrer Mutter vielleicht oder mit ihren Eltern hat."
Stimmen der Opfer
Ausgehend von der Geschichte Anne Franks, von Auszügen aus ihrem Tagebuch, bietet Siegele den Schülerinnen und Schülern auf einer Webseite Videos von jüdischen Jugendlichen heute an:
"Dann ist es wichtig, die Stimmen der Opfer zu zeigen und zum Hören zu bringen. Antisemitismus ist für viele Menschen etwas ganz Abstraktes. Deswegen arbeiten wir zum Beispiel zum Beispiel mit Selbstzeugnissen auch von jüdischen Jugendlichen heute, die beschreiben, wie sich Antisemitismus ganz klar in ihrem Alltag in er Schule, im Sport zeigt – damit Jugendliche überhaupt ein Gefühl dafür bekommen, dass das nichts Abstraktes ist, sondern etwas ganz Konkretes, unter dem Menschen täglich leiden."
Was zum Beispiel der jüdische Schüler Rafiz aus Berlin nach dem Anschlag auf die Synagoge in Halle vom 9. Oktober sagt, lässt keinen kalt: "Dieser Vorfall in Halle, das hat auch einen Bekannten von mir betroffen, der in der Synagoge war. Und das finde ich auch… Das ist verrückt, was da passiert ist. Wenn diese Tür nicht abgesperrt gewesen wäre, wäre mein Bekannter jetzt tot wahrscheinlich."
Dossier: Rassismus
Dossier: Rassismus (picture alliance / NurPhoto / Beata Zawrzel)
Über Empathie will Patrick Siegele vom Anne-Frank-Zentrum den Judenhass bekämpfen – und die Bereitschaft wecken, im Schulalltag etwas zu tun.
"Manchmal muss man ja gar nicht die großen Heldentaten verüben, sondern es ist einfach auch schon wichtig, auch für Schülerinnen und Schüler, wenn sie etwas beobachten, sei es antisemitisch, sei es rassistisch oder sonst diskriminierend in ihrem Schulalltag auch, dann können sie sich positionieren und einschreiten dagegen. Dann ist schon mal sehr viel erreicht."
Ein Faksimile von Anne Franks berühmten Tagebuch liegt in einer Vitrine
Ein Faksimile von Anne Franks berühmten Tagebuch (Deutschlandradio/Sebastian Engelbrecht )
Anne Franks Zeugnis kann aus Siegeles Sicht viel bewegen. Wer ihr Tagebuch liest, wer die Fotos aus ihrem Leben gesehen, den Lebenswillen eines jüdischen Mädchens aus der Zeit des Holocaust gespürt hat, dürfte gewappnet sein gegen Antisemitismus in der Schule und gegen antijüdische Hassreden im Netz mit allen ihren Folgen.